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Page 13

by Nate Southard


  »Verflixt. Tut mir echt leid. Warum habt ihr nichts gesagt?«

  Kevin zuckte die Achseln, ohne aufzublicken. »Ich hatte ohnehin kaum Hunger.«

  »Willst du jetzt was essen?«

  Jens Hand zuckte in die Höhe. »Her damit! Ich töte für einen Keks.«

  »Ich glaube, dazu muss es nicht kommen.« Er lehnte seinen improvisierten Speer an die Kabinenwand. In der Armbeuge hielt er ein paar Flaschen Wasser, Müsliriegel und einige Tüten Salzstangen. Er war auch auf Sandwiches gestoßen, traute ihnen aber nicht, weil die Kühlung ausgefallen war. »Ich wünschte, ich hätte mehr auftreiben können.«

  »Ich wünschte, du hättest Alk gefunden.«

  »Hab ich sogar, aber nur ein paar Portionsfläschchen.«

  Jens Hand schnappte gierig auf und zu. »Mir egal. Gib mir ’nen Shot und ich reib dir zur Belohnung die Familienjuwelen.«

  »Nicht nötig«, erwiderte er. Er fischte einige Fläschchen aus der Tasche und gab Jen eines davon, bevor er Kevin ebenfalls eines anbot. Danis Mann winkte ab, also versorgte er Jen mit Nachschub. »Wie geht’s euch beiden eigentlich?«

  Jen kippte einen Schluck Bourbon und schleuderte die leere Flasche durch die Kabine. »Es brennt nicht mehr wie Feuer, aber es tut immer noch weh. So eine Art dumpfes Pochen.«

  »Gut. Kannst du mit den Zehen wackeln und so?«

  »Na klar.« Sie bewegte einen Fuß, um es zu demonstrieren. Dann bog sie grinsend einen Zeh nach dem anderen nach oben.

  »Wie sieht es bei dir aus, Kev?«

  Er starrte weiter an die Kabinendecke. »Immer noch gelähmt.«

  Eine Hitzewelle schoss durch Potter und ließ ihn zusammenzucken. »Du solltest versuchen, was zu essen.«

  »Ich brauch nichts. Mach dir keine Sorgen um mich.«

  »Kannst du ihn dazu bringen, dass er Vernunft annimmt, Jen?«

  Sie runzelte die Stirn. »Ich versuch’s. Aber ich kann nichts versprechen.«

  Er nickte und drückte Jen Kevins Anteil in die Hand. »Verputz nur nicht alles allein.«

  »Warum, damit ich mir die Figur nicht versaue?«

  »Warum ist dieses Monster eigentlich nicht längst zurückgekommen?« Kevins Stimme klang hohl.

  Potter blickte sich hektisch um, als ob Kevins Frage ihn zum ersten Mal seit Langem wieder an ihren Gegner erinnerte. Der an der Wand lehnende Speer übermittelte allerdings eine andere Botschaft. Kevin hatte recht. Ihm war es ebenfalls ein Rätsel, warum sich der Leichenfledderer nicht längst wieder blicken ließ.

  »Hoffentlich kommt er gar nicht zurück. Ich habe meine Ohren und Augen offen gehalten, aber er scheint momentan von der Bildfläche abgetaucht zu sein.«

  »Vielleicht hat er Angst vor uns«, sagte Jen. »Oder er ist nachtaktiv?«

  Kevin entfuhr ein zorniges Lachen. »Oder er wartet mit seinem nächsten Besuch, bis er Hunger hat.«

  »Keiner von uns weiß das so genau«, meinte Potter. »Im Moment können wir nichts weiter tun, als auf alles vorbereitet zu sein. Ich würde mir jedenfalls wünschen, dass wir als nächste Botschaft von draußen das Rotieren von Helikopterblättern hören.«

  Kevin hob eine Hand und kreuzte die Finger. »Amen.«

  Potter dachte über eine passende Erwiderung nach, während Jen ein paar Salzstangen in den Mund schob, darauf herumkaute und schluckte. Sich einfach umzudrehen und zu verschwinden, kam ihm nicht wie die beste Lösung vor, aber er wusste nicht, was er noch sagen sollte. Normalerweise hatte er alles im Griff, doch nun sah er sich zum ersten Mal in seinem Leben mit dem Gefühl konfrontiert, nicht weiterzuwissen. Es war ihm nicht vertraut und er stellte fest, dass er es abgrundtief hasste.

  An seiner Stelle sagte Jen etwas. »Wo stecken eigentlich Greg und die Reporterin?«

  Ein unbehagliches Gefühl kroch über seine Haut. Als er Shannon das letzte Mal gesehen hatte, war sie damit beschäftigt gewesen, Speere herzustellen und Proviant einzusammeln. Er hatte zunächst dasselbe getan, jedoch längst damit aufgehört, und seitdem tat er keinen Schritt mehr ohne Waffe. Es fiel ihm zunehmend schwer, zeitliche Abläufe zu erfassen. Er vermutete, dass es sich um eine Folge der Gehirnerschütterung handelte, doch das trug nicht gerade dazu bei, dass er sich besser fühlte. Jede Stunde, die ohne Rettung verstrich, war eine Stunde zu viel.

  Schlimmer noch: Wenn er die Zeit aus den Augen verlor, bestand das Risiko, dass er auch Menschen aus den Augen verlor. Und genau das war passiert. Er hatte die Hälfte von ihnen verloren, weil ein Schlag auf den Kopf für ihn die Uhren schneller gehen ließ. Er konnte sich nicht erinnern, ohnmächtig geworden oder aufgewacht zu sein, also ging er davon aus, dass die Kreatur in seinem komatösen Zustand nicht wieder aufgetaucht war. Doch das war ein schwacher Trost.

  »Ich komme wieder«, kündigte er an. Seine Stimme klang weit entfernt. Er nahm den Speer mit und kletterte aus dem Flugzeug. Mit der Waffe in der Hand untersuchte er die Absturzstelle. Alles fühlte sich deutlich zu ruhig an, zu leise. Sein Atem hallte in seinen Ohren nach wie nervöses Grollen. Falls Greg oder Shannon in der Nähe waren, gab es zumindest keine Anzeichen dafür. Mit jedem Schritt, den er sich von dem demolierten Flugzeugrumpf entfernte, schwand das Gefühl von Sicherheit. Potter merkte, wie die Angst tiefer in ihn hereinkroch. Ein Eisklumpen, der größer und größer wurde. Sollte er nach den beiden rufen? Nein, er selbst hatte darauf bestanden, dass Ruhe eingehalten wurde, damit sich das Vieh nicht noch einmal blicken ließ. Doch spielte das wirklich eine Rolle?

  Wo hatte er sie zuletzt gesehen? Was Shannon betraf, wusste er es, aber Greg …

  Die Senke. Gott, das war kurz nach Sonnenaufgang gewesen. Seine Stirn legte sich in Falten, als er in die entsprechende Richtung lief. Verdammt noch mal, er sollte alles im Griff haben. Stattdessen hatte er den Bassisten seit Stunden aus den Augen verloren. Das war alles andere als professionell. Schlimmer noch, er setzte damit das Leben der gesamten Gruppe aufs Spiel. Einer von ihnen war bereits gestorben und jetzt hatte sich dessen bester Freund Gott weiß wohin verzogen.

  Er hatte das Absturzgebiet halb durchquert und war an den kleineren Wrackteilen vorbeigestolpert, als Shannon aus dem Wald gejoggt kam. Die Reporterin hatte ihre Waffe dabei und schien unverletzt zu sein, doch der Ausdruck schierer Panik auf ihrem Gesicht verriet, dass sie keine guten Nachrichten mitbrachte.

  »Ich kann Greg nicht finden«, erklärte sie, und die Eisschicht, die sich über Potters Brust gelegt hatte, bekam Risse.

  Er schlug die Augen auf und nahm erstaunt seine Umgebung unter die Lupe, während ein Geräusch aus seinem geöffneten Mund drang, das an eine Windböe erinnerte, die durch einen Canyon wehte. Er hatte sich zunächst in die Hoffnung geflüchtet, dass das hier nicht wirklich geschah, dass er aufgrund von Erschöpfung oder Blutverlust halluzinierte. Aber davon war nicht viel übrig geblieben.

  Dass er es nie aus dem Flugzeug herausgeschafft hatte, immer noch dort lag und gerade seinen letzten Atemzug ausstieß, glaubte er nicht mehr. Er konnte die Hand spüren, die seine hielt, und er konnte sie auch sehen. Spindeldürre Finger in der Farbe verglühter Kohlen klammerten sich an ihm fest. Die Hand, zu der sie gehörten, schien nur aus abgeschürfter Haut, hervortretenden Knöcheln und stockartigen Knochen zu bestehen. Sie war mit einem Handgelenk verbunden, das so dünn war, dass es aus mit Pergament umwickelten Besenstielen zu bestehen schien. Das Handgelenk verschwand im Waldboden und Greg stellte fest, dass die Erde um die Hand herum unaufhörlich absackte.

  Fantastisch. Anders konnte man es nicht bezeichnen. Die Hand in seiner Hand war fantastisch, schlicht und ergreifend.

  Der Boden um ihn herum bebte. Erdreich und Kiefernnadeln kräuselten sich wie Wasser, wenn ein Hai direkt unter der Oberfläche kreist. In der Zwischenzeit arbeiteten sich weitere Finger aus dem Boden heraus, die ebenfalls mit Händen verbunden waren. Das raue Stöhnen, bislang sein einziger Laut, verebbte. Stattdessen lächelte er. Fantastisch war das alles. Ein versteckter Bereich der Welt, den nie jemand zu sehen bekam, hatte sich vor ihm aufgetan, präsentierte sich wie ein Pfau oder eine Rose in prac
htvoller Blüte. Weiche, trockene Finger schlossen sich um seine Handgelenke, Arme und Knöchel. Vier Fingerspitzen streichelten seine Wange. Eine erkundete die Linie seiner Unterlippe wie eine Liebhaberin und ein euphorischer Schauder lief durch seinen Körper.

  Und dann waren die Hände plötzlich weg. Er blinzelte, und die Welt verschwand und tauchte hinter dem grauen Schirm seiner Augenlider wieder auf. Erschrocken rappelte er sich hoch und musterte den Boden in der Umgebung. Er war unberührt, eine durchgehende Ebene aus Erde und Nadeln, von dem einen oder anderen Zweig oder Felsbrocken abgesehen.

  Er sank zurück auf die Knie, verbarg sein Gesicht in den Händen und atmete tief ein. Er roch Erde, darunter ein Hauch von etwas Öligem. Er fragte sich, ob es die schwarze Flüssigkeit war, die er sich gerade aus den Augen gewischt hatte. Was ging hier vor? Er wollte weinen, schreien, doch alles fühlte sich entrückt und seltsam an, als ob das bekannte Universum den Platz mit etwas Fremdartigem getauscht hätte.

  Greg war derart in Gedanken versunken, dass er die Schritte nicht bemerkte. Er nahm gar kein Geräusch wahr, bis der knurrende Atem alles andere dominierte. Angst ergriff ihn und er kniff fest die Augen zusammen, wusste, was hinter ihm stand, und fürchtete sich doch zu sehr, um nachzuschauen. Das war es dann also. Das Monster war zurückgekehrt, um ihn abzuschlachten. Es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Das Beste war, er kniete sich hin und hoffte, dass es schnell ging.

  Aber der tödliche Schlag blieb aus. Stattdessen weiter dieser Atem, der rauschte wie der Luftzug aus einem riesigen Blasebalg. Zitternd zog Greg die Hände vom Gesicht weg und öffnete die Augen. Zuerst sah er die Füße des Wesens, die an einen Menschen erinnerten, nur ungleich größer und mit schwarzen Krallen. Zentimeter für Zentimeter hob er den Kopf und ließ den Anblick der Kreatur auf sich wirken. Er sah jede Narbe und jeden Fellflicken, jedes entblößte Stück grauen Fleisches. Die hervorstehenden Zähne und Augen, tief im Schädel versunken, hypnotisierten ihn. Spuren einer schwarzen Flüssigkeit liefen wie Tränen über das Gesicht seines Gegenübers.

  Das Biest starrte ihn schweigend an, blieb aufrecht vor ihm stehen. Gregs Angst verflüchtigte sich und ließ nichts als Erstaunen und den Eindruck von Endgültigkeit zurück. Dies war das Ende, sein Schicksal. Die Zukunft musterte ihn mit Augen, die schwarze Tränen weinten.

  Ohne einen weiteren Laut drehte sich das Monster um und verschwand im Unterholz. Greg stand auf und folgte ihm.

  Als sie die oberen Zweige des Baums erreichte, begannen Danis Rippen und Schultern, sich gegen die Tortur des Kletterns zu wehren. Jeder einzelne Körperteil signalisierte ihr, dass der Abstieg sowohl beschwerlich als auch nervenaufreibend sein würde, doch sie ignorierte die Warnung. Darüber musste sie sich noch nicht den Kopf zerbrechen. Zunächst galt es, nach Hinweisen für eine nahegelegene Zivilisation zu suchen. Sie umarmte den Kiefernstamm, erklomm einen weiteren Ast und stieß mit dem Kopf durch das Nadeldach.

  Für einen Moment nahm ihr die schiere Höhe den Atem und ersetzte ihn durch ein nervöses, ruckartiges Keuchen, während ihr Körper zu versteinern schien. Ihre Umarmung des Baumstamms verwandelte sich in eine tödliche Umklammerung. Mit jeder verstreichenden Sekunde erhitzte sich die Luft in ihren Lungen stärker. Sie kniff die Augen zu und spürte, wie der Baum hin und her schwankte. Als sie langsam die Fassung zurückgewann, wurde ihr klar, dass weder der Baum im Wind schwankte noch sie herunterfallen würde. Sie schlug die Augen wieder auf und suchte den Horizont ab.

  Die Aussicht erschlug sie fast. In allen Richtungen wogte ein lückenloser Teppich aus Föhren auf den Hügeln. Ein blauer Himmel erstreckte sich fast bis zum Horizont, der vor einer Wolkenbank kauerte. Die Landschaft zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht. Vielleicht konnte sie eines Tages mit Kevin hier zelten gehen. Sie wollte unbedingt daran glauben.

  Doch zuerst mussten sie aus diesem schier endlosen Wald entkommen, der sich weit über das ohnehin schon gewaltige Blickfeld hinaus auszudehnen schien. Sie konnte keine einzige Unterbrechung in den dicken, grünen Wipfeln ausmachen – nichts, das auf eine Straße oder auch nur eine winzige Hütte hindeutete. Sie nahm an, sie müsse dankbar dafür sein, dass es in diesem Land noch so viel unberührte Natur gab, doch im Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als wenige Meter neben einem Großflughafen abgestürzt zu sein.

  Wie sie sich so an den Baum klammerte und ihre Umgebung musterte, schoben sich Tränen vor ihre Pupillen. Sie schniefte, während etwas in ihrer Brust aufwallte und mit einer Urgewalt nach außen drängte, als wollte es jeden Zentimeter ihres Körpers erfassen. Dann drang das erste Schluchzen aus ihrer Kehle. Es bahnte sich mit heftigem Druck den Weg ins Freie, wie bei einem Schluckauf. Ein zweites folgte dicht auf den Fersen.

  Sie drückte ihre Wange an den Kiefernstamm wie ein Kind, das den Kopf an der Brust des Vaters vergrub. Die Tränen überschwemmten ihre Augen und sickerten über die Wangen. Sie schmeckten salzig auf den Lippen und ihr ganzer Körper wurde von Trauer, Furcht und Erschöpfung durchgeschüttelt. So blieb sie lange Zeit sitzen, schluchzte gegen die Rinde des Baums und war nicht einmal in der Lage, über die aufwühlenden Gefühle nachzudenken. Verletzt, verirrt und gejagt blieb ihnen nur der Gedanke ans nackte Überleben.

  »Dani?«

  Conners Stimme drang als ängstliches Flüstern an ihre Ohren. Ohne nachzudenken, spähte sie nach unten. Zuerst nahm sie lediglich einen Schleier aus Grün und Braun wahr. Sie hielt sich gut fest und wischte sich mit dem Ärmel vorsichtig die Tränen ab.

  »Ich bin hier!« Ihre Stimme brach, aber sie klang zumindest wie ihre eigene und nicht wie die eines flennenden Idioten. Unter den gegebenen Umständen wertete sie das als Teilerfolg.

  »Alles okay bei dir?«

  »Ja. Ich komme gleich runter.«

  »Hast du was entdeckt, das uns weiterhilft?«

  Sie seufzte und schüttelte den Kopf, bevor sie einen letzten Blick auf die malerische Landschaft warf. »Noch nicht … warte mal.«

  »Was ist denn?«

  Sie blinzelte das Objekt an, an dem ihr Blick hängengeblieben war. Es glitzerte durch das monotone Einerlei der Bäume und das Licht drang stechend an ihre Augen. »Ich bin mir nicht sicher, was es ist. Aber das sollten wir uns auf jeden Fall näher ansehen.«

  »Von mir aus.«

  Das war in etwa das Maß an Enthusiasmus, mit dem sie gerechnet hatte. Aber zumindest musste sie nicht befürchten, unten anzukommen und festzustellen, dass er auf der Suche nach einer Pflanze, die ihn high machte, weggerannt war.

  Sie hielt sich am Stamm der Kiefer fest, starrte auf den Punkt, der ihre Aufmerksamkeit geweckt hatte, und versuchte, Einzelheiten zu erkennen. Ein weiteres Glitzern, das war schon alles. Aufgrund des dichten Baumbewuchses konnte sie keine weiteren Details ausmachen. Die Lichtquelle lag hinter mehreren Hügelkuppen. Ein ziemlich weiter Fußmarsch lag vor ihnen. Andererseits hatte sie nichts anderes entdeckt, das eine nähere Untersuchung verdiente. Bei einem abschließenden Rundumblick fiel ihr nicht das kleinste Anzeichen von Zivilisation auf. Doch das Aufblitzen konnte durchaus Sonnenlicht sein, das sich in der Fensterscheibe einer Hütte spiegelte. Vielleicht.

  Sie zuckte unter dem Schmerz zusammen, der nach wie vor ihre Muskeln und Sehnen beherrschte, und kletterte langsam den Baum hinunter. Sie hoffte, dass sie fanden, was sie da entdeckt hatte. Und sie betete, dass es etwas Erfreuliches war.

  Neun

  Shannon beobachtete Potter, wie er um die Senke herumstapfte, den Kopf schüttelte und wütend vor sich hin murmelte. Sie wollte ihn auffordern, ruhig zu bleiben, aber das wäre ihr scheinheilig vorgekommen. Eine aufkeimende Mischung aus Sorge und Panik brachte sie dazu, unruhig auf der Stelle zu wippen. Sie verspürte den Drang, einfach loszurennen und den Wald nach Greg zu durchsuchen. Nur ihr Pflichtgefühl, Potter auf dem Laufenden zu halten, würde verhindern, dass sie einfach losrannte, sobald sich Gregs Abwesenheit bestätigt hatte.

  Potter umkreiste das Loch im Boden mittlerweile nicht länger, sondern wanderte unruhig hin und her. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, die er aufgebracht schüttelte, und sein Gesi
chtsausdruck durchlief eine Wandlung von verängstigt zu erschöpft, pendelte sich schließlich bei wütend ein.

  »Ich kann diesen Mist echt nicht brauchen!« Sein Fluch schallte durch den Wald.

  Shannon starrte ihn an und überlegte, was sie sagen konnte, aber ihr fiel nichts ein. Es war schon länger her, dass sie den letzten Tobsuchtsanfall eines Tourmanagers erlebt hatte. Bei solchen Gelegenheiten erfüllte es sie immer mit Ehrfurcht, wie viel Wut aus einer einzigen Person hervorsprudeln konnte. Sie wusste, dass die Anfälle vorhersehbar waren. Kaum jemand musste sich mit einer höheren Konzentration gequirlter Scheiße auseinandersetzen als ein Tourmanager.

  »Verdammte Rockstars! Ich hab echt die Schnauze voll von ihnen! Sperren nie ihre gottverdammten Lauscher auf, sondern tun, was sie wollen. Ich spiele Bass in einer Band, also muss ich mir von niemandem was sagen lassen. Wenn ich diesen Totalversager finde, drehe ich ihm seinen beschissenen Hals um!« Er stakste um die Senke herum und seine wütenden Augen blitzten in alle Richtungen. Wahrscheinlich hielt er nach etwas Ausschau, das er treten, zerstampfen oder sogar aufheben und wegschleudern konnte.

  Die Szene machte Shannon zunehmend nervös. Potters Zorn war gerechtfertigt, keine Frage, aber die Art, wie er das Loch umkreiste, weckte unangenehme Assoziationen von Bestien, die auf ihr Abendessen warteten. Die Überreste am Grund der Grube und die Symbole, die in die Rinde der Föhren eingekerbt waren, verstärkten ihr Unwohlsein noch. Bald ergriff eine unangenehme Kälte Besitz von ihrem Körper. Potter bewegte sich wie in Zeitlupe, während er über seine abwesenden Schutzbefohlenen schimpfte.

  Abrupt hörte er auf, wie ein Roboter im Kreis zu laufen, und blieb stehen. Ein fast amüsiertes Grinsen trat auf seine Lippen. Er schüttelte den Kopf, als ob er gerade eine großartigen Witz gehört hatte.

  »Ich werde diesen kleinen Scheißer zum Krüppel dreschen. Wenn’s sein muss, werd ich’s tun. Wenn er zurückkommt, brech ich ihm die verdammten Fußgelenke. Jawoll, ich tret auf sein Knie, bis er keinen Schritt mehr laufen kann. Wenn dieser Idiot von einem Hurensohn glaubt, er müsste sich ohne Ankündigung verkrümeln, nur weil sich so ein gottverdammtes Monster im Wald rumtreibt, muss ich eben dafür sorgen, dass er nicht abhauen kann. Anders geht’s wohl nicht. Anders kann man den blöden Bastard nicht davon abhalten, blind ins Verderben zu rennen.«

 

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