»Meinst du jetzt?«, frage ich grinsend .
»Nein, ich meine allgemein. Ich hatte einen tollen Abend heute.« Wieder ist ihre Stimme ganz leise.
»Na klar, kein Problem«, sage ich und stecke meine Nase halb absichtlich noch mal in ihre Haare.
»Hier müssen wir links!« Auf einmal hat sie ihre Stimme wiedergefunden.
Es hätte mir nichts ausgemacht, noch ein bisschen länger mit ihr hier zwischen den Schienen entlangzugondeln, aber ich lenke nach links.
»Wohnst du weit von hier?«, fragt sie.
»Nicht sehr.«
»Im Garden District?«
Ich muss lachen. »Nein.«
»Sondern?«
»Lass uns nicht darüber reden, wo ich wohne«, sage ich. Vage bleiben, nicht zu viel verraten.
»Ist es ein Geheimnis?«
»Themawechsel«, sage ich, weil außer Bonnie niemand weiß, wo ich wohne.
Abgesehen von Richtungsanweisungen, sprechen wir für den Rest der Fahrt nicht mehr.
»Hier ist es«, sagt sie schließlich vor einer absurd großen Villa.
Ich bremse, und sie springt von meinem Lenker.
»Danke fürs Nach-Hause-Bringen.« Sie fährt sich in einem Versuch, sich zu kämmen, mit den Fingern durch die Haare. Es wirkt, als würde sie versuchen, ihre Ohren zu verstecken. Dabei kann ich mir nichts Niedlicheres vorstellen.
Ich atme tief ein. Ihr Duft vermischt sich mit der nächtlichen Luft, diesem Geruch nach Baumrinde, Asphalt und Schwere. »Es war mir ein Vergnügen. Lass dich mal wieder blicken, dann bringe ich dir die Stadt bei.«
»Gerne. «
Sie will schon einen Schritt zum Gartentor machen, da ziehe ich sie kurz entschlossen in eine Umarmung. Ich habe den Eindruck, als könnte sie das gebrauchen – hier, ganz allein in der Fremde. Doch wahrscheinlich bin ich eigentlich derjenige, der Sehnsucht nach einem Moment der unschuldigen Zweisamkeit hat.
»Gute Nacht, Frenzy«, sage ich.
»Gute Nacht, Link«, erwidert sie. Dann löst sie sich von mir. Sie tippt einen Code in einen Türöffner und verschwindet kurz darauf in dem riesigen Haus.
13
Franzi
Während der nächsten Wochen entspanne ich mich zusehends. Seit ich das erste Teilabenteuer meines großen Abenteuers erlebt habe, fühle ich mich viel sicherer, sowohl mit der Stadt als auch mit mir selbst – und sogar mit Hugos Art.
Ich berichte meiner Mutter und Adrian regelmäßig von meinem Tag, lasse aber bewusst alle Probleme weg, die ich hier habe. Nur Lara gegenüber bin ich vollkommen offen. Sie weiß alles über Hugo und über meine Partynacht, über Links Stimme, seine Augen und seinen Atem in meinem Haar.
An den Wochenenden habe ich immer frei, und Faye macht sich wohl Sorgen, dass ich mich allein fühlen könnte. Denn sie fragt mich an einem Sonntag, ob ich Lust habe, bis zu ihrem Friseurtermin mit ihr shoppen zu gehen. Über meine Verwunderung, dass die Geschäfte sonntags offen haben, lacht sie. Und dann schleppt sie mich in eine Boutique nach der nächsten und kauft jede Menge Klamotten und Accessoires. Sie fragt mich nach meiner Meinung und versucht, auch mich dazu zu bringen, etwas anzuprobieren. Aber die Läden, so schön sie auch sind, befinden sich eindeutig oberhalb meiner Preisklasse. Ich war noch nie eine große Shopperin. Einerseits liegt es daran, dass ich nie genau weiß, was mir eigentlich steht. Andererseits habe ich von meiner Mutter wohl einfach eine ziemlich pragmatische Herangehensweise an Kleidung geerbt. Sie muss passen und einigermaßen bequem sein. Vernünftige Kleidung eben. Ich bin nicht schlecht angezogen, aber einen richtig eigenen Stil habe ich auch nicht. Skinny-Jeans, Blusen, Pullover. So in etwa.
»Ich glaube, ich weiß, wo wir etwas für dich finden«, sagt Faye, setzt sich eine ihrer neu erworbenen Sonnenbrillen auf und verlässt zielstrebig den Laden, in dem sie gerade noch mit einem Paar Schuhe geliebäugelt hat.
Ich bin nicht sonderlich scharf darauf, sie ein weiteres Mal zu enttäuschen. Aber als sie vor einer Secondhand-Boutique zum Stehen kommt, bin ich positiv überrascht. Eventuell kaufe ich mir hier wirklich etwas Kleines. Ein Tuch oder eine Kette vielleicht.
Wir betreten den angenehm klimatisierten Laden, und augenblicklich weiß ich, dass ich mich hier wohler fühle als in den Geschäften vorher. Dennoch bin ich ein bisschen orientierungslos, als ich an den Ständern mit ziemlich bunten Kleidern und Blusen entlanggehe. Faye ist vollkommen in ihrem Element, zieht sofort zielsicher sehr geschmackvolle Teile hervor und hält sie vor mich.
»Das hier vielleicht? Oder dieses? Oder wie wäre es hiermit?«
Ich bewundere ihre Begeisterung und entscheide, dass ich ihr den Gefallen tun werde.
»Weißt du, was, Faye? Such du mir etwas aus«, sage ich, weil ich so nicht in Verlegenheit komme, meinen Mangel an Individualität unter Beweis zu stellen. Was zu Hause eine Tugend war, dieses Gewöhnlich-Sein, das In-der-Menge-Untergehen, das Nur-nicht-Auffallen, kommt mir auf einmal vor wie mein größter Makel. Angefangen bei meinem Namen, bis hin zur Wahl meiner Klamotten. In den Gesprächen mit Hugo, bei meinen Streifzügen durch die Stadt habe ich ab und zu das Gefühl, nicht mehr so richtig zu wissen, wer ich genau bin. So als könnte ich mit der Lautstärke und der Buntheit der Stadt und ihrer Bewohner nicht mithalten. An einem Tag bin ich Frenzy. Heute bin ich – ich weiß es nicht.
Faye drückt mir drei Kleider in die Hand. »Die sollten dir passen«, sagt sie.
Das erste Kleid ist aus einem leichten, hellblauen Stoff, der sich anfühlt wie Sommer. Winzige weiße Schwalben sind darauf gedruckt.
»Und?«, fragt Faye von draußen.
Ich schiebe den Vorhang zur Seite und zeige mich.
»Ja!«, sagt sie. »Das steht dir sehr gut. Bringt deine Figur toll zur Geltung.«
Ich betrachte mich im Spiegel und muss sagen, dass sie recht hat. Das Kleid schmeichelt mir wirklich.
Auch die beiden anderen Kleider, ein hellrotes Jerseykleid mit einer Kordel um die Taille und ein langes dunkelgrünes mit Batikmuster, gefallen mir seltsamerweise.
»Ich kauf sie dir«, sagt Faye.
Ich will ihr widersprechen und zücke meinen Geldbeutel.
»Keine Widerrede. Mein Willkommensgeschenk«, sagt sie.
Als wir wieder auf die Straße treten, habe ich das Gefühl, als würde etwas in mir an den richtigen Platz gerückt. Ein bisschen näher an mich heran. So als würde man ein Puzzleteil an die richtige Stelle setzen.
Faye schaut auf die Uhr. »Oh, ich muss«, sagt sie. »Thibaud wartet nicht. Willst du noch ein bisschen weiterziehen? Dich umsehen?«
»Gern«, erwidere ich.
»Dann sehen wir uns einfach später zu Hause?« Faye haucht mir einen Kuss auf die Wange. Dann schwebt sie davon.
Ich atme tief ein und lasse die Umgebung einmal mehr auf mich wirken. Es sind viele Touristen unterwegs, die man sofort an ihren touristenmäßigen Outfits erkennt. Man hört Pferdehufe, Musik, Gelächter. Als ich mich umsehe, fällt mir auf, dass ich gar nicht so weit weg vom Jackson Square bin. Ob Link öfter hier spielt? Ob er auch sonntags da ist? Seit er mich nach Hause gefahren hat, muss ich immer wieder an ihn denken. Beinahe bin ich geneigt, Lara zu glauben, dass ich ihn nicht mit dem Langweiler-Elias vergleichen sollte. Aber wenn ich irgendeinen Kerl auf der Welt mit Link vergleiche, stelle ich schnell fest, dass bislang niemand, den ich kennengelernt habe, mit seiner Art mithalten kann. Auch nicht mit Bonnie. Ich habe einfach noch nie Menschen getroffen, die so unbeschwert waren, das Leben derart genossen haben. Ich habe das Gefühl, sie haben verstanden, worum es geht. Und davon sind alle anderen Leute in meinem Leben – inklusive mir – meilenweit entfernt. Die Erinnerung an ihre Musik, an die Energie, mit der sie den Raum füllten, zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht. Und dann muss ich daran denken, dass sowohl Bonnie als auch Link sagten, ich solle mich mal wieder blicken lassen. Was auch immer das bedeuten mag. Es klingt nach einer Floskel, auch wenn ich mir wünschte, es wäre ernst gemeint.
Auf dem Jackson Square merke ich schnell, dass Link nicht hier sein kann. Eine laute Band spielt vor dem Eingang zur Kirche, sodass es sich für ihn mit Sicherheit nicht lohnen würde, dagegen anzu
singen. Doch ich beschließe, noch ein bisschen durchs French Quarter zu schlendern. Tagsüber fühle ich mich hier vollkommen sicher, sodass ich mich ganz frei bewege. Ich laufe zum Fluss und betrachte die graubraune Brühe, die der berühmte Mississippi sein soll. Dann wandere ich durch die Straßen und genieße den Trubel. Ich lasse mich einfach treiben, bis ich an eine Straßenecke komme, an der – mein Herz macht einen Satz – ich erst eine wunderschöne heisere Stimme höre, die alles in mir durchdringt, und dann …
Dort, unter dem Balkon eines Hostels, sitzt Link und spielt Gitarre. Diesmal hat sich keine Menschentraube gebildet. Die Leute, die vorbeigehen, blicken zwar zu ihm und werden etwas langsamer, aber niemand bleibt stehen. Einen Moment lang sehe ich ihn einfach an. Seine Haare hängen ihm in die Stirn, und wie beim letzten Mal trägt er auch heute ein Unterhemd und darüber Hosenträger. Es ist kein Style, der mir in Deutschland je gefallen hätte, glaube ich. Aber hier sieht es verwegen aus. Jemand wirft Link einen Schein in den Gitarrenkoffer. Er sieht auf, um sich zu bedanken, da fällt sein Blick auf mich. Erst überrascht, fragend, als wüsste er nicht, wo er mich einordnen soll. Dann erinnert er sich, und sein Gesichtsausdruck verändert sich. Es ist das gleiche Gefühl wie bei unserer ersten Begegnung, als ich fälschlicherweise dachte, er würde nur mich ansehen. Allerdings bin ich heute die Einzige, die gemeint sein kann.
Er unterbricht seinen Song und sagt lächelnd mit tiefer Stimme in sein Mikro: »Wenn das mal nicht Frenzy ist.«
Seine Stimme verursacht ein Kribbeln bis in meine Zehen, und in mir werden sofort Gedanken lebendig, Gedanken an seine Wärme an meinem Rücken und seinen Atem in meinem Haar.
Er legt seine Gitarre ab und winkt mich zu sich. »Was führt dich hierher?«, fragt er.
Ich hebe die Tüte mit den Kleidern hoch. »Ich war shoppen.« Aus meinem Mund klingt das wirklich seltsam.
»Was Schönes gefunden?«, fragt er. Er beginnt das Geld aus seinem Gitarrenkoffer zu sammeln.
»Ich glaube schon.«
»Vielleicht zeigst du es mir irgendwann?«
Das ist sicher auch eine Floskel, und ich wage es nicht, zu viel hineinzuinterpretieren, aber ich sage: »Klar.«
Link packt seine Gitarre und das Mikrofon ein. »Also? Worauf hast du Lust? «
»Wie bitte?«
»Was willst du machen? Oder hast du keine Zeit?«
»Äh, doch«, sage ich. »Aber du musst wirklich nicht …« Hat er gerade meinetwegen zusammengepackt?
»Willst du ins Museum? Ich glaube, das ist ein guter Anfang, um etwas über New Orleans zu erfahren. Ich muss nur kurz meine Sachen irgendwo abstellen.« Er blickt sich um. »Ich frage Nick.«
Gleich darauf ist er in einem Laden namens NOLA Spices verschwunden, in dem es, wie ich bei näherer Betrachtung des Schaufensters herausfinde, scharfe Soßen und Chilis gibt.
Es dauert keine Minute, dann kommt Link ohne Gitarre und Zubehör wieder heraus.
»Los geht’s«, sagt er. »Lass uns ins Cabildo gehen.«
Ich kann kaum glauben, dass er wirklich sein Versprechen einlöst und mir seine Stadt näherbringen will.
Der Weg führt uns zurück zum Jackson Square in eines der Gebäude, die die St. Louis Cathedral flankieren. Das Erdgeschoss ist mit Arkadenbögen verziert, und wir treten dankbar in den Schatten.
Ich will auf den Eingang zugehen, doch Link hält mich zurück.
»Warte. Wir können umsonst rein«, sagt er und grinst frech.
»Wie das?«
»Ich kenne jemanden, der hier arbeitet. Er lässt uns durch den Hintereingang rein.« Link greift nach meiner Hand und will mich mit sich ziehen. Bei unserer Berührung verknotet sich etwas in mir auf ganz wunderbare Weise.
»Aber sollten wir nicht das Museum unterstützen?«, frage ich, lasse meine Hand jedoch in seiner liegen. Ich blicke etwas perplex von seinen Fingern zu ihm. Sein Grinsen wird noch ein wenig frecher .
»Gott, bist du ein guter Mensch.« Er verwebt spielerisch unsere Finger miteinander. Bei der Selbstverständlichkeit, mit der er mich berührt, werden meine Knie einen Moment lang weich. Das ist ungewohnt. Ebenso, dass ich es einfach zulasse. Aber in dieser verrückten Stadt, in der ich Frenzy sein, Kleider kaufen und auf wilde Partys gehen kann, scheint alles möglich. Selbst ein Flirt mit einem heißen, Gitarre spielenden Casanova.
Obwohl ich nichts lieber will, als mich von ihm mitziehen zu lassen, kann ich nicht aus meiner Haut. »Was kostet der Eintritt?«, frage ich und stöhne innerlich auf, so genervt bin ich davon, in jeder Situation das Richtige zu tun.
»Sieben Dollar.«
»Ich glaube, ich will lieber bezahlen«, sage ich und fühle mich unendlich uncool. Aber, wie mir auffällt, wohl.
»Ist es okay, wenn wir uns drinnen treffen?«, fragt Link. Ich sehe, dass es ihm etwas unangenehm ist. »Ich … ähm … habe heute nicht so viel …«
»Ist okay«, unterbreche ich ihn, weil er mir nicht erklären muss, dass er sieben Dollar lieber spart. Ich weiß nicht viel über das Leben von Straßenmusikern, aber dass man davon nicht unbedingt reich wird, kann ich mir denken. Selbst in einer Stadt wie New Orleans.
Als er meine Finger loslässt und um die Ecke biegt, ärgere ich mich immer noch leicht über mich selbst. Ich hätte einfach mitgehen können. Doch ich habe eine Entscheidung getroffen. Also gebe ich mir einen Ruck.
Ich betrete die kühle Halle des Museums und zahle meinen Eintritt. Im Foyer steht ein umgekippter Flügel. Auf einem Schild steht, dass er einem Jazzmusiker namens Fats Domino gehört hat und während Hurrikan Katrina zerstört wurde. Das Museum hat ihn gekauft und einigermaßen wiederhergestellt, sodass man ihn als Erinnerungsstück ausstellen kann .
Auf einmal legt sich von hinten ein Arm um meine Schultern, und mir wird ganz warm, auch an Stellen, an denen er mich nicht berührt.
»Krass, oder?«, fragt Link. »Damit erinnert man nicht nur an einen der größten Musiker, der je in dieser Stadt gespielt hat. Es geht um so viel mehr. Um den Jazz als hörbares Wahrzeichen der Stadt, um die Vergänglichkeit. Um das, was war, und das, was wiederkehren wird, im positiven wie im negativen Sinne.«
»Wie meinst du das?«, frage ich ein wenig benebelt von seiner Stimme – und seinem Duft, seiner Nähe.
»Diese Stadt ist so voller Kreativität, dass die Musik ständig dabei ist, sich zu entwickeln. Was Fats Domino für seine Zeit war, ist Sal vielleicht für unsere. Okay, wahrscheinlich nicht Sal, aber es gibt jede Menge Musiker, die jetzt schon Legenden sind, obwohl sie mehrmals die Woche in kleinen Clubs auftreten. Wenn einer geht, kommt immer jemand nach. Aber genauso ist es mit den Hurrikans. Betsy in den Sechzigern war schlimm. Katrina war schlimmer. Direkt danach kam Rita. Wer in dieser Stadt lebt, wer diese Stadt liebt, muss darauf gefasst sein, dass sie eines Tages weg sein könnte. Es wird viel zur Prävention gemacht, aber vor allem in den reicheren Vierteln. Es sind immer die Armen, die am meisten unter diesen Katastrophen leiden. Und gleichzeitig sind sie es, die diese Stadt lebendig halten.«
Während Links Monolog betrachte ich ihn einfach nur. Die Leidenschaft, mit der er über seine Stadt redet, ist mitreißend. Seine Art, zu sprechen, Begeisterung auf andere zu übertragen, ist nicht nur ansteckend, sondern gleichzeitig anziehend. Wären wir nicht einfach an einem Nachmittag in einem Museum, würde ich womöglich sagen, es sei erregend. Diesen Gedanken verbanne ich gleich wieder, denn so muss es jeder Touristin gehen, die auf Link trifft. Meine körperliche Reaktion ist ohnehin alles andere als vernünftig. Stattdessen frage ich mich, ob über Hannover schon einmal auf diese Weise gesprochen wurde. Nicht, dass es eine schlechte Stadt wäre. Jedoch ist mitreißend nicht das erste Wort, an das ich denke, wenn ich mich an meine Studienzeit erinnere. Aber wenn Link von der Liebe zu dieser Stadt redet, meint er nicht die Liebe zu einem Zuhause. Oder zu seiner Familie und seinen Freunden. Er meint etwas viel Tieferes. Er meint die Seele dieser Stadt, über die er neulich Nacht gesprochen hat.
»Das ist der Grund, warum die Leute hierbleiben, oder? Obwohl es gefährlich ist. Obwohl sie von einem Tag auf den anderen alles verlieren könnten.« Ich überlege laut. Mein Kopf ist seltsam leer.
»Genau das ist 2005 passiert. Und fast alle sind zurückgekommen. Weil es nicht noch einen Ort wie New Orleans gibt. Weil man nirgendwo anders leben kann, wenn man hier zu Hause war. Komm, sieh es dir an.«
Er deutet auf den Eingang zu einer der Ausstellungen, deren Gegenstand die Hurrikane Betsy, Katrina und Rita sind.
Die Ausstellungsräume sind dunkel. Links und rechts hängen Bildschirme, die die Wetterberichte und Krisen-Updates in Dauerschleife abspielen. Besorgte Gesichter, Bilder von elend langen Staus, Wetterkarten, auf denen die Stürme immer näher kommen. Ich versuche mich in die Menschen hineinzuversetzen. Was bedeutet es, wenn man über Nacht einfach sein Zuhause räumen muss? Nicht weiß, was noch davon übrig ist, wenn man zurückkehrt – falls man das überhaupt kann? Was würde man mitnehmen?
»Link?«, frage ich, und er dreht sich um. Ich würde so gerne seine Haare berühren. »Wo warst du während Katrina?«
»Meine Eltern sind mit uns zu Verwandten gefahren.«
»Was hast du mitgenommen? «
Er denkt kurz nach. »Meine Gitarre. An den Rest erinnere ich mich, ehrlich gesagt, nicht mehr.«
Link legt mir wieder einen Arm um die Schultern und steuert auf den nächsten Raum zu. Der Drang, meinen Kopf gegen seinen zu legen, ist mächtig. Beinahe übermächtig. Aber ich reiße mich zusammen. In diesem Moment bin ich beinahe dankbar dafür, ein bisschen gehemmt zu sein. Sonst würde ich mich womöglich vollkommen blamieren.
Im nächsten Raum geht es um die Evakuierung und das Aufräumen nach dem Sturm. Mir läuft es kalt den Rücken hinunter.
Kurz zögere ich, dann frage ich: »Wie viele Menschen sind damals ums Leben gekommen?«
»Etwas über achtzehnhundert«, sagt Link, der vor einem Foto aus dem Superdome steht, einer großen Konzerthalle, in der laut Infotext über zwanzigtausend Menschen untergebracht waren.
Ich schlucke. »Kennst du jemanden, der gestorben ist?«, frage ich leise. Ich weiß nicht, ob es okay ist, so etwas zu fragen, aber ich habe das Gefühl, dass ich wenigstens ansatzweise verstehen muss, was hier geschehen ist, um eine Ahnung von der Stadt zu erhalten.
Love is Loud – Ich höre nur dich Page 10