»Curtis hat seine Eltern verloren«, sagt Link und weicht offensichtlich meinem Blick aus. »Sprich ihn nicht drauf an, dann flippt er aus.«
»Nein, nein, natürlich nicht«, beeile ich mich zu sagen. Mein Gesicht wird ganz heiß.
»Lust auf etwas Bunteres?«, fragt Link, und das schelmische Funkeln in seinen Augen ist zurück.
Ich nicke erleichtert.
»Sagt dir Mardi Gras etwas?«
»Ich habe schon davon gehört. Aber so richtig verstanden habe ich es nicht, glaube ich«, gebe ich zu .
»Na, dann komm.«
Wir verlassen die Hurrikan-Ausstellung und erklimmen die Stufen in den ersten Stock. Wieder greift Link nach meiner Hand, ganz so, als könne er nicht erwarten, mir alles zu zeigen. Und meine Hand kann es nicht erwarten, in seiner zu liegen.
Oben ist es hell und freundlich. Die Infotafeln sind farbenfroh, und als ich in die Räume blicke, werde ich von ihrer Buntheit beinahe geblendet.
»Mardi Gras bedeutet ›Fetter Dienstag‹«, sagt Link. »Es ist der letzte Tag vor dem Beginn der Fastenzeit. An diesem Tag steht die Stadt kopf.«
Vermutlich reicht meine Vorstellungskraft nicht aus, um mir auszumalen, wie es ist, wenn »die Stadt kopfsteht«. Denn für meine Verhältnisse steht hier der Alltag schon kopf.
»Die Tradition des Mardi Gras begann Anfang des achtzehnten Jahrhunderts«, erklärt Link. »Zunächst waren es Maskenbälle der französischen Kolonisten. Aber die Paraden wurden schnell fester Bestandteil. Es ging darum, vor der Fastenzeit noch mal richtig reinzuhauen. Das ganze Fett aufzubrauchen, damit es nicht verdirbt.« Er grinst, und mein Inneres schmilzt ein wenig, zerfließt einfach unter seinem Blick. »Ziemlich gute Sache, wenn du mich fragst.«
Er erzählt mir von den verschiedenen Krewes, den Organisationen, deren Festwagen noch heute Teil der großen Umzüge sind. Von den verrückten Kostümen, den Picknicks der Zuschauer, die meist auf dem Boden ausharren, bis ein Festzug vorbeikommt. Von der Musik und dem Lärm, von der ausgelassenen Partystimmung und den Perlen, die geworfen werden. Ich versuche, alles aufzusaugen, was er mir erzählt, betrachte aber die ganze Zeit seine wunderschönen Lippen, die sich bewegen, öffnen und wieder schließen. Kurz muss ich mich abwenden, um mich selbst erneut zu ermahnen. Dies hier ist einfach nur ein Flirt. Wenn überhaupt. Vermutlich bin ich für Link nichts weiter als eine Fremde, der er einen Gefallen tut. Meine Eingeweide verkrampfen sich bei dem Gedanken, doch sie verstehen eben nichts von Vernunft.
Die Ausstellung beinhaltet Videos von Umzügen, Kostüme, Geschichten der einzelnen Krewes, die teilweise bis zu den Anfängen des Mardi Gras zurückgehen. In einem weiteren Raum findet Link in einer Ecke Kostüme, die Besucher für Fotos anziehen können.
»Die hier ist für dich«, sagt er und reicht mir eine grün glitzernde Maske.
Die alte Franzi hätte vermutlich abgelehnt, wäre sich blöd vorgekommen, sich wie ein Kind in einem Museum zu verkleiden. Aber hier und heute ist es mir egal. Links Gesellschaft kitzelt etwas in mir. Den Wunsch zu leben und das Bedürfnis, es in seiner Gegenwart zu tun. Außerdem isst die New-Orleans-Franzi auch Ahornsirup mit French Toast statt andersherum. Und sie will vor Link mit Sicherheit nicht als Feigling dastehen. Also binde ich mir die Maske um. Link entscheidet sich für eine goldene.
»Hier, die gehören auch dazu«, sagt er und hängt mir ungefähr zehn Plastikperlenketten um den Hals. Er kommt mir dabei noch näher, als er es die ganze Zeit über war, und ich ziehe Luft zwischen meinen Zähnen ein, weil mein Magen hüpft. Wie ein kitzelndes innerliches Lächeln, das sich in diesem Moment auch nach außen bemerkbar macht. Link ist nicht nur beinahe absurd attraktiv, seine Gegenwart ist aufregend. Seine Sorglosigkeit, seine Sicht auf die Welt und das Leben, all das ist so anders als alles, was ich kenne, dass ich konstant zwischen Verwunderung und Bewunderung hin- und herschwanke.
»Du brauchst auch noch welche«, sage ich und sehe mich nach weiteren Perlenketten um, aber anscheinend hat er es geschafft, alle vorhandenen um meinen Hals zu hängen. Ich will gerade ein paar davon abnehmen und sie ihm geben, als er in voller Verkleidung einen Moonwalk hinlegt.
»Versuch’s doch«, sagt er keck und verschwindet rückwärts um eine Ecke.
Franzi würde sich vermutlich ihrer Maske entledigen und darauf warten, dass Link zurückkommt. Aber Frenzy? Frenzy genießt es, dass Link sie aus der Reserve locken will. Und ich beschließe, Frenzy zu sein, Frenzy, der es egal ist, was andere von ihr denken. Frenzy, die sich in ihr Herzrasen ergibt.
Ich laufe hinter ihm her und befinde mich nun in einem Vorführraum mit einer Leinwand, auf der das Video eines Mardi-Gras-Umzugs abgespielt wird. Langsam laufe ich durch die Stuhlreihen, mein Blick ist wachsam, und ich versuche auf jedes Geräusch, das nicht Teil des Films ist, zu achten. Doch ich kann ihn nirgends entdecken. Dann höre ich etwas, das von hinter der Leinwand zu kommen scheint. Es ist ein Pfiff und kurz darauf eine Tür, die ins Schloss fällt.
Auf der Tür hinter der Leinwand steht in großen Lettern Kein Zutritt, und ich zögere. Franzi würde niemals in diesen Raum eindringen. Aber Frenzy, hinter einer Maske, tut Dinge, die ich nie für möglich gehalten hätte. Unvernünftige Dinge.
Vorsichtig ziehe ich die Tür einen Spalt weit auf. Dahinter scheint ein kleiner Lagerraum zu sein. Kisten und Stühle stapeln sich an der Wand, und vor einem kleinen Fenster erblicke ich den lebensgroßen Pappaufsteller eines Ballpaares.
»Link«, flüstere ich, »ich weiß, dass du da drin bist. Komm raus, du sitzt in der Falle.« In einem letzten Versuch, das Richtige zu tun, sage ich: »Wir dürfen hier nicht sein. Wir kriegen sicher Ärger.«
»Und dann?«, ertönt Links Stimme aus dem Raum .
»Dann werfen sie uns raus.« Ich trete hinein und schließe leise die Tür, da es mir riskanter vorkommt, draußen zu bleiben.
»Und dann?«
»Dann … dann ist es mir peinlich«, sage ich.
»Und dann?«
»Dann … können wir nicht mehr herkommen.«
»Und dann?«
Mir entfährt ein frustrierter Laut, aber ich gehe noch einen Schritt in den Raum hinein. Meine Perlen klappern, und ich schließe die Tür.
»Das ist echt nicht witzig«, sage ich und klinge ehrlich genervt.
»Okay, ich ergebe mich.« Mit erhobenen Händen kommt er aus seinem Versteck. »Dann darfst du mir jetzt eine Kette um den Hals hängen, schätze ich.« Er grinst, und sofort vergesse ich meinen Ärger über ihn. Mein strenger Blick weicht einem Lächeln.
»Idiot«, sage ich trotzdem noch einmal. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um ihm eine meiner Perlenketten um den Hals zu hängen. Wir sind uns für einen Augenblick ganz nah, und er beugt sich erst leicht vor, um mir entgegenzukommen. Und dann noch etwas weiter und noch etwas. Meine Knie wollen anfangen zu zittern, und meine Atmung geht ganz flach. Völlig unerwartet haucht er mir einen schnellen Kuss auf die Wange.
»Das ist Tradition«, sagt er und zuckt entschuldigend mit den Schultern.
Auf meiner Wange bleibt die Erinnerung an seine weichen Lippen zurück, und ich blicke etwas verlegen auf den Boden, weil ich in eine alberne Tradition für einen Moment mehr hineininterpretiert habe.
»Wir sollten gehen, bevor wir erwischt werden«, sage ich .
»Was? Nein! Jetzt wird es doch erst richtig interessant. Außerdem muss ich kurz mein Handy laden«, erwidert er und steckt tatsächlich sein Ladegerät in eine Steckdose. Dann lässt er sich mit dem Rücken an ein paar Kisten auf dem Boden nieder. Er klopft neben sich. »Komm, setz dich. Ich würde dir gern etwas zu trinken anbieten, aber ich habe gerade nichts da.«
Ich versuche ein weiteres Grinsen zu unterdrücken. »Du bist unmöglich«, sage ich, folge allerdings seinem Beispiel und lasse mich neben ihm nieder.
»Weißt du, was die Farben unserer Masken bedeuten?«, fragt er.
»Ich hatte leider keine Gelegenheit, mir die Infotafeln dazu durchzulesen«, sage ich gespielt genervt und merke, wie ich wieder etwas selbstsicherer werde.
»Das Grün deiner Maske«, beginnt er und fährt mit dem Finger am Stoffband entlang, das die Maske an O
rt und Stelle hält. Mein ganzes Gesicht beginnt zu kribbeln, denn das hier ist mit Sicherheit keine Tradition. »Das Grün steht für den Glauben.«
Mein Herz flattert, und ich muss mich konzentrieren, um überhaupt ein Wort herauszubringen, so sehr irritiert mich seine Nähe. »Und was bedeutet das Gold?«, frage ich und räuspere mich, weil kaum mehr als ein Flüstern aus meinem Mund kommt.
»Gold steht für Macht.« Das letzte Wort raunt er in mein Ohr und lacht leise. Dann ist es still, und ich höre nichts als den Herzschlag in meinen Ohren, von denen ich hoffe, dass sie trotz Maske noch von meinen Haaren verdeckt werden. Nach einem kurzen Moment des Schweigens sagt er: »Tut mir leid, dass ich dich geärgert habe.«
Ich schaue auf, und es kostet mich einiges an Überwindung, ihm direkt in die Augen zu sehen. Die Maske verdeckt zwar die Hälfte seines Gesichts, aber seine Augen, diese wachen, graublauen Augen, blicken mich direkt an.
»Das ist okay«, sage ich viel leiser, als ich es beabsichtigt hatte. »Vielleicht schadet das manchmal gar nicht unbedingt.«
»Wie meinst du das?«
Ich zögere, dann räuspere ich mich erneut. Das hier ist so intim, so nah und so heiß, dass ich das Gefühl habe, ihm alles anvertrauen zu müssen, obwohl ich es eigentlich nicht will. Doch die Verkleidung, die Tatsache, dass mein Gesicht wenigstens teilweise hinter einer Maske versteckt ist, lässt mich mutiger sein, als ich es von mir selbst gewohnt bin.
»Weißt du«, sage ich, »in Deutschland war ich ständig die Vernünftige. Ich habe immer das gemacht, was von mir erwartet wurde. Ich habe auf meine Zukunft hingearbeitet, habe nie Ärger bekommen, nie Fehler gemacht. Ich war dauernd nur vorsichtig.«
»Denkst du, das ist etwas Schlechtes?«, fragt er. »Ich finde es ja ein bisschen heiß.« Er grinst unter seiner Maske, aber ich kann nicht erkennen, ob er es ernst meint oder sich über mich lustig macht.
»Wie bitte?« Ich habe meine normale Lautstärke wiedergefunden.
»Du bist ganz anders als alles, was ich kenne. Ich weiß auch nicht. Irgendwie wirkst du … verlässlich.« Das letzte Wort sagt er wieder ganz dicht an meinem Ohr. Und jetzt bin ich mir sicher, dass er mich aufzieht. »Ganz so, als würdest du alles um dich herum erden.«
Ich schlucke. Und wenn er es doch ernst meint? Ich habe nie auf diese Weise über mich selbst nachgedacht. »Manchmal glaube ich einfach, dass ich vielleicht viel verpasst habe.« Ich schlage mir die Hände vor den Mund. Dieses Geständnis kommt auch für mich überraschend. Ich lache leise, weil es mir seltsam unangenehm ist, vor einem beinahe Fremden – noch dazu vor jemandem, den ich anziehend finde – derart offen zu sein.
»Was hättest du denn gern gemacht?«, fragt er.
»Keine Ahnung. Mehr Risiken eingehen. Ich weiß ja nicht einmal, was für Möglichkeiten ich gehabt hätte.«
»Versteckspiele in Museen?«
»Nicht unbedingt das, aber ja, doch, leichtsinnig sein. Ein bisschen leben oder so ähnlich. Ergibt das Sinn?«
»Ja, tut es.« Jetzt ist er derjenige, der leiser spricht. »Ich habe mehr als genug Leichtsinn und Leben. Ich liebe es, aber es ist auch anstrengend. Denn weißt du, viele Risiken sind es am Ende nicht wert.«
»Aber die Momente dazwischen, die, in denen es gut ausgeht, die sind es wert, oder?«, frage ich und denke an seine Lippen auf meiner Wange.
»Für diese Momente lebe ich«, sagt er und zieht spielerisch an der Schleife meiner Maske, sodass sie sich löst und von meinem Gesicht rutscht. Ich fühle mich auf einmal seltsam entblößt und versuche meine Haare zu richten.
»Nein, lass«, sagt er und grinst. Dann kämmt er meine Haare hinter meine Ohren. »Das ist süß.«
Ich glaube ihm kein Wort, werde aber mutiger. »Also dann …« Meine Hand kribbelt, als ich mit einer langsamen Bewegung ebenfalls die Schleife seiner Maske löse. »Traditionen muss man aufrechterhalten, oder?« Ich beuge mich zu ihm und drücke sanft meine Lippen auf seine Wange. Mein Herz macht einen Satz, als ich sehe, dass er seine Augen geschlossen hat. Und in diesem Moment – wird die Tür geöffnet.
14
Lincoln
Es ist unser Glück, dass wir von meinem Kumpel entdeckt werden, der zwar nicht sauer ist, aber uns sehr bestimmt auffordert, den Raum zu verlassen. Ich finde die Situation eher komisch, merke allerdings, dass Frenzy nicht nach Lachen zumute ist. Die Stimmung zwischen uns ist leider dahin, und wir verabschieden uns vor dem Museum.
Ich ärgere mich, dass ich sie überfordert habe. Ich hätte gern mehr Zeit mit ihr gehabt. Mehr über sie erfahren. Andererseits will ich nicht ihre New-Orleans-Fantasie sein. Für andere kann ich das, doch bei Frenzy muss ich aufpassen. Sie ist besonders.
Am Abend bin ich immer noch seltsam aufgekratzt. Ich habe Lust zu flirten. Lust auf einen Moment der Losgelöstheit. Darauf, mir und der Stadt zu zeigen, dass ich noch da bin. Dass die Bekanntschaft mit einem seltsamen Mädchen nichts an meiner Situation ändert.
Ich schlendere ziellos durch die Straßen, beobachte Touristen und frage mich, ob ich mich heute Nacht vielleicht mal wieder retten lassen sollte. Ich stelle mir ein weiches Hotelbett vor, eine heiße Badewanne, einen flauschigen Bademantel.
»Hi, y’all «, sage ich zu einer Gruppe junger Frauen, die gerade versuchen, sich alle auf ein Selfie zu quetschen. »Soll ich vielleicht ein Foto von euch machen? «
»Sehr gern, vielen Dank«, sagt eine und reicht mir ihr Handy.
»Ihr seht bezaubernd aus«, sage ich, als ich abdrücke. In Wirklichkeit sehen sie ein bisschen austauschbar aus, aber das macht nichts.
»Bist du aus New Orleans?«, fragt eine.
»Geboren und aufgewachsen. NOLA durch und durch.«
Sofort habe ich sie am Haken. Es gibt für Touristinnen und Touristen kaum etwas Exotischeres, als einen echten Einheimischen kennenzulernen.
»Zeigst du uns dein New Orleans?«, fragt eine andere.
»Was wollt ihr denn sehen?«
»Was immer du vorschlägst.« Zwei von ihnen kichern. Ich muss an Frenzys Lachen denken, das so ganz anders ist als das hier. Ein bisschen schüchtern, aber ehrlich. Doch Frenzy ist nicht hier.
Ich ziehe mit der Fünfergruppe durch die Straßen. Hier und da erzähle ich ihnen irgendeine relativ uninteressante Anekdote, aber sie hängen an meinen Lippen. Besonders die Kleinste, eine vollbusige Blondine mit Bubikopf, die sich mir als Nika vorstellt. Sie ist laut und lacht schrill, doch das kann auch an den Drinks liegen, die wir uns zwischendurch immer wieder genehmigen. In der Dämmerung lassen wir uns mit Bierdosen in Papiertüten am Fluss nieder und blicken auf die Lichter am anderen Ufer. In diesem Moment fühle ich mich leicht und unbeschwert, während Nika ihren Kopf auf meine Schulter legt und übertrieben seufzt.
»Gehen wir noch feiern?«, fragt sie und berührt zum wiederholten Mal wie zufällig meinen Arm. »Ich wette, du kennst die besten Schuppen der ganzen Bourbon Street.«
Beinahe muss ich lachen. Doch stattdessen sage ich: »Ja, die kenne ich«, weil die fünf mit Sicherheit nicht für eine musikalische Erleuchtung in die Stadt gekommen sind .
Die Bourbon Street quillt über vor Menschen. Aus den Bars hört man Gelächter, Gekreische und laute Musik. Vieles davon ist wirklich gut, aber hier nehmen die Leute kaum Notiz davon. Hier geht es um den reinen Konsum. Um Feiern bis zur Besinnungslosigkeit.
Ein paar Kerle mit Plastikperlen bleiben vor uns stehen, und ich halte mich vornehm im Hintergrund.
»Zeigt uns, was ihr habt«, ruft der eine, der seinem Akzent nach zu urteilen nicht aus den Südstaaten kommt. Und tatsächlich ziehen zwei von Nikas Freundinnen ihre Oberteile nach oben und entblößen ihre Brüste. Ich wende mich leicht angewidert ab. Das ist normalerweise das Erste, was ich Touristinnen beibringe. Sich nicht für ein paar lächerliche Plastikperlen auszuziehen. Es ist eine scheußliche Tradition, der ich nichts abgewinnen kann.
»Lasst uns hier reingehen«, sage ich und ziehe Nika in den erstbesten Laden. Wir finden eine kleine Sitzecke, und ich lasse mich auf ein weiteres Bier einladen. Meine Stimmung kippt merklich, und ich ärgere mich über mich selbst. Eine Partynacht für einen Moment des Luxus. Das gehört eigentlich zu
meinen leichtesten Übungen.
Nika reibt ihre Brüste an meiner Schulter, während sie aus unerfindlichen Gründen anfängt, mein Ohr zu lecken. Es fühlt sich scheußlich an, nass und glitschig, und ich versuche, wieder ein bisschen Abstand zwischen uns zu bringen. Eine Braunhaarige, die auf der anderen Seite neben mir sitzt und deren Namen ich vergessen habe, fährt mir durch die Haare. Vielleicht verstehe ich mich ja mit ihr besser.
»Wie heißt du noch mal?«, frage ich.
»Karen.«
Ich kämme ihr eine Haarsträhne hinters Ohr und denke kurz an Frenzys Segelohren. »Hast du Spaß, Karen?«
Sie nickt eifrig und legt eine Hand auf mein Bein .
Ich bin erleichtert, als Nika und die anderen auf die Tanzfläche stürmen, weil »ihr Song« gespielt wird.
»Hast du ein Hotelzimmer?«, frage ich, doch dann merke ich, dass das heute nichts wird. Nicht für mich. So verlockend eine heiße Dusche und ein weiches Bett sind, so attraktiv ich Karen finde, ich habe keine Lust. Der Gedanke verwundert mich. »Sorry, vergiss das wieder, muss los«, sage ich deswegen schnell und springe so abrupt auf, dass ich beinahe den Tisch umwerfe.
Als ich draußen bin, denke ich kurz darüber nach, Esmé anzurufen. Denn ich habe das Gefühl, Nähe zu brauchen. Allerdings nicht zu einer Fremden. Doch im nächsten Moment weiß ich, dass Esmés Nähe auch verkehrt ist.
Ich dränge mich durch die Menschenmengen der Bourbon Street. Mein Fahrrad steht nicht weit von hier, und trotzdem dauert es eine gefühlte Ewigkeit, bis ich die Bourbon Street hinter mir lasse und auf mein Fahrrad steige.
Ein paar Betrunkene stolpern jetzt schon in ihre Hotels zurück, und ich mache einen großen Bogen um sie. Ihre Bewegungen sind unberechenbar.
Eigentlich mag ich es, dass Menschen nach New Orleans kommen, um Spaß zu haben, das Leben zu zelebrieren und mit allen Sinnen aufzusaugen. Sie sind ebenso wie ich nur auf der Suche nach einem Moment der Ekstase. Aber während ich an ein paar Alkoholleichen vorbeiradle, die es nicht mehr in ihr Hotelbett geschafft haben, ekelt mich die Diskrepanz ein wenig an. Irgendetwas ist mit mir passiert. Irgendwas ist anders. Ich denke an all die Obdachlosen in der Stadt, Veteranen, Alte, Kranke, die auf der Straße schlafen müssen, weil die Welt sie abgeschrieben hat. Weil sie sich selbst abgeschrieben haben. Und gleichzeitig lehnt da dieser groß gewachsene, braun gebrannte Kerl an einer Regenrinne, der Sabber läuft ihm auf sein rosafarbenes Poloshirt, das das Emblem irgendeiner teuren Marke trägt, und seine Freundin mit goldenen Riemchensandalen zerrt an seiner Hand, damit sie endlich ins Bett kann.
Love is Loud – Ich höre nur dich Page 11