Love is Loud – Ich höre nur dich
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Mit drei entschlossenen Schritten bin ich bei der Tür. Unter einiger Anstrengung gelingt es mir, das Schloss zu öffnen, und ich trete zurück in die Bar. Inzwischen hat sie sich geleert, und neben ein paar vereinzelten Nachtschwärmern sind nur noch Jasper, Sal, Curtis, Bonnie und Amory hier.
»Das war schnell«, sagt Bonnie grinsend, als sie sich zu mir an die Bar stellt.
»Wie bitte?«, frage ich.
»Entschuldige, ich wollte nicht indiskret sein.«
»Keine Sorge, du bist nicht indiskret.« Mein Tonfall hat sich immer noch nicht wieder normalisiert.
»Ist Link noch da drin?«, fragt Curtis und zeigt auf die Tür zum Lager. Er hat den schwarzen Zylinder mit den Geldscheinen in der Hand.
Ich nicke.
»Ist mit euch beiden alles in Ordnung?«, fragt Bonnie.
»Ja. Nein. Ach, keine Ahnung«, sage ich. »Im einen Moment fallen wir übereinander her und im nächsten … weigert er sich, mich mit zu sich zu nehmen.«
»Oooooh.« Bonnie nickt wissend.
Ich blicke sie fragend an. »Was meinst du?«
»Er ist in der Beziehung ein bisschen schräg«, sagt sie und lässt einen ihrer Braids durch ihre Finger wandern.
»Schräg trifft es ganz gut.«
»Aber es ist nichts, worüber du dir Gedanken machen musst.«
»War er …«, sage ich zögerlich, »… war er mit Esmé dort?« Bis zu diesem Augenblick wusste ich nicht einmal, dass mir dieser Gedanke auf der Seele lag.
»Mit Esmé? Bist du verrückt? Nein.« Sie lacht. »Ich glaube, ich bin die Einzige, die je dort war.«
»Was?« Das kann nicht sein.
»Curtis war definitiv nie dort. Und Jasper weiß nicht einmal, wo er wohnt.« Sie schlägt sich die Hand vor den Mund. »Fuck, das solltest du vermutlich nicht wissen. Aber Fakt ist, es hat nichts mit dir zu tun. Es ist nichts, worüber du dir Sorgen machen musst. Das verspreche ich dir. Gib der Sache einfach noch ein bisschen Zeit. Er vertraut dir, das weiß ich. Er redet über dich.«
»Hat er das sonst nicht getan?«, frage ich und ringe mich zu einem vorsichtigen Lächeln durch.
»Sonst?«, fragt Bonnie. Dann versteht sie. »Nein. Es ist das erste Mal seit Blythes Tod, dass er mich auf diese Art an seinen Gefühlen teilhaben lässt. Es ist das erste Mal, dass er weiter denkt als bis morgen früh. «
Ich schlucke. Und für mich ist es das erste Mal, dass ich nicht an morgen, an nächste Woche oder nächstes Jahr denke. Vielleicht sollte ich also auch nicht darüber nachdenken, was er mir nicht gibt, sondern mich auf das konzentrieren, was er mir gibt.
»Hey«, sagt auf einmal seine heisere Stimme hinter uns. »Das hier ist für dich, Bonnie.« Er drückt ihr einen Stapel Dollarnoten in die Hand. »Und ich habe auch etwas für dich.« Er sieht mich leicht unsicher an.
»Erkaufst du dir deine Privatsphäre?«, witzelt Bonnie. Doch als sie seinen Blick bemerkt, grinst sie entschuldigend, zuckt mit den Schultern und zieht ab.
»Es tut mir leid, dass ich die Sache so kompliziert mache.«
»Ist schon in Ordnung«, erwidere ich. Denn ich möchte keine Zeit damit verschwenden, sauer zu sein. Ich will jeden Augenblick genießen, den wir haben.
»Es ist nicht in Ordnung, und ich weiß das. Aber … ähm … wenn du magst …«
»Ja?«
»Meine Mom hat uns zum Essen eingeladen. Und wenn du nichts dagegen hast, würde ich dich gern meinen Eltern vorstellen.«
»Meinst du das ernst?«, frage ich vollkommen perplex. Mir kommt es vor, als wäre das viel intimer, als jemanden mit zu sich nach Hause zu nehmen.
»Manchmal ist es dort ein bisschen traurig. Aber wenn sie gut drauf sind, sind sie sehr nett. Und Charlie, meine Mom, kocht gut.«
»Ich komme sehr gern«, sage ich und nehme seine Hand, um ihm zu zeigen, dass alles in Ordnung ist.
»Man nennt diese Häuser ›Shotgun-Häuser‹«, erklärt Link, als wir vor dem Haus seiner Eltern stehen, das aussieht wie ein hausförmiger Container. Es ist offensichtlich, dass diese Gegend arm ist. Sie hat eine Zahl im Namen, und ich beschließe, Faye nicht zu sagen, wo ich den Sonntag verbracht habe.
»Woher kommt der Begriff?«, frage ich.
»Du kannst einmal komplett durch das Haus durchschießen. Vom Eingang bis zur Hintertür. Ich zeig’s dir.« Er klopft an die Tür und öffnet sie dann. »Charlie? Con? Wir sind da!«
»In der Küche«, ruft eine tiefe Frauenstimme.
Wir treten ein, und ich erkenne auf den ersten Blick, was Link gemeint hat. Man kann durch das komplette Haus hindurchsehen. Die Zimmer liegen eins hinter dem anderen. Gerade befinden wir uns wohl im Wohnzimmer, dessen Zentrum eine Sofagarnitur aus Leder bildet. Ein alter Röhrenfernseher in einer Schrankwand wird eingerahmt von Familienfotos und einigen Porträts eines Mädchens, bei dem es sich um Blythe handeln muss. Ich gehe wie automatisch auf eines der gerahmten Bilder zu. Sie sieht wunderschön aus. Glücklich und lebendig. Beim Gedanken daran, dass sie nicht mehr lebt, schnürt sich mir unwillkürlich die Kehle zu.
»Ich habe dich gewarnt«, sagt Link direkt hinter mir und dreht mich sanft um. »Das hier ist kein fröhlicher Ort mehr.« Er zuckt mit den Schultern, und sein Blick ist auf einmal viel schwerer als sonst. Doch dann ist es, als würde er die Traurigkeit abschütteln. Er steckt sein Ladekabel in die Steckdose, um sein Handy anzuschließen, und bedeutet mir, ihm zu folgen. Wir gehen durch das nächste Zimmer – das Schlafzimmer, in dem wiederum Bilder von Blythe und Link die Wände und Nachttische zieren – in die Küche.
»Hi, Charlie«, sagt er und drückt der rundlichen Frau im Rollstuhl einen Kuss auf die Wange.
»Link, mein guter Junge«, sagt sie und hält ihm einen Kochlöffel hin. »Probier das. «
»Mmmmh«, macht er. »Charlie macht das beste Jambalaya der ganzen Stadt.«
»Du musst Franziska sein«, sagt Links Mom nun. »Schön, dass du da bist.« Sie lächelt mich an. Ihre langen grauen Haare hängen ihr über die Schultern. Aus ihren Augen spricht Trauer und Müdigkeit.
»Hallo, Mrs Hughes«, erwidere ich. »Vielen Dank für die Einladung.«
»Nenn mich Charlie«, sagt Links Mom, und ihr Lächeln wird breiter. »Con? Die Kinder sind da!«
Die Tatsache, dass sie Link und mich »die Kinder« nennt, hat etwas sehr Familiäres, und ich fühle mich sofort wohl. Es ist hier ganz anders als bei Faye und Victor, wo zwischen all dem Reichtum kein Platz für Gefühle zu sein scheint. Links Eltern leben in ärmlichen Verhältnissen, aber man hat den Eindruck, als gäbe es hier nichts Unterschwelliges. Selbst die Trauer ist allgegenwärtig – doch sie fühlt sich natürlich an.
Man hört Schritte von draußen, und im nächsten Moment springt die Hintertür auf. Ein großer Mann, dessen Erscheinung früher sicher einmal beeindruckend war, tritt durch die Tür. Die Schultern hängen herab, der Gang ist leicht geduckt. Seine Haut ist faltig und wettergegerbt, sein volles Haar schlohweiß.
Doch als er Link erblickt, blitzt in seinen Augen etwas auf. Graublaue Augen, fällt mir auf, wie die von Link.
»Sohn!«, ruft er, und seine Stimme ist laut. Beinahe glaube ich, das Haus müsste vibrieren. Und vielleicht tut es das auch. Er klopft Link auf die Schulter. »Und du bist seine Herzensdame«, sagt er dann an mich gewandt.
»Franziska«, stelle ich mich vor.
»Ich weiß«, sagt er und grinst. »Wenn man einen Namen aus diesem Kerl herausbringt, merkt man ihn sich besser. Ich bin Constantine. «
»Niemand nennt dich so, Schatz«, sagt Charlie. »Sag Con zu ihm, sonst glaube ich, du wärst von der Behörde oder so.«
Wenig später sitzen wir im Wohnzimmer um einen einfachen Tisch herum. Link hat gedeckt, während ich mit Charlie gesprochen habe. Sie hat versucht, das Thema Blythe zu vermeiden – zumindest kam es mir so vor. Denn einige Male hielt sie inne, als wolle sie etwas sagen, doch dann schluckte sie es hinunter.
Das Jambalaya schmeckt wunderbar. Der Reis, der zusammen mit Gemüse, Crawfish und einer würzigen Wurst gekocht wurde, hat eine angenehme Schärfe.
»Was machst du im Garten, Con?«, fragt Link.
»Ich versuche zu ret
ten, was zu retten ist«, erwidert sein Dad. Als Erklärung fügt er hinzu: »Die Pflanzen haben irgendeinen Parasiten, dem ich nicht Herr werden kann. Ich habe nicht unbedingt einen grünen Daumen. Blythe war diejenige, die sich um den Garten gekümmert hat.«
Charlie legt ihre Hand auf seine große Pranke.
»Ich könnte mal Hugo fragen, vielleicht hat er eine Idee«, schlage ich vor. »Hugo ist der alte Mann, dem ich helfe. Er ist ein Pflanzennarr. Bei ihm wächst alles.«
»Das wäre toll, danke«, sagt Con, und ich nehme mir fest vor, nachher ein Foto von den Pflanzen zu schießen. »Ich will sie nicht enttäuschen, wisst ihr?«
Ich bin mir sicher, dass er von Blythe spricht.
»Con …«, sagt Link und klingt ein bisschen angespannt, wenn auch voller Mitgefühl. Doch mir macht es nichts aus, dass seine Eltern über ihre Tochter reden wollen. Die Dinge auszusprechen und auszuleben scheint mir sowohl für den Augenblick als auch für die Zukunft der gesündeste Umgang zu sein.
Danach stellen Charlie und Con mir abwechselnd Fragen. Wie mir New Orleans gefällt, wie es bei mir zu Hause ist. Was das für Leute sind, bei denen ich wohne. Woher ich Link kenne. Wenn sie über Link sprechen, werden ihre Blicke ganz warm.
»Ich erzähle dir nachher ein paar peinliche Geschichten über ihn«, sagt Charlie und lacht. »Dann kannst du dir die Sache mit euch noch mal überlegen.«
»Witzig, Charlie«, sagt Link und lädt sich den Teller zum dritten Mal mit Jambalaya voll, während ich von der riesigen ersten Portion schon völlig satt bin.
Nach dem Essen legt Charlie sich eine halbe Stunde hin, und Link und ich gehen in den Garten, damit ich Bilder von den Pflanzen machen kann. Die Blätter der Sträucher sind mit irgendeiner mehligen Schicht überzogen.
»Wann sind deine Eltern hier eingezogen?«, frage ich.
»Ich glaube, gleich nach ihrer Hochzeit.«
»Wann haben sie geheiratet?«
»Das müsste jetzt so um die siebenundzwanzig Jahre her sein.« Link grinst.
»Aber …« Ich bin verwirrt. Das Haus ist winzig. Wo sind Blythe und er dann aufgewachsen?
»Du fragst dich, ob wir hier zu viert gewohnt haben?«
Ich nicke etwas verunsichert.
»Das Schlafzimmer war das Kinderzimmer. Und Charlie und Con haben auf einer Ausziehcouch im Wohnzimmer geschlafen«, sagt Link.
Ich schlucke. Selbst als mein Vater uns verlassen hatte, mussten wir nicht so beengt leben. Auf einmal wird mir schmerzlich bewusst, wie gut wir es immer hatten. Wie einfach das Leben für mich war. Und wie ich trotzdem ständig total panisch wurde beim Gedanken an die Zukunft und daran, dass ich nicht vorbereitet sein könnte. Link auf der anderen Seite, der alles Recht hätte, sich Sorgen zu machen, lebt einfach in den Tag hinein .
»Darf ich dich noch etwas fragen?«
»Alles.«
»Warum nennst du deine Eltern beim Vornamen?«
Link lacht leise, doch seine Augen lachen nicht mit. Er nimmt mich an der Hand und zieht mich auf die quietschende Hollywoodschaukel neben sich.
»Als Blythe starb, fühlte es sich nicht mehr richtig an. Wir sind alle irgendwie zerfallen. Aber meine Eltern ganz besonders, kannst du dir bestimmt denken. Und wenn das passiert, wenn du auf einmal derjenige bist, der sich um die Eltern kümmert, dann ändert sich das Verhältnis. Es fühlte sich falsch an. Verlogen irgendwie. Als würde ich an etwas festhalten, das nicht mehr da ist. Das war ein Mechanismus, der ganz automatisch kam. Als müsste ich mich mit ein bisschen Abstand selbst davor bewahren, runtergezogen zu werden. Denn wenn das geschehen wäre …« Er hält kurz inne. »Ich konnte es mir nicht erlauben.«
»Du warst der Starke?«, frage ich.
Er zuckt mit den Schultern. »Mir blieb, ehrlich gesagt, nichts anderes übrig. Blythe hatte mich darum gebeten, für sie da zu sein. Für Charlie und Con, Jasper, Weston und Maya. Also war es das Mindeste.«
»Wie hast du es ausgehalten?«, frage ich und drücke seine Hand.
»Einen Tag nach dem anderen. Ich habe versucht, nicht mehr das große Ganze zu sehen. Denn das war ohne Blythe nicht mehr denkbar. Aber in kleinen Portionen war es möglich. Das Härteste, was ich je gemacht habe, aber möglich.«
Am frühen Abend verabschieden wir uns von Links Eltern. Ich bedanke mich noch mal für die Einladung und das leckere Essen, von dem Charlie mir noch etwas mitgegeben hat .
»Nichts zu danken. Komm bald wieder«, sagt sie. Ich beuge mich zu ihr hinunter und umarme sie.
»Die solltest du behalten, Sohn«, sagt Con, als wir durch den vertrockneten Vorgarten laufen.
Link dreht sich um und winkt ab. »Hauptsache, Druck rausnehmen«, ruft er. Dann schiebt Con Charlie wieder hinein.
»Das war schön«, sage ich, als er mich an sich zieht. »Danke, dass du mich mitgenommen hast.« Der Streit von letzter Woche ist vollkommen vergessen.
»Danke, dass du mitgekommen bist. Meinen Eltern hat es viel bedeutet.«
»Mir auch«, flüstere ich.
»Alles gut zwischen uns?«
»Natürlich. Allerdings …« Ich will die Frage eigentlich hinunterschlucken, aber sie kommt einfach aus mir heraus. »Ich verstehe nicht, warum das für dich okay war und ein Besuch bei dir zu Hause zu intim ist.« Sofort beiße ich mir auf die Lippe. Hatte ich nicht gerade noch darüber nachgedacht, dass der Streit vergessen ist?
»Du meinst, weil es erbärmlicher eigentlich nicht mehr geht?«, fragt er.
»Was? Nein, das meinte ich nicht«, beeile ich mich zu sagen.
»Schon gut, das weiß ich. Aber glaub mir, es geht immer erbärmlicher.« Mit diesen Worten löst er sich von mir und geht ein paar entschlossene Schritte in Richtung Bushaltestelle. Dann dreht er sich um. »Und mit Intimität hat es übrigens nichts zu tun.«
32
Lincoln
Seit einer geschlagenen Viertelstunde verstecke ich mich auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinter einem Baum. Frenzy war sich nicht sicher, wann genau ihre Gastfamilie fahren würde, und ich habe wirklich keine Lust, Faye und Victor zu begegnen. Hugo wäre eine andere Sache, aber nach allem, was Frenzy über die beiden erzählt hat, sind es nicht unbedingt die Leute, mit denen ich mich gut verstehe – und andersherum. Frenzy verliert zwar kein schlechtes Wort über sie, doch ich habe mir ein ganz gutes Bild gemacht.
Ich bin aufgeregt. Aufgedreht beinahe. Wir haben das ganze Wochenende vor uns. Zu zweit. In diesem absurden Haus. Ich blicke auf mein Handy. Immer noch keine Nachricht von ihr, immer noch keine Bewegung auf der anderen Straßenseite. Ein junges Paar mit einem Hund läuft an mir vorbei. Sie nicken, ich erwidere ihren Gruß. Es ist heiß, und mir rinnt der Schweiß den Rücken hinab.
Und dann, endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit wird die Tür geöffnet. Das müssen Faye und Victor sein. Sie sehen genauso aus, wie ich sie mir vorgestellt habe. Herausgeputzt, austauschbar, teuer. Ich kann nicht hören, was gesprochen wird, aber ich sehe, dass Frenzy im Flur steht. Jetzt winkt sie, während Victor Koffer zu dem riesigen SUV trägt, der vor der Garage parkt.
»Hugo!«, ruft Faye. Offensichtlich hat der alte Mann keine Lust darauf, ein Wochenende mit seinem Sohn und dessen Frau zu verbringen. Und ich kann es ihm nicht verübeln. Und doch bete ich, dass er uns keinen Strich durch die Rechnung macht.
Ich atme erleichtert auf, als Hugo aus dem Haus getrottet kommt. Victor schüttelt genervt den Kopf. Und schließlich steigen sie zum Glück ins Auto. Frenzy steht nach wie vor in der Tür und winkt. Als der SUV außer Sichtweite ist, vibriert mein Handy.
Komm!, steht da, sonst nichts. Ich grinse, stoße mich vom Stamm des Baums ab, der mir in der letzten halben Stunde Schatten gespendet hat, und überquere die Straße.
Gerade als Frenzy die Tür wieder schließen will, erblickt sie mich. Sie strahlt. Und ich tue es ihr gleich. Barfuß springt sie die Steinstufen hinunter und öffnet mir das Gartentor.
Sie zieht mich in eine feste Umarmung und sucht mit ihren Lippen die meinen. Sie sind so weich, so zart, so wunderbar. Sie bringen mein Herz zum Rasen, ebenso wie es diese Frau tut.
»Komm rein«, sagt sie dann und löst sich von mir. »D
rinnen ist es schön kühl.«
Sie läuft leichtfüßig über die großen Steinplatten zum Haus zurück. Und allein das Geräusch ihrer nackten Füße macht mich so an, dass ich gar nicht schnell genug hinter ihr her ins Haus kommen kann.
Wie bei meinem ersten Besuch bin ich auch heute wieder beeindruckt von diesem gigantischen Haus. Von der Modernität, der Sauberkeit. Es duftet nach frischer Wäsche und Früchten. Vielleicht ein Raumerfrischer, vielleicht Wirklichkeit. So richtig weiß man in dieser Welt oft nicht, was echt ist und was fake. Blythe konnte es gut auseinanderhalten. Es war faszinierend, mit welcher Genauigkeit sie mir von ihren Ausflügen in diese Welt berichtete. Mit welcher Sicherheit sie jede Handlung analysierte. Oft glaubte ich, sie würde übertreiben. Aber wenn ich daran zurückdenke, wird mir nun klar, dass ich mit meinen dreizehn oder vierzehn Jahren einfach noch keine Ahnung hatte.
Doch heute bin ich mit Frenzy hier. Es gibt nur uns beide. Und an ihr ist nichts fake. Das hätte Blythe auch gesehen. An ihr ist alles echt. Manches ist versteckt, aber es bricht immer wieder aus ihr heraus.
»Zieh deine Schuhe am besten aus«, sagt sie und dreht sich zu mir um. »Dann zeige ich dir das Haus.«
Wohnzimmer und Terrasse kenne ich schon. Auch in Küche und Esszimmer habe ich einen kurzen Blick geworfen, als ich vor ein paar Wochen hier war. Deswegen folge ich Frenzy gleich die Treppe nach oben in den ersten Stock. Auf dem Boden ist weicher Teppich verlegt, und man sinkt regelrecht ein. Als würde man über flauschige Wolken laufen.
»Das ist das Schlafzimmer von Faye und Victor.« Frenzy zeigt auf eine geschlossene weiße Tür. »Da gehen wir besser nicht rein.«
»Meinst du, die beiden haben irgendeine Art von verrücktem Fetisch zu verbergen?«, frage ich und überlege, ob es einen Makellosigkeitsfetisch gibt.
Frenzy lacht. »Nein, ich will nur nicht in ihre Privatsphäre eindringen. Das hier ist eins der Gästezimmer.« Sie schiebt eine weitere weiß gestrichene Tür auf. »Faye nutzt es manchmal als Lesezimmer.«
Ich kann ein leises Lachen nicht unterdrücken. »Ein Lesezimmer … Faye und Victor sind sehr reich, oder?«
»Ich glaube schon. Victor gehört eine Maklerfirma.«