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Love is Loud – Ich höre nur dich

Page 25

by Engel, Kathinka


  »Das klingt gemütlich«, sagt Link, und ich verschlucke mich beinahe an meinem Sandwich.

  »Du findest, das klingt gemütlich?«, frage ich. »Ausgerechnet du?«

  »Was soll das denn heißen?«

  »Du lebst für deine Musik, für den Moment, für Spaß. Du genießt jeden Augenblick, bist frei. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass dich ein Reihenhaus glücklich machen würde.«

  »Ja, vielleicht. Aber es klingt, als könnte man gut schlafen in deiner Zukunft. Als müsste man sich keine Sorgen machen. Als hättest du einen Kühlschrank, der so voll ist wie dieser.« Er blickt auf und lächelt mich schief an. »Das ist nicht das Schlechteste, oder?«

  »Nein, vielleicht nicht.«

  Kurz essen wir schweigend. Ich schenke Wein nach .

  »Also«, sagt er dann, »was ist passiert?«

  »Was meinst du?«

  »Du hast gesagt, bislang wolltest du das alles. Aber jetzt nicht mehr?«

  »Ich bin mir nicht mehr sicher«, sage ich.

  »Inwiefern?«

  »Ich habe irgendwie die Orientierung verloren. Wenn ich versuche, mir meine Zukunft vorzustellen, ist es keine gerade Linie mehr. Bis ich hierherkam, gab es Punkte, die man einfach verbinden konnte. Alles ganz gerade. Schule, Abitur, Studium, Freund, Job, Heirat, Kinder, Karriere, Rente, Tod. So ungefähr. Es hat mir Sicherheit gegeben, einen Punkt nach dem anderen abhaken zu können. Ich hatte das Gefühl, ich hätte die Kontrolle.«

  »Aber man hat nicht alles in der Hand, oder? Die Reihenfolge beispielsweise.«

  »Ja …« Ich denke an Links Schwester. Sie hatte sicher auch eine Linie mit Punkten. »Und deswegen frage ich mich, ob man vielleicht seinen ganzen Lebensentwurf umschmeißen kann. Und dann denke ich, dass es ein ziemlich großes Risiko ist. Dass man sich nicht sicher sein kann.«

  »Mir gefallen deine Gedanken«, sagt Link.

  »Was? Wieso?« Ich muss ein bisschen lachen. »Das sind alles absolute first world problems. Und verquer sind sie noch dazu.«

  »Ich finde sie nicht verquer. Weil sie bedeuten, dass du hinterfragst. Und das ist gut. Man verändert sich mit der Zeit, hat andere Bedürfnisse. Das ist ein gesunder Prozess.«

  »Ja, vielleicht. Und trotzdem hängt man irgendwie in den Seilen.«

  »Solange sie nicht reißen …« Er zuckt mit den Schultern. Dann sieht er mich direkt an. »Weißt du denn, warum du plötzlich unsicher bist?«, fragt er. In seinem Blick liegt eine un geheure Zärtlichkeit. Beinahe meine ich, so etwas wie Bewunderung zu erkennen.

  »Ich glaube, es ist alles.«

  »Alles?«

  »Angefangen hat es mit Hugo. Dann kam das bunte Leben in dieser Stadt. Die Wärme, die den Kopf irgendwie ausschaltet. Der Lärm. Die Musik. Und dann … du.«

  Link stellt das Weinglas, das er gerade zum Mund führen wollte, zurück auf die Arbeitsplatte. Kurz denke ich, ich habe ihn erschreckt. Doch er legt seine Hand auf mein nacktes Bein und streicht einmal über meine kühle Haut. Dann schlingt er seine Arme um meine Mitte, legt seine Stirn gegen meine.

  »Ich?«, fragt er leise.

  »Ich wollte eigentlich unabhängig sein. Ein Jahr für mich haben«, beginne ich meine Erklärung. »Und dann habe ich gelernt, dass man zu zweit sein und trotzdem frei sein kann.«

  »Und vielleicht kann man Sicherheit haben und gleichzeitig Spaß. Für den Moment leben und an die Zukunft denken.« Er presst seine Lippen auf meine Stirn und lässt sie einfach dort.

  »Vernunft und Impulsivität«, flüstere ich und lege meine Arme um seinen Körper.

  34

  Lincoln

  Mit Frenzy für ein Wochenende beinahe so etwas wie ein richtiges Privatleben zu führen ist ein verblüffendes Gefühl. Verblüffend schön. Einfach, entspannt. Als sie mir gestern Nacht von ihren Zukunftsplänen berichtete, die sie langsam überdenkt, war mein erster Gedanke, dass es gar nicht so falsch klingt. Sicherheit, Geborgenheit, warme Mahlzeiten und eine gemütliche Matratze. Heiße Bäder und ein Glas Wein nach Feierabend. Es ist nichts, wonach ich mich direkt sehne, aber hier mit Frenzy zusammen scheint es das Natürlichste auf der Welt zu sein.

  Zum Frühstück am nächsten Morgen – oder eher Mittag – brät sie French Toast, den wir auf der Terrasse essen. Wir machen uns keine Mühe, uns anzuziehen. Sie trägt mein Hemd, ich nichts als meine Boxershorts. Draußen ist es warm genug, und im Haus würde es nur unnötig lange dauern, sich überflüssiger Klamotten zu entledigen, wenn wir wieder einmal übereinander herfallen.

  Dazwischen unterhalten wir uns über alles, was uns in den Sinn kommt. Sie erzählt von ihrer Familie, ihrer Mutter und ihrem Bruder. Wie ihr Vater sie im Stich ließ und sie seither – mit Ausnahme von Telefonaten zu Weihnachten und Geburtstagen – keinen Kontakt mehr mit ihm haben will. Von ihrem Studium, ihrer besten Freundin Lara.

  Sie fragt mich viel über meine Kindheit und Jugend in New Orleans, über meine Freunde, die Musik. Ein paarmal scheint es mir, als würde sie versuchen, das Gespräch auf meine Wohnsituation zu lenken, aber ich blocke es sanft ab. Zu groß ist meine Sorge, dass diese Nähe zwischen uns, diese Verbundenheit einen Knacks kriegen würde. Bislang habe ich nur Bonnie und Curtis davon erzählt. Und abgesehen von Bonnie, war noch nie jemand bei mir zu Besuch. Zu diesem Schritt ist es noch weit. Besonders, weil dieser Teil meines Lebens kaum weiter entfernt sein kann vom Traum eines Reihenhauses. Warum also das Paradies zerstören?

  Mit jeder Berührung, mit jedem Kuss, jedem Eindringen in sie wächst meine Begierde nach ihr. Jeder Satz, den sie sagt, graviert sich in meine Erinnerung, und dort möchte ich jedes einzelne Wort, jede Silbe für immer abspeichern. Sie für schlechte Zeiten verwahren. Aber ich schiebe jeden Gedanken daran weg. Die schlechten Zeiten, die kommen, wenn sie zurückmuss. Zurück nach Hause, in ihr Leben, in ihre Zukunft. Doch im Moment habe ich sie. Für mich.

  Wir liegen nebeneinander auf dem weichen Teppich im Wohnzimmer. Ich spiele mit ihren Haaren und versuche, an nichts zu denken. An nichts, was diesen Augenblick gefährden könnte. Ich betrachte die Bücherregale, Bilder an der Wand. Die Teppichfransen. Alles, um meinen Kopf abzulenken. Und es funktioniert. Die Gedanken werden so träge wie dieser Nachmittag. Von draußen weht ein warmer Wind herein. Selbst den Vögeln ist es zu heiß zum Singen.

  Beinahe sind wir schon wieder dabei wegzudämmern, so dösig macht uns die Wärme, da reißt uns das Klingeln eines Handys aus unserer schläfrigen Trance. Frenzy richtet sich ein wenig orientierungslos auf und sieht sich um.

  »Ist das deins?«, frage ich.

  »Ja. Sicher meine Mutter. Sie ruft mich gerne vor dem Einschlafen an. «

  Und anscheinend auch vor meinem Einschlafen, denke ich und ziehe mein Bein von Frenzys Körper, damit sie aufstehen kann.

  »Ich versuche es kurz zu machen«, sagt sie.

  »Ach was, rede mit ihr. Wir haben doch Zeit«, erwidere ich. Das Letzte, was ich will, ist, dass Frenzy sich unter Druck gesetzt fühlt, ihre Mutter abzuwürgen.

  »Okay, bis gleich.«

  In einer Bewegung hüllt sie sich wieder in mein Hemd und schnappt sich ihr Handy vom Sofa. Dann geht sie in die Küche. Ich höre, wie sie sich auf Deutsch meldet. Die Sprache hat einen fremden Klang. Ein bisschen barsch und abgehackt, dabei aber nicht unsympathisch. Frenzy klingt anders als auf Englisch. Sie spricht mit weniger Melodie.

  Auch ich ziehe mich wieder an. Dann gehe ich die Bücherregale entlang. Ich glaube nicht, dass die Ausgaben jemals gelesen werden. Sie sind sicher nur zur Zierde hier, viel zu wertvoll, um sie wirklich aufzuschlagen. Fake. Die Buchreihen werden immer wieder von kostbaren Vasen und Nippes unterbrochen. Holzgeschnitztes, Porzellanfiguren, all so ein Kram, den niemand braucht, der dazu da ist, Staub zu fangen und Besuchern zu zeigen, wie viel Geld und Geschmack hier versammelt ist.

  Neben der Regalwand steht eine alte Standuhr, die allerdings nicht aufgezogen ist. Fake. Ein wenig lustlos klappe ich sie auf und wieder zu. Erst jetzt fällt mir auf, dass sich hier in der Ecke eine weitere Tür befindet. Frenzy hat sie auf der Tour durchs Haus vergessen. Sie ist geschlossen, aber als ich den Knauf drehe, geht sie auf.


  Dahinter befindet sich ein Arbeitszimmer. Bestimmt Victors. Der Einrichtungsstil unterscheidet sich eklatant vom Rest des Hauses. Statt heller Weiß- und Cremetöne herrschen hier dunkle Farben vor. Dunkelbraune Holzmöbel, dunkelgrüne Ledersessel. Die Vorhänge sind zugezogen, sodass man von draußen nicht hineinspähen kann. Vermutlich, um die Kühle zu konservieren. Es riecht nach abgestandenem Rauch. Zigarren, nehme ich an. Auf einem Beistelltisch ist ein voller Aschenbecher.

  Sie rümpfen die Nase, als würde dir ein schlechter Geruch anhaften. Dabei sind sie es, die nach Zigarren und Whiskey stinken.

  Und tatsächlich. Gleich daneben eine Bar mit verschiedenen Whiskeys, wie ich bei näherer Betrachtung erkenne. Das hier ist real.

  Es fühlt sich seltsam verboten an, hier zu sein. Ich weiß kaum etwas über Victor, und vermutlich hatte es einen Grund, warum Frenzy mir diesen Raum nicht gezeigt hat. Andererseits sehe ich mich ja nur um.

  Über der Lehne des Schreibtischstuhls hängt ein Jackett. Ich fahre einmal mit der Hand über den teuren Stoff. Er fühlt sich kühl und steif an. Wahrscheinlich wird man einfach ein unsympathischer Mensch, wenn man tagaus, tagein Klamotten trägt, die einen in eine bestimmte Form pressen wollen.

  Der dunkelbraune Schreibtisch strahlt mit seiner ledrigen Oberfläche etwas sehr Patriarchales, beinahe Herrschaftliches aus. Ich sehe Victor vor mir, wie er hier sitzt und sich wie der Größte vorkommt. Wie der wichtigste Mann Louisianas. Von einem Foto lächelt mich eine junge, hübsche Frau an. Faye.

  Ein Stapel geöffneter Briefe liegt vor mir, daneben ein Brieföffner. Was bist du nur für ein Klischee, Victor Reed. Victor Reed. Kurz durchzuckt es mich. Aber nein, das ist Schwachsinn. Den Namen gibt es tausendfach. Jaspers Namen, ehe er Blythe geheiratet und den Namen Hughes angenommen hat. Und doch, mein Herz schlägt ein wenig schneller, und in mir fühlt es sich an, als würden meine Eingeweide nur darauf warten, zusammenzusacken .

  »Mach dich nicht lächerlich«, flüstere ich, um mich zurechtzuweisen.

  Sie sind so lächerlich, Link. Und glauben, sie hätten die Welt verstanden. Dabei haben sie nichts. Abgesehen von Geld. Keine Liebe, keinen Spaß. Wir sind so viel reicher. Aber das sehen sie nicht.

  Ich ziehe die mittlere Schreibtischschublade auf. Der Metallgriff ist ganz kalt. Unbeschriebenes Papier, Füllfederhalter. Ein Brillenetui. Mein Herzschlag beruhigt sich langsam wieder. Sie sind einfach alle gleich. Ich werde Blythe davon erzählen, wenn ich das nächste Mal mit ihr spreche.

  Aus der Küche dringt ein leises Lachen zu mir. Frenzy telefoniert noch. Ich ziehe die rechte Schublade auf. Darin befinden sich geschäftliche Unterlagen. Immobilienkram, Verträge, Pläne. Ich atme tief ein, fahre mir durch die Haare. Es ist alles in Ordnung.

  Die linke Schublade lässt sich nicht öffnen. Kurz denke ich, sie ist abgeschlossen, aber dann gibt sie doch nach. Das alte Holz hat sich einfach über die Zeit verzogen. Das schleifende Geräusch verrät mir, dass sie nicht oft geöffnet wird.

  Ganz oben liegt die Kopie von einem Vertrag oder so etwas Ähnlichem. Bei genauerem Hinsehen erkenne ich, dass es sich um eine Vollmacht handelt. Unterschrieben mit Hugo Reed. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Hugo seinem Sohn, den er nicht ausstehen kann, eine Vollmacht gibt. Noch dazu, wie ich lese, eine, die ihn befähigt, in Hugos Namen mit einer Immobilie zu verfahren. Ob Hugo in ernsten finanziellen Schwierigkeiten steckt und deswegen zu Faye und Victor gezogen ist? Ob Victor ihm geholfen hat? Das passt nicht zu dem Bild, das sich von diesem Kerl in meinem Kopf zusammengesetzt hat. Aber unmöglich ist es nicht.

  Unter der Vollmacht befindet sich ein weiterer Vertrag. Ich weiß, ich sollte hier nicht herumspionieren, aber der Nervenkitzel und meine Antipathie gegen Victor, ob er Hugo nun geholfen hat oder nicht, lassen meine Augen den Text überfliegen. Es ist ein Überschreibungsvertrag, wenn ich es richtig sehe. Und Vertragsgegenstand ist … dieses Haus! Unter dem Schriftsatz befinden sich drei Zeilen für Unterschriften. Victor und ein Notar haben bereits unterschrieben. Die Zeile, unter der Fayes Name steht, ist noch leer. Was zur Hölle?

  Doch ich habe nicht lange Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, was das zu bedeuten hat, denn meine Finger haben auf einmal ein Eigenleben entwickelt. Sie finden zwei weitere Bilder von Faye und ein sehr altes Foto einer anderen Frau. Victors Mutter? Und darunter – mein Herz setzt einen Schlag aus. Das kann nicht sein. Mein gesamter Körper summt, mir wird heiß und kalt zugleich. Ich ziehe das Bild hervor und lege es vor mich auf den Schreibtisch. Es besteht kein Zweifel, auf dem Bild ist Jasper.

  Einige Sekunden sehe ich das Foto einfach nur an, unfähig, mich zu rühren. Meine Gedanken überschlagen sich und stehen gleichzeitig komplett still. Victor ist Jaspers Vater. Victor war Blythes Schwiegervater. Dieses nach Zigarren und Whiskey stinkende widerliche Schwein, das seinen Sohn aus dem Haus gejagt hat. Dem sein Ruf und sein schmutziges Geld wichtiger waren als das Wohlergehen einer jungen Familie. Während meine Eltern das wenige, was sie hatten, mit Blythe, Jasper und Baby-Weston teilten, brach Victor Reed den Kontakt zu seinem Sohn ab, als hätte es ihn nie gegeben. Ich erinnere mich an einen Brief, den er an meine Eltern schickte.

  Bei Ihnen im Seventh Ward mag das ein freudiges Ereignis sein. Doch in unseren Kreisen ruiniert so etwas ein Leben. Das Leben meines Sohnes. Ihnen und Ihrer Tochter steht frei zu tun, was Sie für richtig halten. Doch lassen Sie meinen Sohn gehen, damit wenigstens seine Zukunft verschont bleibt.

  Als hätte meine Mutter nicht zuerst geweint, als ihre siebzehnjährige Tochter ihr von ihrer Schwangerschaft erzählte. Aber dann klatschte sie in die Hände und sagte: »Willkommen in der Familie, Jasper.«

  Ich saß neben Jasper auf dem Sofa, deswegen hörte ich, als er Blythe ins Ohr flüsterte: »Ich will dich heiraten, Blythe. Ich will, dass wir eine richtige Familie sind.« Daraufhin nickte sie, und ich wusste, dass alles gut werden würde.

  Jasper war dabei, als wir wenig später den abscheulichen Brief seines Vaters lasen.

  »Und was machen wir jetzt damit?«, fragte er. Und mein Dad, der schon immer einen Sinn für Pragmatismus hatte, erwiderte: »Wir werfen ihn ins Altpapier. Alles andere wäre melodramatisch und würde den Eindruck vermitteln, das hier hätte mehr Bedeutung als der Fliegenschiss auf dem Fensterbrett von Miss Laura gegenüber. Ein Junge wird es, sagt ihr? Das ist ja großartig. Wir wollten Link eigentlich Wesley nennen.«

  »Du wolltest ihn Wesley nennen. Ich war für Ashton«, sagte meine Mom.

  Blythe blickte zu Jasper. Sie gluckste leise. »Ich will ihn Weston nennen.« Sie strich sich über ihren Bauch, den man noch kaum sehen konnte. »Wenn das für dich okay ist?«

  All die Erinnerungen prasseln auf mich ein. Ich kann kaum atmen, so eng wird meine Kehle, während ich immer noch das Bild des ungefähr sechzehnjährigen Jasper betrachte. Mein Kopf schaltet auf Autopilot. Wie mechanisch lege ich das Foto zurück in die Schublade und schiebe sie zu. Dann stehe ich auf, gehe mit ein paar schnellen Schritten zur Tür. Im Wohnzimmer ist es so hell, dass meine Augen brennen. Ich atme ein und aus, ein und aus, doch den beißenden Geruch bekomme ich nicht aus der Nase. Es ist, als könnte meine Lunge sich nicht mehr ausdehnen.

  Im ersten Stock finde ich meine Hose, das ärmellose Shirt, das ich unter dem Hemd getragen habe. Während ich mich anziehe, konzentriere ich mich aufs Atmen. Ich habe keine Ahnung, wie ich wieder nach unten komme, wie ich in meine Schuhe schlüpfe oder die Haustür öffne. Frenzys Stimme aus der Küche dringt kaum an mein Ohr, in dem mein Blut so laut rauscht, dass ich durch diesen Klangnebel ohnehin nichts wahrnehmen kann.

  Ich gehe die wenigen Stufen hinunter und über die Steinplatten zum Tor. Dann stehe ich auf der Straße, lasse das Haus und all seine Geheimnisse hinter mir. Ich gehe ein paar Schritte. Auf der anderen Straßenseite steht mein Fahrrad, aber ich lasse es einfach zurück. Ich gehe und gehe. Und dann jogge ich. Es ist heiß und feucht. Und dennoch – ich beginne zu rennen. So schnell ich kann. Weiter und immer weiter. Bis ich die Mauer erreiche, hinter der die stillgelegten Streetcar-Schienen liegen.

  35

  Franzi

  »Franzi?« Hugo klopft an meine Tür
.

  »Was gibt’s?« Ich schalte den Ton meines Laptops leiser, auf dem gerade irgendein schnulziger Netflix-Film läuft.

  Meine Tür öffnet sich einen Spaltbreit, und der alte Mann steckt seinen Kopf in mein Zimmer.

  »Victor sagt, du sollst augenblicklich runterkommen. Keine Ahnung, was er hat, aber er tobt.«

  Ich runzle die Stirn. »Wie bitte?«

  »Er hat was von Regeln gesagt, an die man sich in seinem Haus zu halten hat. Irgendeinen Schwachsinn. Ich bin im Schuppen, wenn du mich brauchst.«

  Beinahe bin ich gerührt, dass Hugo mir seine Hilfe anbietet, doch ich glaube nicht, dass es nötig sein wird. Das muss ein Missverständnis sein. Das Letzte, was ich gerade brauche, ist ein schlecht gelaunter Victor. Dafür bin ich selbst viel zu wütend. Auf Link, auf die Tatsache, dass er mir das Wochenende ruiniert hat. Darauf, dass es ihn geschlagene fünf Stunden gekostet hat, mir wenigstens zu antworten, dass es ihm gut geht. Darauf, dass er ein rücksichtsloser, egoistischer Idiot ist, der in jedem Moment genau das tut, worauf er Lust hat, statt auch nur einmal an die Konsequenzen zu denken.

  Als ich die Treppe hinuntergehe, höre ich Victors Stimme bereits aus dem Wohnzimmer. Immer wieder versucht Faye, ihn zu beschwichtigen. Je näher ich dem Wohnzimmer komme, desto mehr kann ich verstehen.

  »… Vertrauen missbraucht!«

  »… Missverständnis sein.«

  »… mein Haus!«

  »… Erklärung.«

  »Ihr wolltet mich sprechen?«, frage ich und trete ein.

  »Setz dich, Liebes«, sagt Faye und klopft neben sich aufs Sofa. »Es scheint hier ein Missverständnis zu geben, das du sicher aufklären kannst.«

  Victor schnaubt. Sein Kopf ist hochrot und sieht aus, als würde er demnächst platzen. Wäre ich nicht selbst in einer Weltuntergangsstimmung, würde ich bei seinem Anblick vielleicht so etwas wie Furcht empfinden. Aber gerade überwiegt mein eigener Ärger.

 

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