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Charisma

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by Michael G. Coney


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  Michael G. Coney – Charisma

  Doppelgängers entsprach – wie ich hoffte –, über die Belebung des Hotels sprach.

  Dann traten wir in die Bar; Pablo und ich bestellten einen Scotch, während sich Bascus, der im Dienst war, für ein Cola entschied. William, der Barmann, wirkte verlegen, als er mich beiseite zog.

  »Es macht Ihnen hoffentlich nichts aus, diese Runde bar zu bezahlen, Sir«, sagte er leise. »Anordnung von Mr. Mellors. Tut mir leid.«

  Ich fummelte in meinen Taschen und stellte fest, daß ich ohne Geld nach Welt minus 6 gekommen war. Ich grinste William an.

  »Das geht in Ordnung«, versicherte ich ihm. »Halten Sie nur alles fest. Wir bestellen noch ein paar. Ich werde alles regeln, bevor wir gehen.« Nicht um’s Verrecken… Ich fragte mich nach dem Ausmaß des Streits, den mein Doppelgänger mit Mellors gehabt hatte. Es mußten unverzeihliche Worte gefallen sein.

  Bascus trank sein Cola rasch aus und zog eine Spoolette aus der Tasche. »Und jetzt, Mr. Maine, möchte ich, daß Sie mir alles erzählen, was Sie heute getan haben.«

  »Sie meinen, seit ich aufgewacht bin?«

  »Sagen wir, seit neun Uhr, als Sie diesen Streit mit Mr. Mellors hatten. Übrigens, wo ist Mr. Mellors?«

  »Das weiß ich wirklich nicht«, sagte ich ziemlich verärgert.

  Bascus übte, in welcher Welt er auch immer erschien, diese Wirkung auf mich aus. »Und ich weiß auch nichts von einem Streit. Wer hat Ihnen davon erzählt?«

  Bascus lächelte. »Ich bin immer für Offenheit, Mr. Maine. Das ist einer meiner Charakterzüge. Einer meiner Männer hat es mir berichtet, ein junger Mann, der es einmal weit bringen wird. Sie haben ihn auf dem Boot gesehen. Anscheinend sucht er Ihr Hotel häufig auf und ist mit Ihrem Portier befreundet – der Mann heißt Carter, wenn ich mich richtig erinnere. Mein Mann – er heißt Johnson, zu Ihrer Information – hat mir nun berichtet, daß Carter heute vormittag eine heftige Auseinandersetzung

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  zwischen Ihnen und Mr. Mellors mitgehört hat. Bei der übrigens auch von Ihrer Zukunft die Rede war. Um es mit Carters Worten auszudrücken, hat Mr. Mellors Ihnen gesagt, Sie sollten Ihren, ah, Arsch von hier fortbewegen und Ihre Schmarotzer, Blakesley und Orchard, mitnehmen.«

  »Das hast du mir nicht gesagt, John«, sagte Pablo besorgt.

  »Ist das wahr?«

  Ich saß in der Falle. Und als ob ich noch nicht genug am Hals hätte, wurde in diesem Augenblick die Tür aufgestoßen, und Mellors trat herein. Als er mich entdeckte, weiteten sich seine Augen und er schritt wütend auf mich zu.

  »Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen aus meinem Hotel verschwinden, Maine!«

  Ich blickte von einem zum anderen und fragte mich, was ich sagen sollte. Pablo sah ängstlich aus; wartete darauf, daß Mellors ihm erklärte, der Bootsverkauf sei gestorben. Bascus’

  Gesichtsausdruck war verschlossen, als er desinteressiert die Flaschen im Regal der Bar anblickte, zweifellos ein wenig enttäuscht, daß er nun einen konkreten Beweis dafür besaß, daß ich Mellors nicht abgeschlachtet und in Glasfiber einbalsamiert hatte. Mellors machte schmale Schweinsaugen und wartete auf meine Antwort.

  Ich nahm einen langen Schluck von meinem Scotch und lächelte sie alle an. Falls es jemals einen geeigneten Augenblick gegeben hatte, um mich abzusetzen, so war es dieser. Ich brauchte nicht zu bleiben und mir so etwas bieten zu lassen; ich gehörte nicht einmal in ihre Welt. Ihre Probleme gingen mich nichts an. Ich mußte beinahe lachen bei dem wunderbaren Gefühl von Verantwortungslosigkeit, den dieser Gedanke auslöste. Ich konnte tun, was ich wollte, sagen, was ich wollte, die Rezeptionistin vergewaltigen und dann einfach gehen.

  »Entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, sagte ich und warf einen Blick in Richtung Toilette. »Ich bin gleich wieder zurück.«

  Ich nickte allen zu und ging.

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  Schließlich, sagte ich mir, als ich leise kichernd in der warmen Toilette stand, den wärmenden Scotch im Bauch, gab es nichts Sinnvolles, das ich hier tun konnte. Ich hätte natürlich Pablo gerne geholfen, doch dieser Pablo war nicht der Pablo, den ich kannte. Er war eine Nachbildung, eine Fälschung. Seine Probleme gingen mich nichts an – selbst wenn sie parallel zu den Problemen des Pablo in meiner Welt verliefen. Und ich wußte, daß Mellors ihm niemals einen fairen Vertrag geben würde. Er mußte auf den Tod Mellors’ warten und dann mit Dorinda zu einem Abschluß kommen.

  Mein Trip war reine Zeitverschwendung gewesen, obwohl Stratton den Ablauf der Ereignisse zweifellos interessant finden würde. Von meinem Standpunkt aus gesehen, hatte ich jedoch überhaupt nichts erreicht. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, daß Mellors getötet werden würde, und bei dem Zustand des Bootes hatte ich mich nicht davon überzeugen können, ob meine Fischpistole noch an Bord war oder nicht.

  Es wurde Zeit, von hier zu verschwinden. Ich verließ die Toilette durch die rückwärtige Tür und bahnte mir einen Weg zwischen den leeren Kästen und Bierfässern, mit denen der kleine Hof vollgestellt war. Rechts befand sich das breite Tor, durch das die Lieferwagen hereinfuhren, links eine normale Tür, die zum Rasen und zum Ufer führte. Über mir war der Himmel, von dem noch immer Regen nieselte. Der Hof ist ein auf allen Seiten von Wänden eingeschlossenes Rechteck. Es führen keine Fenster zu den Abfällen aus Küche und Bar, und das ist gut so.

  Selbst die besten Hotels haben ihre Geheimnisse. Vorsichtig drückte ich die kleine Tür auf, sah niemand, und ging rasch über den schwammigen, durchnäßten Rasen zum Ufer.

  Mellors’ Boot war wie immer am Anleger festgemacht.

  Ich blickte zum Hotel zurück. In der Bar brannten die Lichter, und ich sah Mellors, Bascus und Pablo an der Theke stehen und trinken. Jetzt war auch Dick bei ihnen. Mellors machte eine zuschlagende Geste mit seiner rechten Faust – die emphatische Unterstreichung einer Bemerkung, die ich nicht hören würde.

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  Der Rasen des Falcombe Hotels endete hart am Flußufer, das bei diesem niedrigen Gezeitenstand acht Fuß tiefer liegt. Eine Reihe von Steinblöcken schützte Steilufer und Rasen vor Erosion, und ein am Ufer vertäutes Ponton gewährte Bootseignern bequemen Zugang zum Hotel. Ich stieg die kurze Eisenleiter hinab auf das Ponton.

  Kurz bevor das kurzgeschnittene Gras des Rasens mir die Sicht auf das Hotel nahm, sah ich Mellors in meine Richtung deuten.

  Bascus verließ die anderen und trat rasch zum Fenster.

  Dann schaukelte die Holzplattform unter meinen Schritten; ich löste das Bugtau des Bootes mit zitternden, ungeschickten Fingern und lief zum Poller, an dem die Heckleine belegt war.

  Der Ponton war naß und glitschig und mit einer grünen Algenschicht bedeckt. Plötzlich lag ich auf den Knien und schrie vor Schmerzen auf, als ich nach dem Holzpfosten griff, um meinen Sturz abzufangen. Ich riß an dem Tau, einem gordischen Durcheinander unverständlicher Knoten. Ich hörte Rufe vom Rasen. Als ich endlich die letzte Schlinge vom Poller löste und aufblickte, sah ich Bascus’ Kopf auftauchen.

  »Was, zum Teufel, haben Sie vor, Maine? Bleiben Sie stehen.

  Ich komme hinunter.«

  Immer noch auf den Knien warf ich meine Schulter gegen den Bootsrand und spürte, wie es durch die Strömung vom Ponton fortgetrieben wurde. Ich verlor das Gleichgewicht und begann auf das Wasser zuzurollen, das einen Fuß unter mir vorbeifloß.

  Ich griff empor, packte den Bordrand und zog mich im gleichen Augenblick ins Boot, als Bascus auf den Ponton sprang, auf dem glitschigen Holz ausrutschte, und auf dem Hintern landete, während das Boot abzutreiben begann, sehr langsam, zu langsam…

  Er blickte mich an, mit einem Ausdruck von Verblüffung, der seit dem Augenblick des Ausrutschens in sein Gesicht gemeißelt war, doch dieser Ausdruck veränderte sich sehr bald. Er sprang auf, und im gleichen Augenblick tauchte Mellors am Ufer auf.

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  »Was, zum Teufel, geht hier vor? Was haben Sie in meinem Boot zu suchen, Maine?« Me
llors wandte sich um und begann die Leiter hinabzusteigen.

  Inzwischen war der Bug des Bootes näher zum Ponton gedreht worden, und Bascus wartete, daß der Abstand sich noch weiter verringerte. Ich lief nach vorn, kroch über die kleine Kabine und erreichte das Vordeck in dem Moment, als der Polizist sprang.

  Bis jetzt hatte ich noch kein Gesetz gebrochen. Klar, ich versuchte, mich weiterer Verhöre durch die Polizei zu entziehen

  – aber zumindest wußte ich, daß ich nicht das geringste mit dem Tod des Mannes auf der Hausyacht zu tun hatte, auch wenn Bascus mich verdächtigte. Jetzt machte er seinen Verdacht sehr deutlich.

  »Damit kommen Sie nicht weit!« schrie er, als er vom Ponton zum Bug des Bootes sprang, es nicht ganz schaffte und sich mit den Händen an der Deckskante festkrallte, die Füße im Wasser hängend. Die Wucht seines Aufpralls hatte das Boot weit außerhalb der Sprungdistanz vom Ponton gedrückt, wo Mellors jetzt unentschlossen herumstand und zu mir herüberblickte.

  Bascus hing jetzt halb auf Deck, nachdem es ihm gelungen war, die kleine Ankerwinsch zu umklammern. »Kommen Sie her und helfen Sie mir!« rief er. »So kommen Sie nicht davon! Reißen Sie sich zusammen, Mann!«

  Und nun beging ich mein erstes Verbrechen auf Welt minus 6.

  Ich schritt rasch über das Vordeck und löste Bascus’ Hände mit zwei Fußtritten von der Winsch. Dann bückte ich mich, wobei ich darauf achtete, aus der Reichweite seiner Hände zu bleiben, packte ihn bei einer Schulter und rollte ihn vom Deck. Kurz gesagt, ich hatte einen Polizisten angegriffen.

  Er stieß einen erschrockenen Schrei aus, als er ins Wasser fiel.

  »Sind Sie verrückt geworden, Maine?« Mellors’ rhetorische Frage kam von einem sicheren Standpunkt auf trockenem Land.

  Ich sah Pablo am Ufer stehen und grinsen. Das Boot war jetzt fünfzehn Fuß vom Ponton entfernt, und Bascus schwamm mit energischen Bewegungen auf Mellors zu. Mellors streckte ihm die

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  Hand entgegen, und kurz darauf stand Bascus neben ihm, starrte in ungläubiger Wut zu mir herüber und tropfte vor Wasser.

  Die einlaufende Flut trieb mich flußaufwärts in das Hauptbassin des Hafens. Mit einem dumpfen Laut stieß das Boot gegen die erste von Pablos Hausyachten, die in einer Reihe parallel zum Ufer verankert lagen. Ich machte das Boot fest, dann stieg ich unter Deck und drückte auf den Startknopf. Die Turbine hustete einmal, war dann tot. Ich versuchte es noch einmal mit dem gleichen Resultat. Das feuchte Wetter hatte das elektrische System des Bootes lahmgelegt. Ich spürte eine nervöse Übelkeit in meinem Magen. Ich konnte voraussehen, daß ich hier hängenbleiben würde, bis Bascus sich ein Boot lieh, längsseits kam und mich abführte.

  Das Boot lag nur etwa vierzig Fuß von Bascus und Mellors entfernt; als ich aufblickte, um zu sehen, was sie taten, winkte Mellors heftig mit beiden Armen. Ein Boot kam auf den Hafen zu, eine große Yacht, deren dumpf klingende Turbine große Kraftreserven verriet. Der Mann am Ruder bemerkte Mellors und änderte den Kurs, auf das Ufer zu. Er drosselte die Turbine noch weiter, während ich immer wieder auf den Startknopf drückte, und ich hörte unverständliche Rufe zwischen dem Ponton und der etwa sechs Fuß entfernt liegenden Yacht.

  Man kam sehr schnell zu einem Entschluß, die Yacht schloß die Lücke zum Ponton, und Bascus und Mellors wurde an Bord geholfen. Pablo sprang sofort nach ihnen an Deck. Zumindest hatte ich einen Freund im gegnerischen Lager.

  Die Turbine des Bootes rülpste, und während mein Daumen vom ständigen Drücken weiß wurde, begann sie kräftig zu surren. Ich riß das Seil von der Hausyacht los, drehte das Rad hart nach Backbord und richtete den Bug stromauf, während hinter mir die schwere Yacht langsam drehte, weiß und mit glänzendem Stahl, stark und unbesiegbar. Bascus und Mellors standen auf der Brücke und blickten zu mir herab. Mellors lächelte. Ich hatte einen Vorsprung von etwa fünfzig Fuß. Nach hundert Yards würden sie mich eingeholt haben.

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  Ich fuhr an der Reihe der Hausyachten entlang, und als ich die letzte erreichte, war die Distanz halbiert. Ich fuhr einen engen Bogen um das letzte Boot, drehte voll auf und raste auf der anderen Seite seewärts, die Reihe der Hausyachten zu meiner Rechten. Es war lächerlich. Ich konnte mich schließlich nicht ständig um diese Boote herumjagen lassen, bis es dunkel wurde.

  Sie passierten mich auf der anderen Seite, in die andere Richtung fahrend, und starrten von der Brücke über eine Hausyacht hinweg zu mir herab. Ich hatte bei der Wende etwas Vorsprung gewonnen; die Yacht war mehr als doppelt so lang wie das Boot und längst nicht so wendig.

  Das gab mir eine Idee. Als sie eine weite Kehre gefahren waren und mir zu folgen begannen, änderte ich den Kurs und raste quer über den Fluß. Ich scheuchte Möwen auf, als ich an den Fahrwasserbojen vorbei in das gefährliche, mit Felsen und Riffen durchsetzte Gewässer am Ostufer einbog. Die Yacht blieb mir auf den Fersen, doch jetzt erheblich langsamer. Nachdem sie diagonal über den Fluß gesetzt hatte, blieb sie nun auf gleicher Höhe mit mir, doch im sicheren, tiefen Wasser, während ich weiter seewärts fuhr. Für die nächsten Minuten war ich sicher.

  Während ich das Boot an Felsen vorbeisteuerte, blickte ich zur Yacht hinüber und sah ihren Eigner in ernsthafter Diskussion mit Bascus. Anscheinend erklärte er dem Polizisten, daß er nicht daran denke, sein Boot um der zweifelhaften Ehre willen, dem Gesetz zu dienen, in Gefahr zu bringen.

  Diese Vorstellung führte zu einer neuen Idee, während ich das Boot an den scharfen Felsen in der Nähe des Ufers vorbeisteuerte. Die Flut lief ein, doch würde es noch eine ganze Weile dauern, bis das Wasser tief genug war, um die Bank in der Flußmündung passieren zu können. Jedenfalls für einen Menschen, der noch alle fünf Sinne beisammen hatte. Jedenfalls für einen Menschen, der sein eigenes Boot steuerte…

  Wir passierten die Stelle, wo die beiden Landzungen von ihrer dunklen Höhe drohend herabblicken und die Flußmündung zu einem engen Schlauch zusammenpressen, und dann war ich in der offenen See. Die Yacht hatte mich überholt, um mir den Weg

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  abzuschneiden, sobald ich tieferes Wasser erreichte. Ich legte das Ruder hart Steuerbord.

  Es gab eine ziemliche Aufregung auf der Brücke der Yacht, als ich hart hinter ihrem Heck vorbeischoß und direkt auf die weite Fläche unruhiger See zuhielt, die die Sandbank markierte. Ich blickte zurück, sah die Yacht herumschwingen und glaubte schon, sie würde mir folgen. Doch dann senkte sich ihr Bug, als der Mann am Ruder mit der Fahrt herunterging und, wie ich vermutete, Bascus erklärte, daß es ihm jetzt reiche.

  Dann war ich über der Sandbank.

  Ich hatte bereits einige unangenehme Erfahrungen in flachen Gewässern hinter mir, hier in Falcombe und an anderen Orten.

  Erst vor wenigen Wochen hatte ich dieselbe Strecke – den Kanal um die östliche Sandbank – gerade so geschafft, und ein Begleiter, der auf das Wasser blickte, hatte bemerkt: »He, John, es scheint hier etwas flach zu sein.« Daraufhin hatte auch ich über Bord geblickt und goldenen, von den Wellen gerippten Sand gesehen, zwei oder drei Seesterne, herausragende Felsen, eine Bierdose, deren Beschriftung ich lesen konnte… Alles ungefähr drei Fuß unter der Oberfläche, alles darauf lauernd, das Boot festzuhalten, die Schraube zu zerbrechen und mit Hilfe der trügerisch leichten Dünung ein paar Löcher in den dünnen Glasfiberrumpf zu schlagen.

  An diesem Tag war die See jedoch so rauh, daß die Lage der Sandbank selbst von dem unerfahrensten Seemann erkannt werden konnte, eine wogende, unruhige, fahlgrüne Fläche in Form eines Dreiecks, die hier, an ihrer breitesten Stelle, etwa eine Viertelmeile messen mochte. Und ich raste in Mellors’ Boot über sie hinweg.

  Ich weiß nicht, wie oft der Kiel über Sand und Felsen scharrte.

  Ich weiß nur, daß ich ständig eines dachte: Wenn es mir möglich gewesen wäre, auf eine von Pablos Hausyachten hinüberzuwech-seln, an denen ich zuvor festgemacht hatte, wäre dies alles nicht passiert. Immer wieder schlug der Kiel auf Grund, während ich durch das aufgewühlte Wasser raste, und immer wieder,
wenn

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  ich voraus starrte, um eine etwas tiefere Rinne zu finden, teilten sich die Wellen wie das Rote Meer, und ich sah nackten Sand.

  Ich zitterte am ganzen Körper, und mein Kiefer schmerzte, weil ich ständig die Zähne zusammenbiß. Immer wieder redete ich mir zu, daß keine wirkliche Gefahr bestünde. Wenn das Boot endgültig festlaufen oder sogar auseinanderbrechen sollte, brauchte ich nur in hüfttiefes Wasser zu springen, zur Flußmündung zurückwaten, mich ins tiefe Wasser fallen zu lassen und von der einlaufenden Flut nach Falcombe zurücktreiben zu lassen. Es würde zwar kalt sein, aber eine Gefahr bestand nicht.

  Wieder blickte ich zurück. Anscheinend hatte der Besitzer der Yacht Bascus gesagt, er solle sich zum Teufel scheren. Ich sah das weiße Heck zwischen den Landzungen verschwinden. Doch jetzt hatte ich bereits die Mitte der Sandbank erreicht und konnte genau so gut weitermachen.

  Es bestand keine Gefahr. Das Boot würde zwar langsam in Stücke geschlagen werden, doch es bestand keine Gefahr. Ich öffnete einen Kasten, nahm eine Schwimmweste heraus und legte sie an. Nein, es bestand keine Gefahr, doch niemand, der sich Wassersportler nennt, hat es gern, wenn ein Boot unter ihm in Stücke geschlagen wird, selbst wenn es jemand wie Mellors gehört. Um das Boot hatte ich Angst, nicht um mich.

  Und endlich war ich durch, und das Boot war noch immer intakt. Die See wurde plötzlich ruhiger, die Färbung des Wassers wechselte von ocker zu graugrün, und ich fuhr auf die Uferklippen zu, mit Kurs auf die Starfish Bay.

  Nach kurzer Suche entdeckte ich eine Flasche Johnny Walker in dem Kasten.

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  ICH HATTE PSYCHOLOGISCHE Schwierigkeiten erwartet, wenn ich das Boot aufgab. Die Vorstellung, in der Starfish Bay an Land zu springen und es zwischen den Felsen eingeklemmt zurückzulas-sen, bis der Wind umsprang und die Brecher es zu Kleinholz zerschlugen, gefiel mir überhaupt nicht.

 

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