Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition)

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Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition) Page 14

by Bianca Iosivoni

»Komm schon …«

  Warnend hob sie den Finger. »Sag es nicht.«

  »Let it gooo! Let it goooooo!«

  Grace vergrub das Gesicht in den Händen, während meine Stimme den Raum füllte. Aber sie überraschte mich. Obwohl ihre Wangen glühten, fiel sie mit ein und sang den Refrain mit. Nicht zögerlich, nicht beschämt, sondern aus voller Kehle, ein bisschen schief und voller Inbrunst.

  Als sich das Lied seinem Ende entgegen neigte, spielte ich einfach weiter. Ohne nachzudenken, wechselte ich zum ersten Song, der mir einfiel und der zum Rhythmus des vorherigen passte.

  Grace blinzelte verblüfft. »Erst Let it Go und jetzt Taylor Swift?«

  Ich zuckte mit den Schultern, während ich einen von Taylors größten Hits zum Besten gab. »Was soll ich sagen? Dylan hat einen schlechten Einfluss auf mich.«

  Sie gluckste leise. »Kannst du auch was Älteres?«

  Problemlos wechselte ich zu No Woman, No Cry von den Fugees. Diesmal brauchte Grace etwas länger, um den Song zu erkennen, aber als es so weit war, gab sie mir einen Klaps gegen die Schulter.

  »Hey, das ist nicht nett!«

  Grinsend spielte ich weiter. »Was hättest du denn gern? Aretha Franklin? Ben E. King? The Rolling Stones?«

  »Überrasch mich.«

  Kurz überlegte ich, dann spielte ich die ersten langsamen Akkorde eines Lieds und schmetterte Runaround Sue von Dion los. Grace starrte mich einige Atemzüge lang an, dann flackerte so etwas wie Erkenntnis in ihrem Blick auf. Diesmal sang sie zwar nicht mit, übernahm jedoch den ehrenvollen Part, im Takt zu klatschen, da wir gerade keinen Drummer hier hatten. Nur beim Refrain fiel sie mit ihrer warmen Mezzosopranstimme mit ein. Die anderen Instrumente fehlten, trotzdem bekamen wir den Song ganz gut hin. Aber vor allem machte es Spaß und schien Grace von ihren Sorgen abzulenken. Und nur darauf kam es an.

  Als ich es übertrieb und ein paar Oktaven höher ging, versuchte Grace mitzuziehen, musste dann jedoch husten.

  »Sorry.« Ich legte die Gitarre beiseite und streckte mich nach meiner Flasche. »Hier.«

  »Was ist das?« Sie roch daran und zog die Nase kraus, was irgendwie niedlich aussah.

  »Selbst gemachter Eistee. Die Spezialmischung meiner Nonna, mit viel Honig und garantiert mehr Koffein als in jedem Energydrink.«

  Grace beäugte das Getränk skeptisch, nippte jedoch probehalber daran.

  »Und …?«

  »Das … schmeckt echt gut.«

  Ich nickte entschieden. »Nichts geht über Nonnas Eistee. Ich nehme mir immer welchen mit, wenn ich daheim bin. Was meinst du, wie ich die Semesterprüfungen überlebe?«

  Sie hielt den Eistee in die Höhe. »Mit diesem Zeug?«

  »Nenn es nicht Zeug.« Ich nahm ihn wieder an mich und strich zärtlich über die Flasche. »Hör nicht auf sie. Du bist mein Seelentröster, Wachmacher, Mutzusprecher und mein ständiger Begleiter seit Jahren. Wenn alles andere versagt, bist du immer für mich da.«

  Grace prustete los. Es tat gut, sie wieder lachen zu sehen, auch wenn ihre Augen noch immer vom Weinen gerötet waren und etwas Defensives, etwas Geschlagenes in ihrem Blick war, das zuvor nicht da gewesen war. Und wofür ich ihrem Drecksack von Exfreund am liebsten eine reingehauen hätte. Weil sie das nicht verdient hatte. Grace war großartig. Sie war mitfühlend, rücksichtsvoll, diszipliniert, wunderschön, ambitioniert und hatte eine erfrischend direkte Art, die viel zu selten zum Vorschein kam. Sie hatte jemanden verdient, der sie auf Händen trug und jede einzelne Sekunde in ihrer Gegenwart genoss. Nicht jemanden, der sie bei der erstbesten Gelegenheit mit einem Cheerleader betrog. Mann, was für ein Arschloch!

  Wortlos hielt ich ihr die Flasche hin, und sie nahm noch einen Schluck vom Eistee. »Besser?«

  Sie nickte und starrte einen Herzschlag lang geradeaus, bevor sie sich mir wieder zuwandte. »Früher habe ich viel mehr gesungen. Ich konnte die höchsten Töne ohne Probleme treffen und halten.«

  »Früher …?«, hakte ich zögerlich nach.

  Ein bitteres Lächeln. »Kurz nach meinem Highschool-Abschluss hab ich etwas ziemlich Dummes getan. Ich war auf einer Halloweenparty, hab zu viel getrunken und bin ins Auto gestiegen. Es gab einen Unfall.« Ihre Stimme zitterte. Noch während sie sprach, strich sie sich das Haar zur Seite und deutete auf eine mehrere Zentimeter lange Narbe an ihrer linken Schläfe, die mir bisher tatsächlich nicht aufgefallen war. »Das ist von damals. Ich erinnere mich kaum noch daran, was sie mit mir gemacht haben oder wie schlimm es wirklich war, aber dafür noch sehr genau daran, wie enttäuscht meine Mom und meine Schwester von mir waren. Dann haben sich auch noch meine Stimmbänder durch den Schlauch, mit dem sie mich im Krankenhaus beatmen mussten, entzündet. Dysphonie nennt man das. Es hat ewig gedauert, bis alles abgeheilt war, aber meine Stimme war danach nicht mehr dieselbe.«

  »Wolltest du deshalb gar nicht erst in der Band singen?«

  Sie sah mich nicht an, nickte aber. »Deshalb auch, ja.«

  Ich wartete auf den anderen Grund, aber was auch immer er war, Grace schien ihn mir nicht mitteilen zu wollen. Und obwohl es mich brennend interessierte, würde ich sie nicht drängen. Weil es keine Rolle spielte. Was auch immer Grace zurückgehalten hatte, sie schien es überwunden zu haben. Zumindest so weit, dass sie mit uns proben konnte. Sogar wenn ein, zwei Zuschauer dabei waren. Wie es bei einem richtigen Konzert sein würde, blieb noch abzuwarten.

  Unser nächster Auftritt würde entscheidend sein. Nicht nur für Grace, was ihre Ängste anging, sondern auch für jeden Einzelnen von uns. Ich hatte den anderen nichts davon gesagt, aber wir hatten eine verflucht gute Chance, für einen landesweiten Wettbewerb ausgesucht zu werden. Jemand von der Plattenfirma, die den Contest ins Leben gerufen hatte, würde zu unserem nächsten Gig kommen und mir anschließend die Entscheidung mitteilen. Ich hatte den anderen nichts erzählt, weil ich sie nicht nervös machen wollte. Aber vor allem wollte ich keine falschen Hoffnungen wecken. Pax war in seinem letzten Jahr und hasste die Aussicht darauf, sich nach seinem Abschluss einen stinknormalen Job suchen zu müssen. Er wollte mit der Musik weitermachen, am liebsten in unserer Band, aber das war unmöglich, außer … außer wir nahmen an diesem Wettbewerb teil und gewannen. Dem Sieger winkte ein Plattenvertrag, mehrere Auftritte als Vorgruppe bekannter Bands, die bei dem Label bereits unter Vertrag waren, und eine ziemlich hohe Geldsumme.

  Ich hatte keine Ahnung, was uns die Zukunft bringen würde, aber ich wusste, dass ich es für den Rest meines Lebens bereuen würde, wenn wir diese Chance nicht nutzten. Und falls wir es tatsächlich unter die ausgewählten Teilnehmer schafften, war immer noch genug Zeit, um den Jungs davon zu erzählen. Und Grace natürlich. Für einen kurzen Moment dachte ich daran, ihr alles zu gestehen, allerdings machte es einfach noch keinen Sinn. Im schlimmsten Fall vergraulte ich sie damit, obwohl wir sie doch gerade erst als Sängerin hatten gewinnen können. Und vielleicht würden wir es sowieso nicht bis in die Auswahlrunde schaffen, und dann hätte ich sie völlig umsonst nervös gemacht …

  »Hey«, sagte sie und musterte mich fragend von der Seite. »Jetzt bist du ganz weit weg.«

  »Nur in Gedanken bei unserem nächsten Auftritt. Und dabei«, fügte ich einem Impuls folgend hinzu und deutete mit dem Kinn auf die ganzen Notenblätter und Zettel mit Songtexten, die wir beide bisher ignoriert hatten.

  Grace beugte sich vor und hob ein paar davon auf. Unbewusst hielt ich den Atem an. Ich hatte keine Ahnung, warum ich ausgerechnet ihr davon erzählte und sogar zuließ, dass sie sich die halb fertige Arbeit ansah, obwohl ich sie bisher niemandem gezeigt hatte. Vielleicht, weil ich aus unseren gemeinsamen Kursen wusste, dass sie objektiv und fair sein würde. Selbst wenn sie mich nicht ausstehen könnte, würde sie die Musik völlig neutral angehen und sich bei ihrer Beurteilung nicht davon beeinflussen lassen. Vielleicht sprach ich das Thema aber auch aus dem Grund an, weil ich dringend etwas Hilfe gebrauchen könnte. Und ich war nicht zu stolz, das offen zuzugeben.

  »Das ist nicht schlecht«, murmelte sie nach einer Weile.

  Ich schn
aubte. »Nicht schlecht im Sinne von Scheiße? Nur in Nett ausgedrückt?«

  »Sei keine Diva.« Grace hob auch die restlichen Zettel auf und breitete sie vor sich auf der Bühne aus, dann setzte sie sich wieder, schob den Saum ihres Kleids zurecht und betrachtete meine kläglichen Versuche, so etwas wie Musik zu produzieren. »Hast du auch Aufnahmen davon?«

  Ich zögerte, verpasste mir dann aber gedanklich einen Tritt. »Warte kurz.«

  Ich stand auf und holte meinen iPod aus dem Rucksack. Meine Hände waren feucht, als ich das richtige Lied heraussuchte, dennoch kehrte ich damit zu Grace zurück und setzte mich neben sie.

  »Hier. Hör dir das an.« Ich hielt ihr den linken Kopfhörer hin.

  Einen Moment lang sah sie mich nur an, dann nahm sie den Stecker und schob ihn sich ins Ohr. Ich tat dasselbe und drückte auf Play.

  Die ersten Klänge ertönten, aber das Hämmern in meiner Brust übertönte fast jeden Ton. Zum allerersten Mal zeigte ich jemandem meine Arbeit. Jemandem, der Ahnung von Musik hatte. Jemandem, der konstruktive Kritik äußern würde. Obwohl Grace und ich uns nicht besonders gut kannten, wusste ich mittlerweile, dass sie nie mit ihrer Meinung zurückhielt, wenn es darauf ankam. Sie war nie gemein, aber immer ehrlich.

  Das Lied begann zunächst nur mit langsamen Gitarrenklängen im Stil von Ben E. Kings Stand By Me, dann setzte der Gesang ein. Alles in einem ruhigen Rhythmus, der auf den Refrain hinarbeitete, in dem das Tempo schlagartig anzog. Während ich meinem eigenen Song lauschte, betrachtete ich Grace von der Seite. Ihr Blick wanderte nicht herum, sondern fixierte einen Punkt auf dem Boden, ihre Augen waren halb geschlossen und … sie lächelte. Oh verdammt, sie lächelte tatsächlich. Vor Erleichterung sanken meine Schultern herab, auch wenn das Pochen in meinem Brustkorb nicht abnahm.

  »Und …?«, fragte ich zögerlich, nachdem die letzten Töne verklungen waren. »Was denkst du?«

  »Die Musik ist toll. Sehr eingängig.« Sie wippte im Takt, als würde der Song noch immer in ihrem Kopf nachhallen. »Ich liebe es, wie es erst mit dem Refrain so richtig losgeht. Aber der Text passt noch nicht ganz.«

  Ich verzog das Gesicht. »Ich weiß. Komponieren liegt mir definitiv mehr als Lyrics.«

  »Und das von dem Kerl, der sich so viele davon auf den Arm hat tätowieren lassen.«

  Verblüfft sah ich auf besagten Arm, dann zurück zu Grace. »Woher weißt du, dass das Songtexte sind?« Die Schrift war klein, teilweise schon etwas verblasst und an anderen Stellen zu geschwungen, um sie sofort lesen zu können. Es sei denn, man kam ganz nahe heran und ließ sich Zeit damit, die Wörter zu entziffern.

  Grace deutete auf mich. »Da sind ein riesiger Violinschlüssel und lauter Noten auf deinem Arm. Du lebst und atmest für Musik. Was sollte die Schrift sonst darstellen, wenn nicht Lyrics?«

  Ich kam nicht gegen das Lächeln an, das sich auf meinem Gesicht ausbreitete. Sie verstand es. Sie verstand es, weil Musik ein ebenso großer und wichtiger Teil in ihrem Leben war wie in meinem. Andernfalls hätte sie das Singen nach ihrer Stimmbandverletzung aufgegeben und sich nie wieder an ein Mikrofon gestellt. Erst recht nicht, wenn sie keine hohen Töne mehr wie früher im Sopran schaffte und bei jedem Versuch husten musste. Sie hätte niemals ein Hauptfach belegt, bei dem sie ständig auf der Bühne stand. Und ganz sicher hätte sie sich nie dazu entschieden … okay, vielleicht eher überreden lassen, die Leadsängerin in einer Collegeband zu werden.

  Während ich noch in Gedanken war, wühlte Grace sich bereits durch die vielen Zettel. »Kannst du noch mal auf Anfang gehen?«, fragte sie und tippte sich auf den Knopf in ihrem linken Ohr. Kurz darauf lauschten wir erneut der Melodie. »Wie wär’s, wenn du das umdrehst?« Sie schrieb etwas unter die erste Strophe. »So würde die Singstimme mit dem Tempo mithalten können, statt sich an den vielen Silben zu verzetteln. Oder du streichst dieses Wort hier«, schlug sie vor und biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. »Dann harmonieren die beiden Textzeilen aber nicht mehr. Hmm …«

  Ich konnte nicht anders, als sie fasziniert dabei zu beobachten, wie sie die Bruchstücke, die ich aufs Papier geworfen hatte, hin und her schob, um etwas Ganzes daraus zu machen.

  »Entweder musst du den Text etwas kürzen oder einen Sänger finden, der das Tempo auch schafft. Die Musik ist wunderschön und ab dem Refrain so schnell, das würde ich nicht ändern, aber so wie die Lyrics jetzt sind, funktioniert es nicht.« Als ich noch immer schwieg, hob sie den Kopf und blinzelte überrascht. »Oh. War das zu direkt? Tut mir leid, ich wollte es nicht zerfetzen, sondern nur …«

  »Nein«, fiel ich ihr sofort ins Wort. »Ich bin nur … ein bisschen sprachlos.«

  »Wie bitte?« Ungläubigkeit und dann Belustigung zeigten sich auf ihrem Gesicht. »Mason Lewis ist sprachlos?«

  »Merk es dir gut, denn das wird nie wieder passieren.« Ich grinste. »Aber jetzt mal ganz im Ernst. Danke. Ich sitze seit Ewigkeiten an dem Text und komme einfach nicht voran.«

  »Manchmal hilft ein Blick von außen. Und ich mag den Song schon jetzt sehr.«

  »Er ist von ein paar alten Rockklassikern inspiriert.«

  »Ich weiß.« Sie lächelte, seufzte dann jedoch und stand plötzlich auf. »Und ich hab dich schon lange genug belästigt. Ich sollte gehen.«

  Ich schüttelte den Kopf, legte die Gitarre beiseite und richtete mich ebenfalls auf. »Du störst nicht und hast mich ganz sicher auch nicht belästigt. Das würdest du nie.«

  Unsere Blicke trafen sich für einen Moment, und ich spürte ein merkwürdiges Ziehen in der Brust. Dann breitete sich ein kleines, fast überrascht wirkendes Lächeln auf ihrem Gesicht aus. »Danke.«

  »Wofür?«

  »Fürs Ablenken. Und dafür, dass du keine Fragen gestellt hast.«

  Ich wippte auf den Fußballen auf und ab. »In dem Fall muss ich mich bedanken. Du hast mir wirklich weitergeholfen.«

  »Ich habe nur das ergänzt und aufpoliert, was schon da war.«

  »Wow – und jetzt auch noch so bescheiden. Kann man dich heiraten?«

  Sie lachte auf und gab mir, an der Tür angekommen, einen kleinen Schubs. »Gute Nacht, Mason.«

  »Nacht.« Ich sah ihr schmunzelnd nach, als sie den Proberaum verließ, und dann auch noch ein paar Sekunden länger, als sie längst aus meinem Blickfeld verschwunden war. Erst dann kehrte ich zu meiner Gitarre und dem angefangenen Song zurück.

  Grace

  Die Welt war nicht wieder in Ordnung, nur weil ich die letzte Stunde bei Mason im Proberaum verbracht hatte. Nichts davon änderte etwas an dem, was geschehen war. Daniel hatte mich betrogen. Er hatte mich angelogen und hintergangen. Der Gedanke tat weh, aber die Erinnerung an seinen ertappten Gesichtsausdruck und seine Erklärungsversuche waren noch schmerzhafter. Am schlimmsten war jedoch, dass ein Teil von mir nicht einmal überrascht war. Wieder mal hatte ich nur den Platz bekommen, den ich immer bekam. Ich war eben nur die zweite Wahl. Wie für meine Eltern, meine Freunde, alle anderen Männer in meinem Leben.

  Dad hatte schon früh das Interesse an seinen beiden Töchtern verloren, und ganz egal, wie sehr ich mich anstrengte, wie gut meine Noten waren und wie perfekt ich mich verhielt, er war trotzdem immer seltener zu Hause gewesen. Und Mom? Mom war so lange auf Gillian fixiert gewesen, dass ich mich schon längst daran gewöhnt hatte, wenn sie vergaß, mich irgendwo abzuholen oder mir eine Bescheinigung für die Schule zu unterschreiben. Erst als Gillian ausgezogen und aufs College gegangen war, hatte sie sich plötzlich ganz allein auf mich konzentriert – und ich hatte es genossen, hatte in ihrer Aufmerksamkeit geschwelgt und mich dabei selbst verloren. Und Stephen, mein damaliger Freund? Er hatte mich öfter betrogen, als ich zählen konnte, aber ich hatte es nie wahrhaben wollen. Nicht einmal dann, als er Emery in der Cafeteria angegrapscht und sie ihm ihr Knie zwischen die Beine gerammt hatte. Aber ich hatte sowieso nie an erster Stelle für ihn gestanden. Und auch bei Daniel war ich immer nur die Nummer zwei nach seinem Sport gewesen – und jetzt auch noch nach dem kleinen Abenteuer mit dieser Cheerleaderin.

  Seufzend fuhr ich mir über das Gesic
ht und dachte zu spät daran, dass ich damit höchstwahrscheinlich alles an Make-up verteilte, was ich nach diesem Tag noch trug. Allerdings war das vermutlich schon passiert, als ich mich an Masons Schulter ausgeweint hatte. Wahrscheinlich sah ich furchtbar aus. Völlig aufgedunsen, mit roten Augen und verschmiertem Mascara.

  Hastig wischte ich mir die schwarzen Spuren unter den Augen weg und tastete dann nach meinem Handy. Aber ich fand es nicht. In meiner Tasche war alles Mögliche, von einer halb leeren Wasserflasche über ein Notizbuch, Taschentücher, Halsbonbons und einem Halstuch bis hin zu Schminkutensilien für unterwegs. Aber kein Smartphone.

  Ich hielt inne. Hatte ich es im Proberaum liegen gelassen? Oder schon früher verloren? Heute Nachmittag bei Myung-hees Familie? Nein, das konnte nicht sein. Ich wusste noch genau, wie ich aus Daniels Wohnheim gestürmt und kurz davor gewesen war, Emery anzurufen. Also musste ich es da noch gehabt haben. Womit nur noch der Proberaum übrig blieb.

  Sofort machte ich auf dem Absatz kehrt und rannte den Weg zurück. Oh Gott, war Mason noch da? Oder hatte er für heute Schluss gemacht und den Raum abgeschlossen? Wenn ich ihn nicht rechtzeitig fand, würde ich bis Dienstag nach dem Labor Day ohne Handy sein. Und das kam absolut nicht infrage.

  Es war noch einigermaßen hell, obwohl die Sonne schon untergegangen war und die ersten Sterne bereits am Himmel funkelten. Ich riss die Tür zum PAC auf und folgte dem langen Gang, der zu den Proberäumen führte. Meine Schritte hallten von den Wänden wider. Zumindest, bis ich mich unserem Proberaum näherte, denn auf einmal übertönte Musik alle anderen Geräusche. Kurz blieb ich irritiert stehen, da ich das Lied nicht sofort erkannte und wir in der Band eigentlich nur bekannte und einigermaßen aktuelle Songs performten. Trotzdem kamen mir die Melodie und die Stimme auf seltsame Weise bekannt vor, obwohl es definitiv nicht Mason war, der da sang.

  Zögerlich ging ich weiter, bog um die Ecke – und blieb so abrupt in der offenen Tür stehen, als wäre ich gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen.

  Die Soundanlage war laut aufgedreht und die tiefe Stimme eines Mannes hallte durch den Raum. Aber der Oldie, der mir bekannt vorkam, war nicht das Erschreckende an der Szene, sondern Mason. Er sang nicht dazu, er spielte auch keine Gitarre oder arbeitete konzentriert an seinen Songtexten, sondern hatte mir den Rücken zugewandt und … tanzte? Falls man diese Bewegungen überhaupt so bezeichnen konnte. Jetzt erkannte ich auch den Song: Cry to Me. Der Name des Sängers wollte mir zwar nicht einfallen, aber ich war mir ziemlich sicher, das Lied schon mal bei einem Tanzfilm gehört zu haben. Gut möglich, dass es aber auch auf einer von Dads alten Platten war, denen er früher so gerne gelauscht hatte.

 

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