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Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition)

Page 16

by Bianca Iosivoni


  »Du hast gesagt, du magst Swing. Hoffentlich auch die moderne Variante.« Ich zog sie zu mir und legte die freie Hand auf ihren unteren Rücken. Im ersten Moment wirkte Grace verblüfft, dann erhellte sich ihr Gesicht, als sie das Lied erkannte, und ein Leuchten trat in ihre Augen.

  Wir begannen mit einer einfachen Schrittkombi, die ihr vertraut sein sollte, dann begann ich etwas zu variieren. Die meiste Arbeit bei diesem Tanzstil steckte in den Beinbewegungen. Aber wenn man ein paar Kombinationen draufhatte, waren die Variationsmöglichkeiten unendlich. Und sie machten höllisch Spaß.

  Diesmal versteifte Grace sich nicht und stolperte auch nicht über ihre hohen Schuhe, sondern ging ganz in der Musik auf und strahlte übers ganze Gesicht. Unwillkürlich hielt ich den Atem an. Sie war vorher schon schön gewesen. Schöner, als erlaubt sein sollte. Aber jetzt? So entspannt, mit einem Lächeln auf den Lippen und in diesem Rock, der bei jeder Drehung herumwirbelte, als wären wir in einem dieser alten Tanzfilme, die sich Mom so gerne anschaute? In diesem Moment war sie atemberaubend. Noch viel mehr, weil sie sich völlig in meine Hände begab und mich führen ließ, selbst wenn ich von den Standardschritten abwich, damit sie sich daran gewöhnen konnte, auch mal ganz ohne Regeln zu tanzen.

  Als ich sie diesmal wieder an mich zog, trafen sich unsere Blicke – und mir stockte der Atem. Ausgerechnet jetzt musste ich an diesen verdammten Kuss zurückdenken. Es war Monate her, war noch vor den Semesterferien gewesen und sollte längst in Vergessenheit geraten sein. Doch nun traf mich die Erinnerung an diesen einen Abend mit voller Wucht.

  Ich wusste noch genau, wie weich ihre Lippen gewesen waren. Sie hatten nach der Limonade geschmeckt, die sie den Abend über getrunken hatte, und nach Lipgloss. Aber da war noch etwas anderes gewesen. Eine ganz eigene Note. Ganz Grace. Ich erinnerte mich an ihren warmen Atem in meinem Gesicht. Aber vor allem war mir dieser kleine Laut, halb Seufzen, halb Wimmern, im Gedächtnis geblieben. Ich schloss unweigerlich die Augen, als ich daran zurückdachte. Damals war ich Single gewesen, also gab es keinen Grund, deswegen ein schlechtes Gewissen zu haben. Ich hatte diesen Kuss genossen und würde ihn sofort wiederholen, wenn ich könnte.

  Oh, wow. Ich blinzelte. Wo war das auf einmal hergekommen?

  Ich sollte mich von ihr losreißen, aber ihr Blick hielt mich noch immer gefangen. Das Lied war längst zu Ende und wir bewegten uns kaum noch, obwohl es von Neuem begann. Aber das nahm ich nur am Rande wahr, weil ich in diesem Moment nur Grace sah. Nur ihre großen Augen in dieser ungewöhnlichen Farbe, die irgendwo zwischen Grün und Blau lag. Nur ihre Lippen, die sich jetzt ganz leicht teilten. Nur ihr Duft, der mich plötzlich viel intensiver umgab und den ich mit jedem Atemzug einsog. Und nur ihre melodische, rauchige Stimme, als sie meinen Namen flüsterte.

  Grace

  »Mason …«

  War das meine Stimme, die so atemlos, so gepresst klang? Ich wusste nicht, was ich sagen wollte oder warum mein Puls auf einmal so raste. Aufgeregt, aber irgendwie auch panisch.

  Mason war mir plötzlich so nahe, dass ich nichts anderes mehr wahrnahm außer ihn. Das Gefühl seiner Hände an meiner Taille. Die Wärme seiner Berührung, die durch den dünnen Stoff meines Oberteils drang und mich erschauern ließ. Seine Augen, in denen ich dieselbe Verwirrung lesen konnte, wie ich sie gerade empfand. Aber da war noch etwas anderes. Eine Faszination und ein Verlangen, das ich nicht zuordnen konnte. Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, spürte ich seinen Atem auf meinen Lippen.

  Mein Herz begann zu hämmern. Hitze breitete sich in mir aus. Ich wusste nicht einmal, ob wir uns noch zur Musik bewegten oder völlig still standen.

  Was passierte hier? Kaum hatte ich meinen Freund mit einer anderen erwischt, schmiss ich mich an den nächstbesten Typen ran? Ein Typ, der auch noch eine Freundin hatte? Nein. So war ich nicht. Und ganz egal, was das zwischen Mason und mir war, das hatte er nicht verdient. Das hatte keiner von uns verdient.

  »Nicht …«, flüsterte ich kaum hörbar. Nicht laut genug, um den Song zu übertönen, der aus seinem Handy schallte. Mason schien es trotzdem zu verstehen. Vielleicht sah er es mir aber auch an, denn mit einem Mal blinzelte er und schüttelte leicht den Kopf.

  »Richtig …« Er räusperte sich. »Richtig.«

  Unser Blickkontakt brach ab, und ich fühlte mich, als wäre das warme Wasser beim Duschen ausgegangen und plötzlich stand ich unter einem eisigen Strahl. Ich löste mich von Mason und machte einen Schritt zurück.

  Er ließ mich sofort los. Ein, zwei Sekunden lang wirkte er unschlüssig, rieb sich mit den Händen über die Jeans, dann deutete er mit dem Kopf Richtung Tür. »Wir sollten … Es ist spät.«

  Ich nickte sofort. Alles war besser, als noch eine Sekunde länger hier zu stehen, allein mit ihm, wo ich jeden Moment der Versuchung nachgeben und die Arme wieder um ihn legen könnte. Weil es sich gut angefühlt hatte. Neu und fremd, aber irgendwie auch vertraut. Vielleicht, weil wir uns schon mal nähergekommen waren. Selbst wenn es nur ein kurzer Kuss bei einem lächerlichen Spiel gewesen war, hatte dieser Moment Spuren hinterlassen. Zumindest bei mir. Und … vielleicht auch bei ihm?

  Statt weiter darüber nachzudenken, verbannte ich all diese verwirrenden Gedanken lieber aus meinem Kopf und folgte Mason, der die Musik ausschaltete und seine Sachen holte. Es spielte keine Rolle, ob dieser eine Kuss etwas in ihm ausgelöst hatte, ob er sich überhaupt noch daran erinnerte. Es spielte keine Rolle, weil er vergeben war. Er war in einer glücklichen Beziehung – und ich war die Letzte, die dazwischenfunken wollte. Ich wusste schließlich genau, wie sich das anfühlte. Das konnte ich Mason, und auch Jenny, nicht antun, aber am allerwenigsten mir selbst. Denn diese Art Mensch wollte ich nicht sein.

  Während wir die Treppe hinuntergingen, breitete sich ein seltsames Schweigen zwischen uns aus.

  »Ich wusste gar nicht, dass du Electro Swing kennst«, sagte ich, nur um die Stille mit irgendetwas zu füllen. »Oder Standard tanzen kannst«, fügte ich mit einem schnellen Seitenblick hinzu.

  Mason zog die Schultern hoch und hielt mir die Tür auf. »Ich bin eben voller Überraschungen.«

  Und wie.

  Ich zwang mich zu einem Lächeln, als wir in den Aufzug stiegen, auch wenn mein Puls noch immer raste und ich anfing, mich wegen dieses schnellen Pochens in meiner Brust schlecht zu fühlen. Moment mal. Daniel hatte mich betrogen, nicht andersherum. Ich war wieder ungebunden. Single. Frei. Also gab es nicht den geringsten Grund, mich schlecht zu fühlen.

  »Meine Eltern haben früher immer im Wohnzimmer zu Swing getanzt«, erzählte Mason plötzlich, während wir wieder nach unten fuhren.

  Dankbar ging ich darauf ein, statt mich weiter mit diesem Chaos aus Gedanken und Gefühlen zu beschäftigen. »Wirklich? Wow. Das muss schön gewesen sein.«

  »Ab einem gewissen Alter war es vor allem peinlich.« Er schnitt eine Grimasse, lächelte dann jedoch und lehnte sich mit einer Schulter gegen die metallene Wand. »Was ist mit dir? Wie hast du Electro Swing für dich entdeckt?«

  »Das war eher Zufall. Ich mag viele Musikrichtungen und habe früher alle möglichen Songs zu Hause vor dem Spiegel performt. Nur an Swing bin ich immer gescheitert. Die Musik mochte ich trotzdem, und da meine Mutter uns sowieso zu Tanzkursen geschickt hat, habe ich ein paar belegt und die Grundschritte vom Charleston, West Coast und Jive gelernt. Für Oldies habe ich mich ehrlich gesagt ziemlich früh interessiert. Darum weiß ich auch, dass du vorhin eine ganz furchtbare Performance zu Solomon Burke abgeliefert hast.« Ich stieg aus, als sich die Türen im Erdgeschoss öffneten, drehte mich jedoch um, als ich keine Schritte hörte, die mir folgten.

  Überrascht starrte Mason mich an. »Du kennst den Sänger?«

  »Mein Vater hat eine riesige Plattensammlung mit lauter Rock-Klassikern. Als ich klein war, hat er sie ständig gehört. Und ich meine wirklich ständig. Ich bin praktisch mit dieser Musik aufgewachsen.«

  »Da gibt es eindeutig Schlimmeres.« Mason schloss zu mir auf. »Zum Beispiel im Wohnzimmer tanzende Eltern, die dich vor all deinen Schulfreunden blamieren. Oder eine Gro�
�mutter, die dir mit zehn das Tanzen beibringt.«

  Er meckerte zwar darüber, aber ich merkte, mit wie viel Wärme er von seiner Familie sprach. Eine Empfindung, um die ich ihn beneidete. Genauso wie um all diese Erinnerungen.

  »Hört dein Dad die ganzen Platten immer noch?«

  Ein, zwei Sekunden lang konnte ich ihn nur verständnislos anstarren, zu überrascht von dieser Frage. Gleichzeitig tauchten so viele Szenen in meinem Kopf auf, so viele verschiedene Momentaufnahmen. Wie mein Vater seine ganzen Platten weggepackt und in den Hobbyraum verbannt hatte. Wie ich mich heimlich hineinschlich, nicht mal, um sie mir anzuhören, denn das hätte ich mich nicht getraut, sondern nur, um sie mir anzusehen und über die bunten Cover zu streichen. Wie meine Eltern sich stritten, so leise, kalt und reserviert, dass ich es beinahe nicht mitbekommen hätte, wären da nicht plötzlich ein paar der kostbaren Schallplatten zu Bruch gegangen. Irgendwann hatte Dad aufgehört, seine Musik zu spielen. Genauso wie er aufgehört hatte, überhaupt da zu sein.

  Ich blickte kurz zu Boden und schluckte hart, dann straffte ich die Schultern und setzte ein Lächeln auf. »In den letzten Jahren war er nicht oft genug zu Hause, um seine alten Platten herauszuholen.«

  Ich rechnete mit einem lockeren Spruch, einem Witz oder einem knappen Nicken, bevor er das Thema wechselte. So hatte ich es schließlich schon oft erlebt. Womit ich nicht gerechnet hatte, war der mitfühlende Ausdruck in Masons Gesicht.

  »Tut mir leid, das zu hören.«

  Ich presste die Lippen aufeinander und zwang all die Emotionen und Erinnerungen zurück. »Schon gut.«

  Was war an diesem Abend nur mit mir los? Erst weinte ich in Masons Armen und ließ mich von ihm trösten, dann arbeiteten wir zusammen an seinen Songs, tanzten miteinander und küssten uns beinahe? Und jetzt gab ich ihm auch noch einen Einblick in mein ach so tolles Familienleben? Ich hatte keine tragische Vergangenheit, meine Eltern waren noch immer verheiratet, und es hatte mir nie an irgendetwas gefehlt. Genau genommen hatte ich alles bekommen, was ich mir je gewünscht hatte, von Barbies Traumhaus bis hin zu einem teuren Wagen zu meinem sechzehnten Geburtstag. Oh ja, ich war ja so ein armes, reiches Mädchen …

  »Hey.« Mason berührte mich am Arm. Jedes Anzeichen von Mitgefühl oder Ernsthaftigkeit war aus seiner Miene verschwunden. Stattdessen war da wieder dieses lebenslustige Funkeln in seinen Augen. »Die Performance vorhin im Proberaum war nur Spaß. Wenn ich gewusst hätte, dass ich Zuschauer habe, hätte ich mir mehr Mühe gegeben.«

  Ich kämpfte gegen ein Lächeln an – und verlor. »An deinem Spagatsprung musst du wirklich noch arbeiten.«

  Lachend rieb er sich über den Nacken, doch dann wurde sein Blick weicher, fast schon ernst. »Na komm. Ich bringe dich noch zu deinem Wohnheim.«

  Verwundert zog ich die Brauen hoch. »Ich kenne den Weg. Aber danke.«

  »Ich weiß, dass du den Weg kennst. Aber es ist schon dunkel, und der Campus ist wegen Labor Day übermorgen wie ausgestorben.«

  »Dir ist aber schon klar, dass es das Gebäude direkt gegenüber ist, oder? Das sind keine zwei Minuten. Ich denke, die kann ich allein gehen.«

  Warum war ich auf einmal so angespannt? Warum so erpicht darauf, ihn so schnell wie möglich loszuwerden, obwohl er doch bis eben ein Freund in der Not für mich gewesen war? Aber genau da lag das Problem. Mason war nicht nur ein guter Freund. Nicht nach diesem Moment auf dem Dach. Nicht, wenn ich ständig daran denken musste, wie es vor all diesen Wochen gewesen war, ihn zu küssen. Und erst recht nicht, wenn ich es wieder tun wollte. Obwohl ich wusste, dass es falsch war.

  Doch so leicht ließ Mason sich nicht abschütteln. Er ging einfach an mir vorbei, öffnete die Tür zur Lobby und wartete, bis ich nach draußen getreten war. Anschließend begleitete er mich tatsächlich bis zum Eingang gegenüber, der auch nachts beleuchtet war. An der Glastür angekommen, drehte ich mich zu ihm um.

  »Zufrieden?«

  »Ich kann dich auch bis zu deiner Zimmertür bringen.« Er wackelte mit den Augenbrauen. »Nur, um ganz sicherzugehen.«

  Ich wusste, was er da tat, und ein Teil von mir war ihm dankbar dafür, dass er oberflächliches Flirten und Witzeleien dazu benutzte, um die Stimmung zwischen uns aufzulockern und diese neue Spannung zu vertreiben. Aber ein anderer Teil war irgendwie … enttäuscht. Auch wenn ich das niemals laut zugegeben hätte. Denn ich wusste, dass es so besser war. Für uns beide. Ich hatte mich heute erst von meinem Freund getrennt, und Mason steckte in einer glücklichen Beziehung.

  »Ja, klar.« Ich schnaubte leise und brachte sogar ansatzweise ein Schmunzeln zustande. »Danke, ich verzichte.«

  »Zu schade. Aber gut, meine Arbeit hier ist getan. Schlaf gut.« Er zwinkerte mir zu, dann drehte er sich auch schon um.

  »Maze?«, rief ich und merkte erst, als das Wort meinen Mund verlassen hatte, dass ich gerade zum ersten Mal seinen Spitznamen verwendet hatte.

  Er schien es ebenfalls zu realisieren, denn im ersten Moment wirkte er verblüfft, doch dann breitete sich ein warmes Lächeln auf seinem Gesicht aus. Fragend legte er den Kopf schief.

  »Danke.«

  »Weil ich dich wie ein Gentleman bis zur Tür begleitet habe?«

  »Für die Ablenkung. Die Tanzstunde. Und auch fürs Nach-Hause-Bringen, ja.«

  »Jederzeit wieder. Gute Nacht, Prinzessin.«

  Da war er schon wieder. Dieser Kosename, von dem ich zunächst nicht gewusst hatte, ob er ein Kompliment oder eine Beleidigung darstellen sollte. Oder warum Mason mich überhaupt so nannte.

  »Nacht …«, murmelte ich, dabei hatte er sich schon längst abgewandt. Ich schaute ihm nach, als er den Rasen mit den Holztischen und Bänken überquerte, die Hände wieder in den Hosentaschen, und zu seinem Wohnheim zurückschlenderte.

  Obwohl wir uns kaum kannten, war er heute für mich da gewesen, hatte mich festgehalten, mich abgelenkt und sogar zum Lachen gebracht. Als wäre das völlig selbstverständlich. Doch das war es nicht. Ich war solche Aktionen nicht gewöhnt, und noch weniger war ich es gewöhnt, mit einem Kerl befreundet zu sein. Und das waren wir mittlerweile, oder? Freunde.

  Nach einem letzten Blick in seine Richtung wandte ich mich ab, betrat die Lobby und machte mich auf den Weg nach oben in mein Zimmer, um dort ins Bett zu fallen. So zumindest der Plan. Denn als ich in meinem Seidennachthemd unter der dünnen Decke lag und in die Dunkelheit starrte, waren es nicht der Tag mit meinen Freundinnen oder Daniels Betrug, der in meinen Gedanken herumgeisterte. Es war der Typ mit der Gitarre und der unglaublichen Stimme, der Typ, der ständig Witze riss und nichts ernst zu nehmen schien. Der Typ, den ich für einen sexistischen Mistkerl gehalten hatte und der mir jetzt nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte.

  Kapitel 11

  Grace

  Ein paar Tage später kam ich aus dem Café, in der einen Hand mein Smartphone, auf dem ich mir gerade die Insta-Storys von aprilhorizon anschaute, einer Mode-Bloggerin, der ich seit ein paar Wochen gespannt folgte. In der anderen Hand hielt ich den ersten Pumpkin Spice Latte des Jahres, den ich mir soeben geholt hatte. Als Belohnung dafür, das lange Wochenende als Plötzlich-wieder-Single überstanden zu haben. Mason hatte mich am Samstagabend abgelenkt, aber Sonntag und Montag waren anstrengend gewesen. Insbesondere, da am Montag Labor Day gewesen war und man gefühlt nur Familien und Pärchen sah, sobald man auch nur einen Fuß nach draußen setzte. Also hatte ich mich in meinem Zimmer verkrochen, gelesen, in den neuesten Zeitschriften geblättert, mit dem Gedanken gespielt, einen eigenen Modeblog zu eröffnen, und war schließlich sogar mit Emery zu einer Fototour aufgebrochen. Das Mädchen brauchte fast noch mehr Ablenkung als ich, denn Dylan hatte sich auf eine weitere Extraschicht in der Tierklinik eingelassen. Anscheinend waren sie hoffnungslos unterbesetzt, und am Feiertag waren alle Angestellten im Urlaub. Emery hatte nichts weiter dazu gesagt, aber ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass es bald ordentlich zwischen den beiden krachen würde. Und wenn es so weit war, wollte niemand in ihrer Nähe sein.

  »Grace?«

  Ich riss den Kopf hoch und blieb s
o abrupt stehen, dass ich sicher den ganzen Kaffee auf meinem Kleid verteilt hätte, wäre da nicht der Deckel auf dem Pappbecher gewesen. Blinzelnd starrte ich auf die Person, die meinen Namen ausgesprochen hatte. Die Person, von der ich mir sicher gewesen war, sie nie wiederzusehen, auch wenn ständig neue Nachrichten von ihm auf meinem Handy eintrafen.

  »Daniel.« Ich räusperte mich, damit ich nicht mehr ganz so geschockt, nicht mehr so furchtbar verletzt klang, und straffte die Schultern.

  Er lächelte zögerlich. Und dieses Lächeln, diese Vertrautheit, traf mich genau da, wo es wehtat.

  Ich wollte an ihm vorbeigehen, wollte ihn einfach stehen lassen, ohne irgendeinen Gedanken an ihn zu verschwenden. So, wie er keinen Gedanken an mich verschwendet hatte, als er und dieses Mädchen …

  »Warte!« Mit wenigen Schritten stand er wieder vor mir. Er hatte die Arme ausgebreitet, und in seinem Blick lag etwas Flehendes. »Bitte warte. Ich muss mit dir reden.«

  »Ich weiß.« Wie zum Beweis hielt ich mein Handy hoch, auf dem schon längst irgendwelche anderen Storys liefen. »Und ich weiß auch, wie ungewohnt das für dich sein muss, ignoriert zu werden, also lass es mich klar und deutlich ausdrücken: Ich will nicht mit dir reden. Ich will dich nicht mehr sehen. Genau genommen will ich nicht mal im selben Raum mit dir sein.«

  Ein Schatten huschte über sein Gesicht, aber man musste es Daniel zugutehalten, dass er meinen kleinen Ausbruch mit Fassung trug. »Ich weiß, dass ich dich verletzt habe, und du glaubst gar nicht, wie leid mir das tut.«

  Nein. Das glaubte ich ihm nicht. Und selbst wenn ich es täte, was würde das schon ändern? Er hätte mich immer noch betrogen und gegen eine andere ausgetauscht. Nichts, was er sagte, konnte irgendetwas daran ändern oder das schreckliche Brennen in meiner Brust verschwinden lassen. Ich war nicht bloß wütend auf ihn und entsetzt von dem, was er getan hatte. Ich war beschämt. Gott, es war so erniedrigend, dass mir das wieder passiert war. Tausende von Meilen von zu Hause entfernt. Was stimmte nicht mit mir, dass man mich immer so leicht ersetzen konnte? Dass ich immer diejenige war, der man sich erst dann zuwandte, wenn es keine anderen Optionen mehr gab, und die man sofort wieder vergessen konnte, sobald etwas Besseres um die Ecke kam? Was war so verdammt falsch an mir, dass es allen anderen so leichtfiel, mich fallen zu lassen?

 

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