Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition)

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Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition) Page 23

by Bianca Iosivoni


  Der Kuli knirschte in meiner Hand, und ich zwang mich dazu, ihn loszulassen, ehe ich ihn in zwei Hälften brach, und mich auf die Worte unseres Dozenten zu konzentrieren. Doch obwohl ich Musikgeschichte sonst immer spannend fand, fiel es mir heute schwer, bei der Sache zu bleiben.

  Als unser Dozent endlich Schluss machte, stöhnte ich vor Erleichterung. Schneller als meine Kommilitonen in der ersten Reihe sprang ich auf, packte meine Sachen zusammen und steuerte den Ausgang an. Um mich herum wuselten die Leute. Gesprächsfetzen drangen an mein Ohr. Dann ertönte eine vertraute Stimme hinter mir.

  »Maze! Warte mal.«

  Vor dem Hörsaal angekommen, drehte ich mich zu Grace um.

  »Du gehst zu euch nach Hause, oder? Ich komme mit. Ich muss mit Emery noch etwas für das Referat morgen besprechen«, erklärte sie und schob sich den Riemen ihrer Tasche auf der Schulter zurecht. Die elegante, cremefarbene Tasche wollte so gar nicht ins Bild einer College-Studentin passen. Aber das tat Grace mit ihrem weißen Oberteil, dem kurzen, geblümten Rock und den irrsinnig hohen High Heels auch nicht. Grace war wirklich nicht groß, aber dieses Outfit betonte ihre Beine auf eine Weise, die sie unendlich lang erscheinen ließen und es mir verflucht schwer machte, den Blick davon loszureißen.

  Ich nickte nur, da mir aus irgendeinem Grund die Worte fehlten. Vielleicht wusste ich auch einfach nicht, wie ich mich ihr gegenüber verhalten sollte, nachdem es mir am Samstag noch so unheimlich schwergefallen war, sie gehen zu lassen. Ich hatte seitdem alles unternommen, um nicht über diesen Abend nachzudenken, hatte mich gestern in die Musik und heute in meine Kurse gestürzt. Und jetzt … jetzt wusste ich plötzlich nicht mehr, was ich sagen sollte.

  Schweigend gingen wir weiter, folgten dem Gang und verließen das Gebäude. Es war noch warm draußen, aber der Himmel verfärbte sich bereits orangerot. Die Leute vor uns verteilten sich in alle Richtungen. Manche steuerten ein anderes Fakultätsgebäude für eine Abendvorlesung an, andere machten sich auf den Weg zur Mensa oder zum nächstgelegenen Parkplatz und ein paar gingen genau wie wir zu den Wohnheimen.

  »Ich habe über deinen Song nachgedacht«, verkündete Grace plötzlich.

  Ich blieb an der großen Kreuzung stehen und warf ihr einen überraschten Seitenblick zu, irgendwie froh darüber, dass sie nicht über Samstagabend sprechen wollte.

  Denn was hätte ich ihr auch sagen sollen? Sorry, dass ich dich fast geküsst habe. Ich hab eine Freundin, und das wäre falsch gewesen. Aber wenn ich dich so ansehe, muss ich sofort wieder daran denken, wie gut du dich in meinen Armen angefühlt hast …

  Jepp. Megagute Idee, Lewis.

  »Ach wirklich …?«, fragte ich stattdessen.

  »Ja.« Ein Windstoß löste eine Haarsträhne aus ihrer Flechtfrisur und wehte sie ihr ins Gesicht. Grace tastete danach und schob sie sich hinters Ohr. Nach dem langen Tag wirkte auch sie erschöpft, und unter ihren Augen waren Ringe zu sehen, aber sie war noch immer wunderschön. »Hast du schon mal über eine Bridge im Anschluss an die zweite Strophe nachgedacht?«

  Ich runzelte die Stirn. »Klar. Aber der Refrain lebt von seinem plötzlich anziehenden Tempo – und eine Bridge würde diesen Effekt verwässern.«

  »Ich weiß, wie sich das anhört«, fügte sie hastig hinzu und überquerte die Straße mit mir und einem Dutzend anderer Kommilitonen, die auf dem Weg zurück in ihre Zimmer waren. Sie wich einem entgegenkommenden Jogger aus, prallte fast mit mir zusammen, eilte jedoch weiter, bevor ich die Hände nach ihr ausstrecken konnte. »Aber ich glaube wirklich, dass es dem Song guttun würde«, sagte sie, auf der anderen Straßenseite angekommen. »Außerdem ist dein Hook doch die erste Refrainzeile und nicht der Instrumentalpart, oder?«

  »Seit wann weißt du so viel übers Songwriting?«, hakte ich nach, während wir uns den vier Hochhäusern näherten, in denen die meisten Studenten der Blackhill University untergebracht waren. Obwohl es schon langsam dunkel wurde, saßen noch ein paar Gestalten an den Holztischen zwischen den Gebäuden oder ganz in der Nähe im Gras.

  Neben mir zuckte Grace mit den Schultern. »Ich habe mich am Wochenende ein bisschen eingelesen.«

  Sie sagte das so, als wäre es nichts. Als wäre es völlig selbstverständlich, dabei hatte ich sie nicht mal wirklich um Hilfe gebeten. Das eine Mal, als wir zusammen über meinen Songtexten gesessen und die einzelnen Parts hin und her geschoben hatten, war schließlich eine Ausnahmesituation gewesen. Grace hatte Ablenkung gebraucht, und ich war dankbar für ihre Vorschläge gewesen, weil sie etwas von Rhythmus und Musik verstand. Ich war nicht automatisch davon ausgegangen, dass sich diese Songwriting-Session wiederholen würde. Oder dass Grace sich tatsächlich die Mühe machen würde, sich in das Thema einzuarbeiten, nur um mir Feedback geben zu können. Musik zu spielen oder zu singen war schließlich eine Sache. Sie auch zu schreiben? Eine ganz andere.

  »Wie wär’s, wenn du mir einfach zeigst, was du meinst?«, schlug ich vor. Meine Gitarre stand noch in meinem Zimmer, da wir nach dem Konzert wieder zu unseren normalen Terminen für die Proben zurückgekehrt waren, also musste ich sie erst am Mittwoch mit mir über den Campus schleppen. Grace wollte sowieso dieses Referat mit Emery besprechen, und wenn sie etwas Zeit hätte, könnten wir uns auch kurz den Songtext anschauen. Denn auch wenn ich der Sache mit der Bridge skeptisch gegenüberstand, ließ ich mich gerne von ihr vom Gegenteil überzeugen.

  »Sicher.« Sie nickte, hob aber noch im gleichen Atemzug die Hände. »Es ist wirklich nur eine Idee. Du musst nicht …«

  »Lass mich das mal entscheiden«, unterbrach ich sie amüsiert und deutete auf den Eingangsbereich, vor dem wir mittlerweile angekommen waren.

  Wir nahmen den Aufzug nach oben und teilten ihn uns gefühlt mit dem halben College. Als wir in der dritten Etage ankamen, waren wir die Ersten, die ausstiegen. Ich atmete tief ein, froh darüber, die kühle Luft wahrzunehmen. Gott sei Dank war die Klimaanlage mittlerweile repariert worden. Ein Tag länger und ich wäre freiwillig wieder zurück zu meinen Eltern in den Keller gezogen. Selbst wenn ich dann jeden Tag die italienischen Telenovelas mithören musste, die Nonna in voller Lautstärke in ihrer Wohnung direkt über meinem Zimmer laufen ließ.

  Ich öffnete die Tür zu meiner WG und folgte Grace hinein. Das Wohnzimmer war leer, ebenso wie der kleine Kochbereich. Die Tür zum Zimmer unseres neuen Mitbewohners war wie immer fest verschlossen. Der Typ war echt ein Geist. Einmal hatte ich am Anfang des Semesters angeklopft, mit zwei Bieren in der Hand, und ihn gefragt, ob er nicht Lust hätte, mit mir und den Jungs das Footballspiel im Fernsehen anzuschauen. Seine einzige Reaktion war ein knappes »Danke, nein« gewesen, dann hatte er sich lautlos wieder in sein Zimmer verkrochen. Reizender Kerl. Seither hatte ich ihn so gut wie gar nicht mehr gesehen.

  Ich warf meinen Rucksack aufs Sofa. »Sieht so aus, als wäre Em …«

  Bevor ich den Satz zu Ende bringen konnte, ertönte ein vertrauter Klingelton. Kurz erstarrte ich, dann fischte ich das Handy aus meinem Rucksack. Wie vermutet lächelte mir meine Freundin vom Display entgegen. Etwas zog sich in meiner Brust zusammen und gleichzeitig tauchte nur ein einziger Gedanke in meinem Kopf auf: Warum jetzt? Das ganze Wochenende über hatte sie mich doch auch ignoriert, wieso meldete sie sich also ausgerechnet jetzt wieder?

  »Sorry«, murmelte ich abgelenkt.

  Grace war bereits an der Tür zu Emerys Zimmer. Sie hielt meinen Blick einen Herzschlag lang fest, dann nickte sie mit einem knappen Lächeln und trat ein.

  Ich atmete tief durch und nahm den Anruf entgegen. »Hey Jen.«

  »Ich war nicht beim Konzert.«

  Fünf Worte. Keine Begrüßung. Nur eine Feststellung, die so klang, als würde sie in einem Beichtstuhl sitzen und einem Priester all ihre Sünden gestehen.

  »Ich weiß.«

  Ich hatte am Samstag die Menge nach ihr abgesucht, und die Erkenntnis, dass sie nicht gekommen war, hatte sich für einen Moment angefühlt wie ein Schlag in die Magengrube. Doch dann hatten mich die Musik und unsere Performance abgelenkt und alles andere vergessen lassen. Im Nachhinein war ich nur noc
h enttäuscht gewesen, frustriert und, ja, auch wütend. Doch gleichzeitig war da auch ein kleiner Teil von mir, der seltsam erleichtert darüber war, dass Jenny an diesem Abend nicht dabei gewesen war. Wenn sie Grace und mich zusammen auf der Bühne gesehen hätte, wäre sie ausgerastet. Denn die Funken, die dort zwischen uns hin und her geflogen waren, waren kein Teil der Show gewesen. Genauso wenig wie die beim Tanzen.

  Shit. Machte mich die Erleichterung darüber, dass meine Freundin nicht beim vielleicht besten Abend dieses Jahres dabei gewesen war, zu einem Arschloch? Scheiße, ja. Aber ich wusste noch immer nicht, was ich tun oder auch nur denken sollte. Ganz zu schweigen davon, was ich fühlen sollte.

  Schweigen am anderen Ende der Leitung, während ich mir meinen Rucksack schnappte und in mein Zimmer ging. Dort warf ich ihn in eine Ecke und ließ mich rücklings aufs Bett fallen.

  Jenny atmete leise durch. »Du hast nicht auf meine Nachrichten reagiert.«

  Auch das wusste ich. Den ganzen Samstagabend über hatte ich sie ignoriert. Erst als ich nachts wieder in meinen eigenen vier Wänden war, hatte ich es nicht mehr ausgehalten und sie gelesen. Weil ich ein Masochist war. Natürlich hatte ich danach erst recht nicht einschlafen können, mich stattdessen ewig herumgewälzt und an die Zimmerdecke gestarrt. Genau wie jetzt.

  »Was erwartest du von mir, Jen? Du hast mich sitzen gelassen. Mal wieder.«

  »Ich habe dich nicht sitzen gelassen!«, protestierte sie. »Es war ein Notfall!«

  Mal wieder. Denn auch das kannte ich nur zu gut. Jedes noch so winzige Problem ihrer Freundinnen war für Jenny ein Notfall. Man könnte meinen, bei ihrer Familiengeschichte würde sie den Unterschied zwischen einem Problem und einer echten Krise kennen, aber weit gefehlt.

  »Natürlich«, erwiderte ich und unterdrückte ein Seufzen. Deswegen eine Diskussion anzufangen war nicht gerade zielführend. Schon probiert. Schon daran gescheitert. »Wo bist du?«

  »In meinem Zimmer. Die Mädels machen sich gerade fertig, damit wir ins Kino gehen können und danach etwas essen.«

  Womit sich die Frage geklärt hatte, ob wir uns heute noch sehen würden. Jenny kam nie nach ihren Mädchenabenden zu mir. Warum auch immer. Mit der freien Hand rieb ich mir übers Gesicht. Ich lag zwar mehr oder weniger bewegungslos auf meinem Bett, aber meine Muskeln kribbelten immer noch, als müsste ich jede Sekunde aufspringen und mich bewegen. Wahrscheinlich eine Nachwirkung der Energydrink- und Kaffeedröhnung, die ich mir den ganzen Tag über gegeben hatte. Vielleicht wollte ich aber auch nur weglaufen. Vor diesem Gespräch und vor dem, was es für uns bedeutete. Was auch immer das sein mochte.

  Ich befeuchtete mir die Lippen und zwang mich dazu, die Frage auszusprechen. »Wo stehen wir jetzt?«

  Jennys Zögern war lauter als jedes Wort, das sie dazu sagen könnte. Es war so still, dass ich die gedämpften Geräusche aus dem Wohnheim wahrnahm. Die Schritte über mir, das entfernte Geschirrgeklapper aus der Gemeinschaftsküche, die es in jeder Etage gab. Ich registrierte eine Tür, die zufiel. Gut möglich, dass es aber auch nur der Kühlschrank war, denn gleich darauf erklangen die Stimmen von Emery und Grace im Wohnzimmer. Ich konnte kein Wort verstehen, trotzdem schlug mir das Herz plötzlich bis zum Hals.

  Fuck.

  Ruckartig setzte ich mich auf, das Handy noch am Ohr. »Jen?«

  Ich musste ihre Stimme hören, musste die Versicherung von ihr bekommen, dass alles in Ordnung war, dass wir noch immer zusammengehörten und daran auch kein verdammtes Konzert oder ein Moment auf irgendeiner Tanzfläche etwas ändern würden. Dass wir stark genug waren, um all das zu ignorieren, und einfach weiterzumachen. Gemeinsam. Ganz egal, wie wütend und enttäuscht ich gerade war.

  Aber Jenny tat mir den Gefallen nicht. »Ich weiß es nicht, Mason«, wisperte sie erstickt.

  Scheiße, weinte sie etwa? Allein die Vorstellung schnürte mir die Kehle zu. Ich ertrug es nicht, sie weinen zu sehen. Aber vor allem ertrug ich es nicht, der Grund dafür zu sein. Dabei wusste ich nicht mal, warum sie so reagierte. Sie war diejenige, die nicht zum Konzert gekommen war. Warum fühlte ich mich dann auf einmal so schuldig?

  Ich kannte die Antwort darauf, denn sie unterhielt sich nur wenige Meter entfernt mit meiner Mitbewohnerin, aber ich wollte nicht darüber nachdenken. Ich weigerte mich, darüber nachzudenken. Hier ging es um Jenny und mich, gottverdammt noch mal.

  Das Schweigen zwischen uns dehnte sich aus, und es war so still, dass ich sogar die Geräusche im Hintergrund bei Jenny hören konnte. Die Tür, die geöffnet wurde, dann Karen, die ihr Bescheid gab, dass sie gleich loswollten. Ich biss mir auf die Zunge, um jeden einzelnen Kommentar zurückzuhalten, der mir in diesem Moment durch den Kopf schoss. Und das waren eine ganze Menge. Keiner davon besonders freundlich.

  »Bin gleich da.« Jenny klang irgendwie seltsam, als würde sie die Hand über den Hörer halten, damit ich nicht mitbekam, worüber die zwei da sprachen. Und es funktionierte. Sekundenlang hörte ich nur ein Rascheln – oder ein Flüstern? –, dann war Jenny wieder dran.

  »Lass uns … lass uns später reden, okay?«, schlug sie vor. Aber ihr Tonfall stimmte nicht, wirkte aufgesetzt und zu fröhlich, um ernst gemeint zu sein. Nach all den Jahren kannte ich dieses Mädchen gut genug, um das zu bemerken.

  Am liebsten hätte ich sie zur Rede gestellt, hätte mich sofort mit ihr getroffen, damit wir uns aussprechen oder meinetwegen auch streiten konnten. Irgendetwas, um diese seltsame, angespannte Stimmung zwischen uns loszuwerden.

  Stattdessen atmete ich nur tief durch und nickte, auch wenn sie es nicht sehen konnte. »Wie du willst. Schönen Abend noch.«

  »Dir auch.« Dann legte sie auf.

  Ein, zwei Sekunden lang starrte ich mein Handy an, dann warf ich es auf die Decke neben mich und sprang auf.

  Emery und Grace saßen an der Kücheninsel, als ich ins Wohnzimmer stapfte. Zwischen ihnen stand der aufgeklappte Laptop meiner Mitbewohnerin mit irgendeiner Präsentation, daneben zwei Gläser für sie beide. Sie sahen kurz in meine Richtung, unterbrachen ihr Gespräch jedoch nicht. Auch dann nicht, als ich zum Kühlschrank hinüberging und das erste Kaltgetränk herausnahm, das mir zwischen die Finger kam.

  »Hey, das ist mein Kaffee!«, rief Emery.

  Ich sah kurz auf den abgepackten Plastikbecher in meiner Hand und zuckte mit den Schultern. »Wer zuerst kommt …«

  »… kriegt eine gebrochene Nase«, unterbrach sie mich knurrend. »Leg. Ihn. Zurück!«

  »Warum so aggressiv?«, gab ich ungerührt zurück. »Nach letzter Nacht solltest du doch mehr als entspannt sein.«

  Ehe ich mich versah, kam etwas in meine Richtung geflogen. Ich wich gerade noch rechtzeitig aus, bevor mich der Stift aufspießen konnte. Stattdessen knallte er gegen den Küchenschrank hinter mir und fiel scheppernd ins Spülbecken.

  »Dylan wollte herkommen«, informierte Grace mich, »aber er … ist ziemlich spät dran.«

  Oder würde gar nicht mehr auftauchen. Sie sprach es zwar nicht aus, aber wir wussten alle, dass sie es dachte. Emery eingeschlossen, so fassungslos, wie sie ihre beste Freundin von der Seite anstarrte.

  »Er kommt noch«, beharrte sie und stand auf, um sich ihren Stift zurückzuholen. »Aber die Chance, dass er mich im Knast besuchen muss, steigt von Sekunde zu Sekunde.« Sie pikste mir mit dem Stift in den Arm. »Hände weg von meinem Kaffee!«

  »Du bist nicht mal halb so furchterregend wie Tate«, brummte ich, stellte den Becher aber zurück. Stattdessen holte ich eine Flasche Wasser heraus. Wahrscheinlich hatte ich heute sowieso schon mehr als genug Koffein in mich hineingeschüttet.

  »Dabei hat Tate dir nie was getan – ganz im Gegensatz zu mir. Oder hab ich was verpasst?«, fügte Emery mit neu erwachtem Interesse hinzu.

  Amüsiert schüttelte ich den Kopf – und nutzte die Chance, mich von Emery wenigstens für einen kurzen Moment von meinem eigenen Chaos ablenken zu lassen. »Bei dir weiß ich, wie viel Schlagkraft du draufhast. Bei Tate nicht. Sie könnte mich mit einem Happs verschlingen und dann wieder ausspucken.«

  Grace kräuselte die
Lippen. »Das ist ein wenig überdramatisch, findest du nicht?«

  »Kein bisschen. Die Frau ist gefährlich. Und jetzt geht sie auch noch regelmäßig boxen. Was hat Trevor sich nur dabei gedacht? Er hat ein Monster erschaffen!«

  Grace lachte auf, und sogar Emery grinste. Kopfschüttelnd zwar, aber sie grinste. Immerhin ein kleiner Sieg heute. Trotzdem zog es meine Aufmerksamkeit immer wieder zu Grace zurück. Zu dem Strahlen in ihren Augen, wenn sie lachte. Zu der Art, wie sich ihr Lächeln veränderte und fast schon sehnsüchtig wurde, wenn sich unsere Blicke trafen. Sie erinnerte sich an Samstag, das konnte ich ihr so deutlich ansehen, als hätte sie es laut ausgesprochen.

  Emery räusperte sich vernehmlich. »Also, wir sollten weiterma…«

  Ein Klopfen unterbrach sie.

  »Na endlich!« Sie rutschte vom Hocker und stapfte in großen Schritten zur Tür.

  Ich lehnte mich mit den Unterarmen auf die Kücheninsel und senkte meine Stimme. »Raus damit. In wie großen Schwierigkeiten steckt er wirklich?«

  Nachdenklich wiegte Grace den Kopf hin und her. »Auf einer Skala von eins bis zehn? Wenn eins bedeutet, dass sie an Ort und Stelle über ihn herfällt und zehn, dass sie ihm den Kopf abreißt und seine Einzelteile im Innenhof verstreut?«

  Ich nickte amüsiert – und auch ein kleines bisschen überrascht. Das Mädchen hatte eindeutig meine Art von Humor.

  »Dann bin ich für … acht oder neun.«

  Ich stieß einen leisen Pfiff aus und richtete mich wieder auf. Trotzdem hatte ich noch immer ihren Duft in der Nase und wollte ihn, wenn ich ehrlich war, auch gar nicht loswerden. Ganz im Gegenteil. Wenn ich es gekonnt hätte, hätte ich meine Nase in ihrem Haar vergraben und ganz tief eingeatmet. Oder an ihrem Hals. Oder an …

 

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