Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition)

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Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition) Page 24

by Bianca Iosivoni


  »Em! Verdammt, jetzt bleib stehen und rede mit mir!«

  Mitten im Wohnzimmer wirbelte Emery herum. »Was gibt es da noch zu bereden?«

  Dylan blieb vor ihr stehen. Die Autoschlüssel noch in der Hand. Oh, oh …

  »Es tut mir leid, okay? Es geht nicht anders.«

  Sie schnaubte. »Ja, klar. Lass mich raten: Sie haben dir eine Pistole an den Kopf gehalten und dich dazu gezwungen, diese verdammte Schicht zu übernehmen. Denn andernfalls gibt es keinen einzigen beschissenen Grund dafür, warum du jetzt schon wieder arbeiten musst. Du bist öfter in dieser Klinik als in deinen Vorlesungen!«

  »Ich weiß.« Ein geknickter Ausdruck trat auf sein Gesicht. »Das wird nicht immer so sein, aber im Moment …«

  »Bullshit!«

  Keiner der beiden nahm von uns Notiz. Emery schien uns völlig vergessen zu haben, während Dylan noch nicht mal bemerkt hatte, dass sie nicht allein waren. Ich wechselte einen schnellen Blick mit Grace, doch die schüttelte nur warnend den Kopf. Nicht einmischen. Nein, das hatte ich auch nicht vorgehabt. Ich hing schließlich an meinem Leben.

  »Ich verstehe echt nicht, was das Problem ist. Du weißt doch, wie es läuft. Du kennst meinen ganzen verfickten Wochenplan, Em.«

  »Es gibt kein Problem!«, rief sie so laut, dass Grace zusammenzuckte. »Ich weiß, dass du viel arbeiten musst, okay? Ich weiß das!«

  »Bisher bist du deswegen aber nicht so ausgeflippt. Also was ist das Problem?«

  Emery verschränkte die Arme vor der Brust und schwieg beharrlich.

  Grace schnaubte leise. »Ach, gar nichts. Bloß die Tatsache, dass er nie da ist, tausend Extraschichten schiebt, seine Versprechen nicht hält und … oh! Nie da ist.«

  Alle Blicke richteten sich auf sie. Der von Emery entsetzt, der von Dylan verwirrt und dann zunehmend fassungsloser.

  »Ist das wahr?«, wandte er sich wieder an Emery, die ihre Freundin mit Blicken zu ermorden schien.

  »Ähm …« Grace setzte sich kerzengerade auf und versuchte sich an einem entschuldigenden Lächeln, das eher panisch wirkte. Über die Kochinsel hinweg griff sie nach meinem Arm. »Wir gehen besser. Ihr habt sicher viel zu bereden.«

  »Gar nicht!«, fauchte Emery und wollte schon in ihrem Zimmer verschwinden, aber Dylan warf die Autoschlüssel auf den Sofatisch und stellte sich ihr in den Weg.

  »Oh doch«, knurrte er. »Also los. Lass uns das klären.«

  Reflexartig zog ich den Kopf ein. Bei diesem Streit wollte ich definitiv nicht live dabei sein. Es war schon kompliziert genug, wenn der beste Freund die eigene Mitbewohnerin datete – aber wenn gleich ein Kleinkrieg zwischen den beiden ausbrach? Da wollte ich lieber weit, weit weg sein.

  Grace zog noch immer an meinem Arm. Ganz automatisch umrundete ich die Kücheninsel, machte mit wenigen Schritten einen kurzen Umweg über mein Zimmer und traf sie dann an der Tür, während um uns herum bereits die Apokalypse ausbrach.

  »Raus hier!«, rief ich und öffnete die Tür. Nach Grace folgten mein Gitarrenkoffer und ich, dann fiel die Tür hinter uns zu, und ich atmete tief durch. Von drinnen waren noch immer die lauten Stimmen von Emery und Dylan zu hören.

  Grace wirkte alles andere als glücklich. »Ich wollte mich nicht verplappern. Aber heute ist der Tag, an dem sie damals zusammengekommen sind, weißt du? Quasi ihr Jahrestag. Und er hat es vergessen.«

  Oh …

  »Scheiße … Kein Wunder, dass Emery ausrastet.«

  Sie presste die Lippen aufeinander. »Da hat sich eine ganze Menge angestaut.«

  Daran zweifelte ich keine Sekunde lang, immerhin bekam ich das meiste davon hautnah mit. Ich konnte Emerys Frust verstehen – Dylans Probleme aber genauso. Der Kerl war einfach zu gut für diese Welt, half ständig aus, sprang immer ein und versuchte, es allen und jedem recht zu machen. Und, ganz ehrlich? Bei all dem Stress und wie er sich zwischen Arbeit, Studium, Altenheim und Freundin zerriss, um alles unter einen Hut zu bekommen, war es kein Wunder, dass er diesen wichtigen Tag vergessen hatte.

  Seufzend starrte ich auf die Tür, bis Grace mich am Arm berührte.

  »Was ist? Warum guckst du so, als hätten die zwei deinen Hund überfahren?«

  Irgendwie musste ich lächeln, auch wenn mir nicht sonderlich danach zumute war. Mit dem Smartphone in der Hand deutete ich auf die verschlossene Tür. »Meine Wohnung ist soeben zur Kriegszone geworden.«

  Sie kräuselte die Nase. »Denkst du nicht, dass du etwas übertreibst?

  »Wir reden hier von Dymery. Also nein, ich übertreibe nicht«, murmelte ich und scrollte durch meine Kontakte. Irgendjemanden musste es doch geben, bei dem ich für eine Weile unterkommen konnte. »Entweder sie haben gleich Versöhnungssex in jedem einzelnen Zimmer oder sie bewerfen sich mit Wasserbomben und so einen Scheiß. Was mich bis mindestens Mitternacht obdachlos macht.«

  »Was ist mit dem Proberaum?«

  Ich lachte lautlos auf. »Soll ich da vielleicht übernachten? Außerdem ist der bis spät abends ausgebucht. Und bei Gospel lässt es sich so schlecht schlafen. Wir hatten Glück, dass Kane unsere Termine schon so früh in den Plan eingetragen hat.«

  »Dann die WG von Luke, Dylan und Trevor? Zumindest dürfte jetzt ein Bett frei sein.«

  »Ja.« Ich schnitt eine Grimasse. »Das ich mir mit einer Katze teilen kann, die mich innerhalb weniger Stunden töten wird. Ich bin allergisch«, erinnerte ich sie, als ich ihren irritierten Blick bemerkte.

  »Oh.«

  »Ja, oh.« Ich warf einen schnellen Blick auf mein Telefon, der mir bestätigte, dass ich nicht wie sonst sofort eine Antwort von den Jungs zurückbekommen hatte.

  Mein Gesichtsausdruck spiegelte meine Stimmung offenbar ziemlich gut wider, denn er brachte Grace dazu, fragend die Brauen hochzuziehen.

  »Schon gut«, murmelte ich und schnitt eine Grimasse, als Emerys Stimme durch die geschlossene Tür ertönte. »Ich suche mir einfach eine Parkbank und mache da ein bisschen Musik. Hey, vielleicht verdiene ich ja genug, um mir ein Abendessen leisten zu können«, fügte ich halb im Scherz hinzu.

  Sie schwieg.

  Was für eine beschissene Situation. Vielleicht konnte ich ja doch noch in mein Zimmer zurück. Emery und Dylan würden sich bestimmt nicht ewig streiten, oder? Immerhin musste der Kerl zu seiner Schicht in die Klinik. Doch gerade, als ich die Hand nach der Türklinke ausstrecken wollte, schallte Emerys wütende Stimme überdeutlich nach draußen. Ich ließ die Hand sinken. Verdammt.

  Zu Jenny konnte ich nicht. Nicht nach diesem Telefonat. Mal ganz davon abgesehen, dass sie noch mit ihren Freundinnen unterwegs war.

  Grace sah von mir zum Gitarrenkoffer und dann wieder hoch in mein Gesicht. »Mein Zimmer ist winzig, aber du hältst es bestimmt ein, zwei Stunden dort aus. Zumindest bis Jesse oder Pax wieder da sind. Außerdem können wir so an deinem Song arbeiten.«

  Sie wirkte nicht überzeugt, aber auch nicht so, als würde sie es absolut nicht wollen. Ob sie genauso hin- und hergerissen war wie ich? Ob sie ebenfalls fühlte, wie falsch das alles war, obwohl wir doch nichts Verbotenes taten? Bei jeder anderen wäre ich, ohne zu zögern, mitgegangen. Elle, Tate, Emery, Hazel … alles kein Thema. Aber Grace … Mit Grace war es schon immer anders gewesen.

  »Sicher?«, hakte ich nach. »Ich kann immer noch auf die Parkbank und meine Karriere als Straßenmusiker beginnen.«

  Diesmal war da kein Zögern. Sie nickte lächelnd.

  Und ich folgte ihr.

  Stunden später saßen wir noch immer in Grace’ Zimmer, während draußen bereits der Mond aufgegangen war und vom Nachthimmel strahlte. In Ermangelung eines Sofas hatten wir uns auf dem Boden zwischen Bett, Schreibtisch und Kommode ausgebreitet. Der Teppich war überraschend weich und mit Sicherheit nicht von Anfang an hier drinnen gewesen. Grace musste den Vorleger extra gekauft und mitten in ihrem Zimmer ausgebreitet haben, was wohl bedeutete, dass sie nicht ständig vorbildlich am Schreibtisch oder auf ihrem Bett saß, sondern hin und wieder auch auf dem Teppich.

  Jetzt saß sie ans Bett gelehnt ne
ben mir auf dem Boden, zwischen uns jede Menge Papiere, einige zusammengeknüllt, andere wieder glatt gestrichen, manche mit Kaffeeflecken und andere ganz neu und leer. Grace trug noch immer dieses ärmellose weiße Kleid, das ab ihrer Taille in ein Blumenmuster überging und in einem kräftigen Pink endete. Woher ich das so genau wusste? Weil der Saum etwas hochgerutscht war und den Blick auf die makellose Haut ihrer Oberschenkel freigab, und ich immer wieder hinstarren musste, ganz egal, wie oft ich mich selbst zur Vernunft rief. Falls sie es bemerkte, behielt sie ihre Reaktion für sich. Gerade las sie die aktuelle Version des Songtextes, an dem wir den ganzen Abend gearbeitet hatten, erneut durch. Dass sie dabei an ihrer Unterlippe nagte, die nackten Zehen mit den pink lackierten Nägeln in den Teppich bohrte und mich wahnsinnig machte, schien völlig an ihr vorbeizugehen.

  Gut so.

  Ich atmete tief durch und zwang meine Aufmerksamkeit zurück auf die Gitarre in meinen Händen. Ich hatte es mir im Schneidersitz auf dem Boden gemütlich gemacht und spielte gedankenverloren den Anfang des Songs. Es war eine ruhige, fast schon sehnsüchtige Melodie, die mir selbst jetzt, nachdem ich sie ein Dutzend Mal gespielt, die passenden Wörter dazu notiert und wieder verworfen hatte, noch immer unter die Haut ging. Genau wie das Mädchen neben mir.

  Als ich diesmal einen Blick in ihre Richtung riskierte, hatte sie die Augen geschlossen. Sie schlief jedoch nicht – dafür war ihre Atmung nicht flach genug. Sie lauschte der Melodie. Also spielte ich weiter. Die reine Instrumentalversion war gut, sinnlich und vermutlich das Beste, was ich je komponiert hatte, aber erst der richtige Text und die passende Stimme würden diesen Song zu etwas Einzigartigem machen. Wir waren nah dran, aber noch nicht so weit. Dabei ließ sich jetzt schon erahnen, wie viel Potenzial darin steckte. Wie großartig es sein könnte. Wir mussten nur noch den finalen Schritt machen, mussten nur noch die richtigen Worte finden.

  Als die letzten Töne verklangen, öffnete Grace die Augen und sah mich an. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

  »Es ist immer noch wunderschön«, stellte sie leise fest.

  Das bist du auch.

  Ich biss mir so fest auf die Zunge, dass es sogar nächste Woche wehtun würde, sprach die Worte aber nicht laut aus. Was zum Teufel, Lewis? Das war völlig unangebracht und würde die Dinge zwischen uns nur verkomplizieren. Ich war noch immer ein vergebener Mann. Ein Mann mit Zukunftsplänen, die keine Sängerin mit faszinierenden grünblauen Augen, einem anziehenden Mund und einer Stimme, die ich rund um die Uhr hören wollte, beinhalteten. Aber vor allem wollte ich sie meinen Namen sagen und meine Musik singen hören. Vorzugsweise nachdem wir gemeinsam daran gearbeitet hatten und mich jede Zeile, jedes Wort an Momente wie diesen erinnerten.

  Auch das war neu. Bisher hatte ich nur für mich geschrieben. Zum Spaß und zur Ablenkung vom Unistress oder davon, wie sehr ich Jenny vermisste. Doch dann war mein Ehrgeiz erwacht, und ich hatte immer mehr Zeit ins Komponieren und Songwriting gesteckt, die unvollständigen Sachen jedoch nie jemandem gezeigt. Ich hatte mir auch nie vorstellen können, dass jemand anderes als ich sie performte. Aber da hatte ich Grace auch noch nicht singen gehört, hatte noch nicht mit ihr daran gearbeitet, und sie hatte noch nicht so viel von sich selbst in diese Liedzeilen gesteckt. Sicher, ich hatte über zwanzig angefangene Musikstücke, manche mit Text, manche ohne. Aber das hier? Dieser Song? Der gehörte jetzt nicht mehr nur mir. Und ganz egal, ob Grace sich dessen bewusst war oder nicht, aber das war jetzt auch ihr Song.

  Sekundenlang hielt ich ihren Blick fest und fühlte mich sofort wieder an Samstagabend nach unserem Konzert zurückversetzt. Der Abend, an dem wir miteinander getanzt hatten und ich sie nach Hause gebracht hatte. Als würde sie dasselbe denken, blinzelte sie und setzte sich etwas auf. Ihr Haar fiel ihr ins Gesicht, und es juckte mich in den Fingern, es ihr hinters Ohr zu streichen. Stattdessen packte ich die Gitarre ein bisschen fester.

  »Willst du noch was trinken?«, fragte sie und sprang auf. »Ich brauche unbedingt noch etwas.«

  Ohne meine Antwort abzuwarten, tappte sie zu der winzigen Ecke hinüber, die nicht einmal den Namen Kochnische verdient hatte. Weil sie keine war. Wenn Grace kochte, benutzte sie die Gemeinschaftsküche, die es in jedem Stockwerk gab, wie sie mir vorhin erklärt hatte. Aber in der Ecke standen zumindest ein Mini-Kühlschrank und ein Wasserkocher. Alles, was man als Student brauchte, um während des Semesters zu überleben.

  Grace kehrte mit zwei Wasserflaschen zurück und gab mir eine davon. Kurz schien sie zu zögern, setzte sich dann jedoch wieder zu mir auf den Boden.

  Seit unserem Auftritt waren zwei Tage vergangen, trotzdem waren wir jetzt zum ersten Mal wieder völlig allein. Bis eben waren wir beide zu sehr auf die Musik konzentriert gewesen, um es zu realisieren, dafür ließ sich die Spannung zwischen uns jetzt kaum noch aushalten. Unsere Blicke trafen sich. Grace atmete tief ein und wieder aus. Ihre Lippen teilten sich ganz leicht beim Ausatmen und zogen unweigerlich meine Aufmerksamkeit auf sich. Sie hatte einen unglaublich schönen Mund, und wenn sie lächelte …

  Sie schluckte hart. »Ich glaube, du solltest jetzt besser gehen.«

  Ich sah ihr wieder in die Augen, suchte darin die Bestätigung für das, was sie soeben gesagt hatte – und konnte sie nicht finden. Grace wollte nicht, dass ich ging. Sie versuchte nur, vernünftig zu sein. Wahrscheinlich sollte ich ihr dafür dankbar sein, und ein Teil von mir war das bestimmt auch. Aber der andere war aus irgendeinem Grund aufgebracht. Wütend. Und frustriert. Vor allem frustriert.

  »Wirklich?«, hakte ich nach. »Wird das jetzt immer so zwischen uns laufen? Dass wir nicht mehr allein sein können?«

  »Maze …« Sie schien noch etwas sagen zu wollen, wandte den Blick jedoch ab und starrte auf die Papiere auf dem Boden. Mit den Fingerspitzen strich sie über das Blatt, das sie zuletzt in der Hand gehabt hatte. »Der Text ist gut so, wie er ist.«

  Ich schüttelte den Kopf und umklammerte die Wasserflasche eine Spur fester. »Er könnte so viel besser sein …«

  Sie hob den Kopf. Sah mich direkt an. »Manchmal ist es klüger, mit dem zufrieden zu sein, was man schon hat.«

  »Und manchmal ist es das Risiko wert«, gab ich, ohne nachzudenken, zurück.

  »Ist es das?«

  »Du bist das Risiko eingegangen und mit uns aufgetreten. Sag du es mir.«

  Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Das ist etwas anderes.«

  Das Plastik knirschte in meiner Hand. Ich musste mich dazu zwingen, den Blick abzuwenden, aber das Bild hatte sich dennoch in mein Bewusstsein eingebrannt. Verdammt, was machten wir hier eigentlich?

  »Du solltest mit ihr reden …«, sagte sie auf einmal. »Es wieder in Ordnung bringen.«

  Sekundenlang konnte ich sie nur anstarren. Woher zum Teufel wusste sie, dass mal wieder etwas zwischen Jen und mir nicht stimmte? Weibliche Intuition? Hatte sie etwas von dem Telefonat mitbekommen? Oder war ich mittlerweile einfach so leicht zu durchschauen?

  »Warum …?«, hakte ich vorsichtig nach.

  »Weil ihr zusammengehört. Du und Jenny …« Sie atmete tief durch und brachte sogar ein Lächeln zustande, auch wenn es ihre Augen nicht erreichte. »Was ihr habt, ist etwas ganz Besonderes. Mach es nicht durch Zweifel oder wegen etwas kaputt, das das Risiko nicht wert ist.«

  Ich kniff die Augen zusammen. »Warum sagst du das?«

  »Weil ihr zusammen gehö…«

  »Grace.«

  »Weil ich es nicht ertragen kann, wie es jetzt ist. Okay? Wenn dieses … dieses Vielleicht zwischen uns schwebt, wir aber beide wissen, dass es nie real sein wird.«

  Mir wurde erst kalt, dann warm. Mein Puls raste. Ich wusste, dass sie recht hatte und dass es falsch war, auch nur an diese Möglichkeit zu denken. Davon, sie anzusprechen, ganz zu schweigen. Aber ich konnte nicht anders.

  »Was, wenn die Dinge anders wären?«, stieß ich hervor. »Zwischen ihr und mir, meine ich. Zwischen … uns.«

  »Das sind sie aber nicht. Bitte, Maze …« Ihre Stimme begann zu zittern. »Bitte geh jetzt und bring es wieder in Ordnung.
Geh, bevor einer von uns oder wir beide etwas tun, das wir garantiert bereuen werden.«

  Ich konnte ihr diesen Wunsch nicht abschlagen, ganz egal, wie sehr sich alles in mir dagegen wehrte. Wenn sie mich auf diese Weise ansah, wenn ich so deutlich erkennen konnte, wie ernst und wichtig es ihr war, konnte ich gar nicht anders, als genau das zu tun, was sie von mir verlangte.

  Also packte ich die Papiere ein, nahm meine Gitarre und stand auf. An der Tür blieb ich stehen und warf einen letzten Blick zurück. Sie saß noch immer auf dem Boden, die Beine angezogen, versuchte sich an einem Lächeln und nickte mir aufmunternd zu. Und ich … ich wusste nicht, ob ich das einzig Richtige tat oder gerade den größten Fehler meines Lebens machte. Aber ich öffnete die Tür und ging.

  Kapitel 16

  Grace

  »Wie bitte? Du hast Mason geraten, sich mit Jenny auszusprechen?« Emery starrte mich an, als hätte ich gerade lautstark verkündet, während einer Broadway-Vorstellung auf die Bühne stürmen und die Hauptdarstellerin mit einem Bodycheck zu Boden reißen zu wollen.

  Auch Elle wirkte fassungslos, während Tate so aussah, als würde sie mich jeden Moment mit dem Löffel in ihrer Hand anfallen und ermorden wollen.

  Wir saßen in einer Eisdiele unter einem großen Sonnenschirm und genossen den warmen Dienstagnachmittag. Nach unseren Vorlesungen waren wir spontan Eis essen gegangen. Jede von uns hatte einen großen Becher vor sich stehen, abgesehen von Tate, die bereits ihren zweiten Milkshake trank. Das Ganze war Elles Idee gewesen, und ich hatte das Angebot angenommen, dankbar dafür, dass es mich von dem Gedankenkarussell ablenken würde. Zu allem, was ich für meine Seminare tun musste, der wachsenden Nervosität wegen dieses Band-Wettbewerbs und dem Chaos mit Mason hatte sich meine Mutter wieder mal bei mir gemeldet.

  Das Telefonat hatte wie immer begonnen, nämlich damit, dass sie eigentlich viel lieber mit meiner Schwester oder einer der anderen Modelmütter reden würde, was sie aber nicht konnte, da ich in keinem präsentablen Zustand war und sie sich das von ihren Konkurrentinnen nicht auch noch unter die Nase reiben lassen wollte. Daraus war eine Befragung geworden, was mein Essen und den Sport anging, den ich nicht machte, gespickt mit so vielen unterschwelligen Vorwürfen, dass ich am liebsten alles, was ich heute gegessen hatte, wieder ausgekotzt hätte. Nicht weil ich es wollte, sondern weil Mom mir das Gefühl gab, hundert Pfund zugenommen zu haben. Dabei wusste ich, dass es nicht stimmte. Ich wusste, dass ich vermutlich zum ersten Mal in meinem Leben Normalgewicht hatte. Minus ein paar Kilo, die ich während des Trainings mit Mason abgenommen hatte, plus ein wenig mehr Muskelmasse. Dennoch kamen all die alten Gefühle und Zweifel wieder hoch. Was mich gerettet hatte, war das Klopfen an meiner Tür gewesen. Emery, die ungeduldig darauf wartete, dass wir endlich losgingen. Das hatte mir die perfekte Ausrede geliefert, um das Gespräch zu beenden.

 

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