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Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition)

Page 26

by Bianca Iosivoni


  Trotzdem musste ich ausgerechnet jetzt an die vielen kleinen Momente zwischen uns zurückdenken. Momente, die es gar nicht geben dürfte. Wie Mason mich damals beim Vorsingen angesehen hatte … Wie er mich dazu überredet hatte, bei der Band einzusteigen, und dieses Lied gesungen hatte … Ausgerechnet Fuckin’ Perfect. Sofort hörte ich die Lyrics in seiner Stimme in meinem Kopf, und ich musste mich zusammenreißen, um nicht einfach die Augen zu schließen, damit ich mich ganz auf diese Stimme konzentrieren konnte. Aber das half auch nicht. Denn nun dachte ich stattdessen an sein freches Grinsen, seine übertrieben dramatische Art und daran, wie er mitten im Proberaum einfach nach meiner Hand gegriffen und mit mir getanzt hatte – und kurz danach auf dem Wohnheimdach zu Electro Swing. Seit dieser Nacht hörte ich das Lied, zu dem wir getanzt hatten, ständig. Aber das war noch längst nicht alles. Innerhalb kürzester Zeit war der Typ, von dem ich absolut nichts gehalten hatte, ein so großer und so wichtiger Teil meines Lebens geworden, dass ich Angst hatte, ihn wieder zu verlieren. Dadurch, dass wir einen Schritt weitergingen. Und dadurch, dass wir es nicht taten und für immer dieses Vielleicht zwischen uns schweben würde. Wir trainierten morgens nicht mehr miteinander, aber auch wenn es mich total fertiggemacht hatte, fehlte es mir irgendwie. Wir spielten noch immer in derselben Band, ich half ihm mit seinen Songtexten, er tröstete mich, und auf der Tanzfläche am Samstag … oder in meinem Zimmer gestern …

  Ich schluckte hart und wollte das Handy zurückgeben. Ich wusste, dass ich es tun sollte, da alles andere es nur schlimmer gemacht hätte. Aber dann sah ich das Foto.

  Mein Herz begann zu hämmern. Hitze sammelte sich in meinen Wangen. Ich hatte es nie zuvor gesehen, war mir nicht mal bewusst gewesen, dass Emery einen Schnappschuss von diesem Moment gemacht hatte, und dieses Foto jetzt in den Händen zu halten, war … war … Ich schluckte hart. Schüttelte den Kopf. Auf dem Bild hatten wir beide die Augen geschlossen und waren uns noch so nahe, dass ich das Gefühl hatte, selbst jetzt noch Masons warmen Atem auf meinen Lippen spüren zu können. Genau wie die Berührung …

  Damals war alles so schnell gegangen, dass ich mich innerlich überhaupt nicht darauf hatte einstellen können. Aber selbst wenn ich die Chance dazu gehabt hätte – der Kuss hätte mich trotzdem überrascht. Ich war überrumpelt gewesen davon, wie gut sich Masons Mund auf meinem anfühlte, wie weich er war und welchen Effekt dieser Silberring in seiner Unterlippe auf mich hatte. Doch vor allem hatte ich nicht damit gerechnet, wie zärtlich dieser Kuss sein würde. Ein sachtes Streifen von Lippen auf Lippen. Eine sanfte Berührung an meiner Wange bis zu meinem Kinn. Und dann war es, als würde ein Waldbrand ausbrechen. Aus den ersten Funken wurden Flammen – immer größer, heißer, alles verschlingend. Ich vergaß, wo wir waren und warum wir taten, was wir taten. Auf einmal war da nur noch Mason. Mein einziger Fokus. Mein einziger Fixpunkt. Ich wusste nicht mehr, ob ich die Lippen für ihn geöffnet hatte oder er den Kuss vertieft hatte, dafür erinnerte ich mich noch genau daran, wie es sich angefühlt hatte, als seine Zunge in meinen Mund geglitten war. Wie sehr ich ein Stöhnen hatte unterdrücken müssen und mir dennoch ein leiser Laut entkommen war. Am liebsten hätte ich diesen Kuss nie mehr beendet, aber nach einer Ewigkeit, die nicht mal ansatzweise lange genug gewesen war, hatte Mason sich von mir gelöst und den Kopf gehoben.

  Ich hatte die Augen geschlossen gehalten, wollte den Empfindungen nachfühlen, und als ich sie öffnete, erkannte ich dasselbe Chaos und dieselbe Verwunderung in seinem Blick. Wären Elle und die anderen nicht da gewesen – ich wusste nicht, was ich dann getan hätte.

  Nein, gestand ich mir jetzt seufzend ein, ich wusste genau, was ich getan und wie dieser Abend geendet hätte. Ich hatte es monatelang ignoriert, hatte die Erinnerung an diesen Kuss unterdrückt, und doch war er immer wieder in meinen Gedanken und Träumen aufgetaucht. Und mit ihm dieses winzige Etwas, das in letzter Zeit immer mehr Raum zwischen uns eingenommen hatte. Weil ich es zugelassen hatte. Denn wenn ich ganz ehrlich mit mir war, wollte ich nicht, dass Mason zu seiner Freundin zurückging. Ich wollte, dass aus diesem Vielleicht ein Sicher wurde. Und das machte mich zu einem ganz furchtbaren Menschen.

  Hastig riss ich den Blick von dem Foto los und drückte Emery das Smartphone in die Hand. »Wie gesagt: Zwischen uns läuft nichts. Außerdem ist er nicht mein Typ.«

  Ein, zwei Sekunden lang starrte Emery mich nur an, dann lachte sie los. Sie lachte einfach los. Es dauerte mehrere Minuten, in denen ich sie nur böse anfunkelte, bis sie sich wieder beruhigt hatte, obwohl sie sich noch immer den Bauch hielt.

  Elle und Tate unterbrachen ihr Gespräch und drehten sich verwundert zu uns um, aber Emery schüttelte nur kichernd den Kopf und wedelte mit der Hand, um ihnen anzudeuten, dass sie sich wieder auf die Straße konzentrieren sollten.

  »Sorry«, keuchte Emery eine Spur leiser und wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln, »aber das klang gerade so, als hättest du behauptet, er wäre nicht dein Typ.«

  »Ist er auch nicht!«, zischte ich. »Ich stehe nicht auf … auf … tätowierte Musiker und Exmilitärtypen mit … mit …«

  Einem unglaublichen Lächeln, einem frechen Sinn für Humor und einer Stimme, dir mir von der ersten Sekunde an unter die Haut gegangen war.

  »Und wenn schon.« Emery machte eine wegwerfende Handbewegung. »Denkst du etwa, Trevor war Tates Typ? Oder Luke der von Elle? Oder Dylan meiner? Scheiße, nein. Ich wollte einen riesigen Bogen um alle pseudoguten, netten Kerle machen. Dass er nicht dein Typ ist, tut absolut nichts zur Sache. Gefühle kümmern sich nicht um Typfragen.«

  Gut möglich. Und gut möglich, dass ich mehr für Mason empfand, als ich sollte. Viel mehr. Aber das änderte nichts an den Umständen.

  »Wieso reden wir überhaupt darüber, Em? Es ist ja nicht so, als würde ich mit ihm zusammen sein wollen. Ich meine … ich meine … er ist … Mason!«, deklarierte ich, als würde das alles erklären. »Außerdem hat er eine Freundin.«

  »Du meinst die Frau, die ihm das Leben mit ihren Allüren zur Hölle macht, die ihn zu allen möglichen Kompromissen zwingt und ihn zurückhält, statt ihn bei seinen Plänen zu unterstützen?«

  »Gott, Em …« Seufzend rieb ich mir über das Gesicht. Konnten wir bitte endlich bei diesem Kino ankommen? »Das geht mich nichts an. Außerdem sind Kompromisse in einer Beziehung völlig normal.«

  »Kompromisse, ja. Nicht völlige Selbstaufgabe.«

  Ich ließ die Hände sinken und starrte sie an. »Was willst du damit sagen?«

  »Wenn Jenny ihn vor die Wahl stellen würde: die Band oder sie. Was meinst du, wofür er sich entscheiden würde?«

  Sekundenlang konnte ich sie nur anstarren. »Das würde er … Er würde die Band nicht aufgeben. Oder?«

  »Das spielt gar keine Rolle, weil niemand seinen Partner vor so eine Wahl stellen sollte. Was meinst du, warum ich nicht einfach zu Dylan hingegangen bin und ihm gesagt habe, entweder er arbeitet weniger und verbringt mehr Zeit mit mir oder es ist aus? Weil das nicht fair ist. In einer Beziehung sollte man ein Team sein – und sich nicht gegenseitig erpressen. Aber Jenny würde so etwas tun. Ganz ehrlich? Ich bin überrascht, dass sie ihn nicht schon längst vor diese Wahl gestellt hat.«

  Ich schüttelte den Kopf. Weigerte mich, das zu akzeptieren. Und selbst wenn Jenny tatsächlich so weit gehen würde, ihn vor diese Wahl zu stellen. Er würde die Musik niemals aufgeben. Nicht mal für sie. Oder …?

  »Worauf willst du eigentlich hinaus?«, brachte ich hervor, auch wenn ich Angst vor der Antwort auf diese Frage hatte. »Dass er sich von Jenny trennt und mit mir zusammenkommt?«

  Kurz tat Emery so, als müsste sie darüber nachdenken, dann nickte sie entschieden. »Jepp. Das ist der Plan.«

  »Nein.«

  »Wie bitte?«

  Inzwischen hämmerte mein Herz nicht mehr nur, es raste. Und das war kein schönes Gefühl. »Du hast mich schon richtig verstanden. Die Antwort lautet Nein.«

  »Aber …«

  »Er liebt Jenny, ganz egal ob das dir und allen anderen gefällt. Ich bin die Letzte, die die bei
den auseinanderbringen will, weil ich genau weiß, wie es sich anfühlt, einfach fallen gelassen zu werden, okay? Außerdem …« Tränen traten mir in die Augen und ich wischte mir verärgert über die Augenwinkel. »Außerdem hasse ich es, ständig die zweite Wahl zu sein. Ich will das nicht. Nie wieder.«

  Vor allem nicht bei ihm. Nicht bei Mason. Das würde ich nicht ertragen.

  »Grace …«

  »Nein. Das war’s.« Ich atmete tief durch. »Themenwechsel.«

  Emery zögerte, ganz so, als würde sie überlegen, wie weit sie gehen konnte. Seit wir uns kannten, schenkten wir uns nichts. Wir waren befreundet, ja, aber wenn es darauf ankam, konnten wir uns auch alles ins Gesicht sagen. Das war nicht immer schön, manchmal tat es sogar weh, aber ich wusste auch, dass es niemanden gab, der so ehrlich und direkt zu mir war wie Emery. Doch ganz egal, wie forsch sie war, sie wusste auch, wann sie nicht mehr weiterkam. Und dieser Zeitpunkt war jetzt erreicht.

  Zwischen Mason und mir würde nie etwas sein, das über Freundschaft hinausging. Und das war genug. Es musste genug sein.

  Kapitel 17

  Mason

  Ich bin nicht wie du, Mann. Ich habe nicht mein ganzes Leben durchgeplant. Nach dem Studium will ich nicht irgendwo ein Haus kaufen, mich niederlassen und irgendeinen dämlichen Bürojob machen, bis ich tot umfalle oder alt, arm und einsam sterbe.

  Die Worte von Pax schwirrten mir selbst Stunden später noch durch den Kopf, als ich durch den Park in der Nähe der Uni joggte. Er war nach unserem letzten Kurs damit herausgeplatzt, als wir zusammen zurück zu den Wohnheimen liefen. Ich wusste ja, dass er Schiss vor dem hatte, was nach seinem Abschluss kommen würde, aber ich hatte keine Ahnung, dass es so schlimm war. Anscheinend wollte sein Dad nicht länger für seine Collegeausbildung zahlen, also musste Pax sich schon jetzt einen Nebenjob suchen. Und er hasste es. Er hasste jede Sekunde davon. Wenn er könnte, würde er für immer Musik machen. Ein Grund mehr für uns, diesen Wettbewerb zu gewinnen, das Preisgeld einzuheimsen und idealerweise sofort den Plattenvertrag zu unterschreiben.

  Scheiße, Pax hatte unrecht. Ich wollte auch keinen Job, bei dem ich von morgens bis abends für jemand anderen schuften musste. Für jemanden, der im Gegensatz zu mir seine Träume verwirklicht hatte. Ich saß nicht Nacht für Nacht und in jeder freien Minute an meinen Songtexten und komponierte Musik, weil ich nichts Besseres mit meiner Zeit anzufangen wusste. Ich wollte es schaffen. Ich wollte Musik machen. Aber wie passte das noch zu den Plänen, die Jenny und ich hatten?

  Ich schüttelte den Kopf und rannte weiter. Wir hatten Pläne, ja, aber Pläne konnten sich ändern. Ich konnte beides haben: die Musik und das Mädchen. Solange Jenny und ich bereit waren, um unsere Beziehung, um uns zu kämpfen, konnten wir alles haben, was wir uns wünschten. Wir brauchten nur ein bisschen Zeit und Ruhe, um uns auszusprechen und herauszufinden, was genau wir beide wollten. Aber dafür würde ich sorgen. Ich hatte schon alles vorbereitet.

  Rund eine halbe Stunde später kehrte ich durchgeschwitzt ins Wohnheim zurück. Nach dem langen Unitag und dem Gespräch mit Pax hatte ich mich spontan dazu entschlossen, joggen zu gehen, um den Kopf freizukriegen. Vielleicht fehlte mir auch einfach das morgendliche Training. Grace und ich hatten zwar den Streit beim abrupten Ende unserer Trainingssession geklärt, aber nicht noch mal darüber gesprochen, ob wir das Bootcamp-Workout wieder aufnehmen wollten. Und auch wenn ich mir sicher gewesen war, absolut gar nichts von meiner Zeit beim Militär zu vermissen, stellte ich immer wieder fest, dass es da doch die eine oder andere Sache gab, die mir fehlte.

  Obwohl bereits die ersten Sterne über mir funkelten, war es noch nicht richtig Nacht, als ich das Wohnheim betrat und trotz brennender Muskeln die Stufen bis ins dritte Stockwerk nahm. Ich rechnete damit, einen meiner Mitbewohner anzutreffen, doch als ich die Tür öffnete, war die Wohnung dunkel. Emerys Zimmertür stand weit offen, die unseres stillen Austauschstudenten war verschlossen. Wie immer. Irgendetwas sagte mir, dass wir in diesem Leben keine Freunde mehr werden würden.

  Als Erstes steuerte ich die Küche an, riss eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank und trank sie in großen Schlucken zur Hälfte aus. In den letzten achtundvierzig Stunden hatte ich mir Grace’ Worte zu Herzen genommen. Zumindest hatte ich es versucht. Gott, und wie ich es versucht hatte. Aber so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte meine Beziehung nicht allein retten. Jenny musste es auch wollen. Und ich konnte nur hoffen, dass sie das geplante gemeinsame Wochenende genauso sehr wollte und brauchte wie ich. Wir mussten uns nur mal hinsetzen und über alles reden. Alles klären. Unsere gemeinsamen Pläne neu ausrichten. Dann würde dieses ungute Gefühl in meiner Brust, wann immer ich an die Zukunft dachte, hoffentlich genauso verschwinden wie diese ganze Unsicherheit zwischen Jenny und mir.

  Ich warf einen kurzen Blick auf den Schrittzähler an meinem Handgelenk, der auch die Uhrzeit anzeigte. Acht Uhr dreißig. Sehr gut. Noch eine halbe Stunde, bis Jenny hier sein würde.

  Nachdenklich betrachtete ich den Blumenstrauß, der, in Ermangelung einer Vase, in einem leeren Putzeimer stand. Bunte Zinnien und natürlich weiße Rosen – ihre Lieblingsblumen. Auf die Schokolade hatte ich verzichtet. Das wäre vielleicht etwas zu viel des Guten gewesen und könnte so wirken, als wollte ich mich entschuldigen. Oder hätte ein schlechtes Gewissen. Stattdessen hatte ich alle Hebel in Bewegung gesetzt, um den Inhalt des unscheinbaren weißen Umschlags möglich zu machen, der neben den Blumen auf dem Couchtisch stand: ein gemeinsames Wochenende in Vermont. Dads ehemaliger Militärkamerad hatte ein Ferienhaus an einem wunderschönen See, das er meinen Eltern schon öfter zur Verfügung gestellt hatte. Nun nutzte ich diese Beziehung schamlos aus. Aber Jenny und ich brauchten dringend ein bisschen Zeit für uns. Ganz ohne Verpflichtungen, ohne Unterbrechungen und vor allem ohne andere Menschen. Außerdem wusste ich, dass Vermont sehr weit oben auf ihrer Reiseliste stand und sie es bisher noch nicht geschafft hatte, dorthin zu fahren. Gab es eine bessere Gelegenheit dafür als ein gemeinsamer Ausflug?

  Ich nahm noch einen großen Schluck, stellte die Flasche zurück in den Kühlschrank und ging dann ins Bad. Noch auf dem Weg dorthin zog ich die Schuhe aus und ließ das durchgeschwitzte ärmellose Shirt auf den Boden fallen. Als mich kurz darauf der kalte Strahl traf, zuckte ich fluchend zusammen, wich aber nicht aus, sondern wartete, bis das Wasser wärmer wurde und meine Muskeln sich zu entspannen begannen. Seufzend stützte ich mich mit den Händen gegen die kalten Fliesen und schloss die Augen.

  Ich konnte verstehen, wieso Luke ständig joggen ging. Nicht nur, weil er im Leichtathletikteam war und sich fit halten musste, sondern auch, weil man sich für eine kurze Zeit völlig ausklinken konnte. Kein Gedankenkarussell mehr, keine widersprüchlichen Gefühle, keine Zweifel. Plötzlich schien alles völlig klar zu sein. Leider hielt die Wirkung nicht so lange an wie erhofft, denn meine Gedanken wanderten in Richtungen, in die sie nicht gehen sollten. Zu dem Moment, in dem ich auf die Bühne gegangen war, das Publikum nach Jenny abgesucht und sie nicht gefunden hatte, zum Beispiel. Weil sie nicht da gewesen war. Dafür erinnerte ich mich sehr genau daran, wie Grace mich an jenem Abend angesehen hatte. Als wir bei dem Konzert zusammen gesungen hatten. Später auf der Tanzfläche. Als ich sie nach Hause gebracht hatte. Und als sie mich vor zwei Tagen in ihrem Zimmer darum gebeten hatte, zu gehen …

  Ah, falsche Abzweigung, Lewis!

  Ich zwang meine Gedanken zurück in die Gegenwart und zu der Überraschung, die ich für Jenny geplant hatte. Ich war mir sicher, dass sie sich darüber freuen würde. Wie könnte sie auch nicht? Ich hoffte nur, dass wir nicht einen auf Emery und Dylan machten und ausgerechnet die fehlende Zeit zu unserem Problem wurde. Seit ihrem Streit hatte ich die beiden nicht mehr zusammen gesehen und auch mit Emery nur heute Mittag kurz gesprochen. Die Nacht hatte ich damit verbracht, kaum zu schlafen und stattdessen an meinen Songs gearbeitet und mich frühmorgens dann in meine ersten Vorlesungen geschleppt. Immer mit dem Smartphone in der Hand, um auf keinen Fall Dads Rückruf zu verpassen, ob Vermont klappte oder nicht.

  Ich schaltete das kalte Wasser wieder ein und
rieb mir mit beiden Händen übers Gesicht.

  In meinem Kopf hallten erneut Grace’ Worte wider. Ihre Bitte. Ich wollte das mit Jenny wieder in Ordnung bringen. Das wollte ich wirklich. Aber da war auch diese winzig kleine Stimme in meinem Bewusstsein, die mich fragte, wie zum Teufel ich Zeit mit meiner Freundin verbringen sollte, wenn ich ständig an Grace denken musste? Doch genauso schnell, wie diese Stimme auftauchte, brachte ich sie wieder zum Verstummen. Oder versuchte es zumindest. Denn ganz ehrlich? Was sollte ich sonst tun? Sollte ich einfach meine Beziehung und all unsere Pläne, Jennys und meine ganze Zukunft wegwerfen für etwas, das nicht mal einen Namen hatte? Für ein Vielleicht, wie Grace es genannt hatte? Die Antwort darauf war eindeutig: nein. Nur kam sie mir lange nicht so leicht über die Lippen, wie sie sollte.

  »Reiß dich zusammen, Lewis. Du schaffst das«, knurrte ich und tastete nach meinem Hair&Body-Shampoo. Ich öffnete die Flasche, schüttete etwas davon in meine Hand und verteilte die Masse zuerst in meinen Haaren und dann auf dem Oberkörper. Erst als mir der süßliche Duft in die Nase stieg, bemerkte ich meinen Fehler.

  Scheiße, das war nicht mein Duschgel, sondern das von Emery. Hektisch wusch ich es ab und griff nach meinem eigenen, aber der Geruch blieb an mir haften. Statt männlich, frisch und sportlich zu riechen, duftete ich jetzt nach einer Blumenwiese. Oder einem Süßigkeitenladen. Ganz toll.

  Ich rieb mich mit dem Handtuch trocken, band es mir um die Hüften und hob auf dem Weg in mein Zimmer meine Sportsachen auf, um sie dort direkt in die Ecke zu pfeffern. Lange würden sie da ohnehin nicht liegen bleiben, denn wenn mir meine Großeltern väterlicherseits während der Sommer, die ich immer bei ihnen verbracht hatte, eine Sache eingetrichtert hatten, dann, dass ich so viel Chaos hinterlassen konnte, wie ich wollte – solange ich hinter mir aufräumte. Und das tat ich bis heute.

  Ich zog eine dunkle Jeans an, von der ich wusste, dass Jenny sie heiß an mir fand, dazu eine ärmellose Sweatweste, und tappte barfuß zurück ins Wohnzimmer. Mein Haar würde innerhalb von Minuten trocknen und bedurfte keines Stylings. In der Highschool hatte ich es deutlich länger getragen, aber während der Zeit bei der Army hatte ich die Vorteile von Viertelzoll-Haarschnitten kennen und lieben gelernt.

 

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