Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition)

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Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition) Page 32

by Bianca Iosivoni


  Sie erschauerte in meinen Armen, drehte den Kopf etwas zur Seite und hielt meinen Blick fest. Dann breitete sich das schönste Lächeln auf ihrem Gesicht aus, das ich je gesehen hatte. Und dieses Lächeln brachte mich nicht dazu, an Ort und Stelle über sie herfallen zu wollen. Es brachte mich dazu, sie in den Armen halten, sie küssen und vor allem Bösen beschützen zu wollen. Weil sie es verdient hatte. Grace hatte jemanden verdient, der ihr die Welt zu Füßen legte. Und ich wollte dieser jemand für sie sein.

  Aus dem Gang waren Schritte und Stimmen zu hören.

  »Wir sollten jetzt besser gehen, bevor uns das Orchester rausschmeißt.«

  Sie nickte. Aber statt sich sofort aus meinen Armen zu befreien, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und gab mir einen letzten, viel zu kurzen Kuss. Erst dann löste sie sich von mir, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen, und schnappte sich ihre Collegetasche. Schnell packte ich meine Gitarre ein, hob meinen Rucksack vom Boden auf und legte den Arm um ihre Schultern, als wir erst den Proberaum und dann das PAC verließen.

  »Wo wollen wir hin?«, fragte ich, als wir in den warmen Septemberabend hinaustraten. Die Sonne war schon untergegangen, aber am Horizont war noch ein Farbspektakel aus Rot, Orange und Violett zu erkennen.

  Grace musste nicht lange überlegen. »Zu mir. Da haben wir Ruhe und können an deinem Song arbeiten.«

  »Und keine Mitbewohner, die stören«, fügte ich schmunzelnd hinzu.

  »Du bist unmöglich.«

  Grinsend griff ich nach ihrer Hand und hauchte einen Kuss auf ihre Knöchel, dann verschränkte ich meine Finger mit ihren. Vielleicht sollte es merkwürdig sein, zum ersten Mal Händchen haltend über den Campus zu laufen. Oder überhaupt ihre Hand zu halten. Aber es fühlte sich völlig natürlich an. Völlig richtig. Und wie schon heute Mittag konnte ich es auch jetzt nicht fassen, dass ich so lange so verdammt blind gewesen war.

  Wir schafften es in Rekordzeit in ihr Zimmer. Kaum fiel die Tür hinter uns zu, landeten Tasche, Rucksack und Gitarrenkoffer auf dem Boden und wir kurz darauf in ihrem Bett.

  Später, nachdem wir etwas gegessen und uns tatsächlich auch noch den Songtexten gewidmet hatten, lagen wir nebeneinander im Bett. Ich auf der Seite, den Kopf in die Hand gestützt, sie auf dem Rücken und an mich geschmiegt, während draußen die Nacht hereinbrach und die ersten Regentropfen gegen die Scheibe prasselten. Wir sprachen kein Wort, aber es war ein angenehmes, fast schon entspannendes Schweigen, das sich über uns gelegt hatte. Vielleicht, weil es sich wieder so anfühlte, als wären wir ganz in unserer eigenen Welt. Das gedämpfte Licht vom Nachttisch hüllte uns ein, während der Rest des kleinen Zimmers in Dunkelheit getaucht blieb.

  Grace strich mit den Fingerspitzen über meine Tattoos, fuhr die schwarzen Linien und Wörter so zärtlich nach, dass ein warmes Kribbeln auf meiner Haut zurückblieb. Erst als sie die Augen zusammenkniff und den Kopf etwas anhob, realisierte ich, dass sie die Schrift zu entziffern versuchte.

  »Das sind Lyrics aus meinen Lieblingsliedern, von Songs, die mir geholfen oder mir Kraft gegeben haben.« Ich nahm ihre Hand in meine und setzte sie auf eine Stelle knapp unter meiner Schulter. »Die Zeile ist aus dem Lied, das meine Mom früher immer gesungen hat, wenn sie den Abwasch gemacht hat. Und die hier ist aus dem Titelsong einer furchtbaren Telenovela«, fügte ich hinzu und zog ihre Finger zu meinen Rippen.

  »Einer Telenovela?«, wiederholte Grace ungläubig.

  Ich grinste, auch wenn ich spürte, wie ich rot wurde. »Nonna schaut sie seit Jahren. Sie wohnt im selben Haus wie meine Eltern – Grandpa und sie sind kurz nach meiner Geburt dort eingezogen, als eine Wohnung frei wurde. Ich bin praktisch mit dieser Sendung aufgewachsen, auch wenn ich kaum etwas davon gesehen habe.«

  Ein warmes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus und sie fuhr die Wörter ein weiteres Mal nach. »Das ist kein Englisch«, stellte sie fest. »Auch kein Spanisch. Aber ein paar Wörter kommen mir bekannt vor.«

  »Italienisch«, half ich ihr und hob ihre Hand an meine Lippen, um ihre Fingerknöchel zu küssen. »Nonna ist in Italien aufgewachsen. Sie war bei Verwandten zu Besuch in den Staaten und hat sich in meinen Großvater verliebt.«

  »Und dann ist sie hiergeblieben?«

  Ich schüttelte den Kopf. »Sie musste zurück, und er hatte sich für die Army verpflichtet, also haben sich ihre Wege erst mal getrennt. Er war in Vietnam, und sie haben sich Briefe geschrieben. Er hat sich geschworen, dass er ihr einen Antrag machen wird, wenn er zurückkommt. Und das hat er dann auch getan.«

  »Wow …«

  »Sie sind nach West Virginia gezogen, weil Grandpa hier etwas Land von seinem Vater geerbt hat. Aber es hätte auch ganz anders laufen können. Sie hätten auch nach Italien gehen und dort bleiben können. Sie hätten auch nie heiraten können, weil sie so verschieden waren und zu zwei unterschiedlichen Nationen gehörten. Grandpa hätte auch im Krieg fallen können …«

  Grace unterbrach mich, indem sie einen Finger auf meine Lippen legte. »Ich bin froh, dass alles so gekommen ist, wie es ist. Alles«, wiederholte sie und ich konnte gar nicht anders, als sie anzulächeln.

  »Ich auch«, erwiderte ich leise und küsste ihren Finger. »Ganz besonders darüber, dass du ausgerechnet an dieses College gekommen bist.«

  »Das war reiner Zufall, weißt du?« Sie drehte sich ebenfalls auf die Seite und stützte sich auf einem Ellenbogen auf. »Ich wollte unbedingt weg von zu Hause. Weg von meinem alten Leben, meiner Familie und meiner Mutter. Ich musste einfach … weg, sonst wäre ich genauso geendet wie sie. In einer unglücklichen Ehe mit einem Kerl, der sie betrügt, und ohne irgendeinen Lebensinhalt, abgesehen von Countryclubs und Misswahlen.« Sie schüttelte sich. »Gillian hat mich dabei unterstützt. Es hat eine Weile gedauert, bis ich herausgefunden habe, was ich wirklich machen will. Ich habe sogar ein paar Kurse an ihrem College besucht und eine Menge darüber gelernt, was ich nicht machen will. Deshalb habe ich erst ein Jahr nach der Highschool angefangen. Wir haben zusammen Universitäten rausgesucht, die möglichst weit weg sind und ein gutes Programm für Theater und Musik anbieten.«

  Ich strich ihr das Haar aus der Stirn. »Warum ist es keine Ivy League oder eine andere Eliteuni geworden?«

  Sie zuckte mit den Schultern. »Ich hatte die Noten dafür, aber ich wollte … keine Ahnung. Ich wollte nicht noch mehr von meinen Eltern abhängig sein, indem sie ein super teures College für mich bezahlen. Blackhill ist keine Privatschule und außerdem ziemlich klein. Ich kann sie mir von dem Fonds leisten, den meine Großeltern noch vor meiner Geburt für mich angelegt haben. Und von dem Preisgeld der Misswahlen. Außerdem wollte ich nicht, dass Mom und Dad irgendwie stolz auf mich sind, weil das hier nicht ihr Verdienst ist. Keiner von ihnen hat sich je darum bemüht, mich auf ein College zu schicken. Das war ganz allein meine Entscheidung. Ergibt das Sinn …?«

  Ich nickte. Schon jetzt wurde klar, in was für unterschiedlichen Verhältnissen wir aufgewachsen waren. Ihre Familie schien wohlhabend, aber auch zerrüttet zu sein. Ich war nur froh, dass wenigstens ihre Schwester zu ihr hielt. Meine Familie dagegen war nie besonders reich gewesen, dafür hatte es so viel Liebe, Lachen und unendlich viele Küsse und Umarmungen gegeben. Aber auch bei uns war nicht immer alles sonnig gewesen.

  »Ich hatte einen ziemlichen Krach mit Dad, was das Militär anging«, gestand ich nach einem Moment. »Er und Grandpa waren beide Marines, hochdekorierte noch dazu, und er wollte, dass ich in ihre Fußstapfen trete. Ich hatte andere Pläne.«

  »Aber du warst doch beim Militär …«

  »Ja. Aber nicht, weil es meine erste Wahl war, sondern weil ich damit alle zufriedenstellen und zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen konnte.« Bei der Erinnerung zog sich mein Magen zusammen, dennoch erzählte ich Grace von den Gründen dafür, dass ich doch noch zur Armee gegangen war, und welche Rolle Jenny darin gespielt hatte.

  »Bereust du es?« Sie sah mich nicht an, sondern beobachtete ihre Finger dabei, wie sie wieder über die Noten und Liedzeilen meiner Tattoos strichen.

  Irgendetwas sagte mir, dass
sie damit nicht nur meine Zeit beim Militär meinte.

  »Nein.« Ich hob ihr Kinn an und hielt ihren Blick fest. »Ich bereue gar nichts. Höchstens, dass es so lange gedauert hat, bis wir beide hier gelandet sind.«

  Mehrere Sekunden lang sagte sie nichts, als müsste sie die Worte auf sich wirken lassen oder nach ihrem Wahrheitsgehalt in meinem Gesicht suchen. Doch dann nickte sie und ließ sich seufzend in die Kissen zurückfallen. »Ich bereue vieles, aber das hier mit uns … das definitiv nicht.«

  Sie tat es schon wieder. Sie schlich sich in mein Herz, obwohl ich sicher gewesen war, gar nicht noch heftiger für sie empfinden zu können. Und jetzt lag sie da, ihre Finger mit meinen verschränkt und schmiegte sich mit dem Rücken an mich.

  »Schlaf gut«, raunte ich und strich mit den Lippen über ihre Schläfe, dann legte ich den Arm um sie und schloss ebenfalls die Augen.

  Kapitel 21

  Grace

  Am Donnerstagmorgen erreichte mich eine E-Mail meiner Mutter. Die fünfte in den letzten drei Tagen. Vielleicht hätte ich ihr schon auf die erste antworten und ihre Anrufe nicht ignorieren sollen, aber ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Nein, genau genommen wusste ich es schon, aber meine Antwort hätte nur zu einer endlosen Diskussion zwischen uns geführt, und das konnte ich gerade nicht gebrauchen. Zum ersten Mal seit Langem fühlte ich mich wieder richtig wohl. Ich war glücklich. Mason machte mich glücklich. Mein Studium und die Aussicht auf das Theaterstück, in dem ich die Hauptrolle spielte, machten mich glücklich. Meine Freunde machten mich glücklich.

  Ich weigerte mich, mir das von Moms Nachrichten vermiesen zu lassen, in denen sie sich über meine Chancen bei der anstehenden Miss-Winternight-Wahl zu Hause in Montana ausließ. Ich hatte nie wirklich zugesagt. Sie hatte mich einfach angemeldet und mir regelmäßig neue Ernährungs- und Sportpläne geschickt. Und ja, ich hätte ihr schon viel früher sagen müssen, dass ich nicht vorhatte, an diesem oder irgendeinem anderen Wettbewerb teilzunehmen, aber nach dem Fiasko bei der letzten Misswahl hatte ich es nicht über mich gebracht, abzulehnen. Allerdings hatte ich definitiv nie Ja gesagt. Und jetzt terrorisierte sie mich mit Nachrichten darüber, warum ich mich nicht an ihre Pläne hielt und ob mir das alles ganz egal wäre; ob ich nur mitmachte, um dann am Ende doch zu versagen und sie und unsere Familie wieder in ein schlechtes Licht zu rücken. Die Liste ging endlos weiter.

  Ein Teil von mir verstand meine Mutter ja. Sie war selbst eine erfolgreiche Miss Montana gewesen, hatte mit Gillian bereits eine wunderschöne, talentierte Miss herangezogen und ich … ich war in aller Öffentlichkeit gescheitert. Ich war eine Blamage für sie. Eine, die sie so schnell wie möglich durch einen Erfolg ersetzen wollte.

  Manchmal fragte ich mich, ob ihr der Widerspruch wirklich nicht auffiel – auf der einen Seite wollte sie unbedingt, dass ich an weiteren Wettbewerben teilnahm, auf der anderen ließ sie keine Gelegenheit aus, mir zu sagen, wie viel Arbeit ich noch in meine Figur und mein ganzes Äußeres stecken musste, damit ich überhaupt eine Chance hätte. In der Mail von heute Morgen ließ sie allerdings verlauten, dass sie gerne vorbeikommen und mich persönlich auf die Wahl zur Miss Winternight vorbereiten würde. Etwas, das sie nie zuvor geschrieben hatte und das all meine Alarmglocken gleichzeitig losschrillen ließ.

  Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie das wirklich durchziehen würde, aber ich wollte auch nichts riskieren. Also tippte ich auf dem Weg in meine erste Vorlesung eine schnelle Antwort, die sie hoffentlich fürs Erste hinhalten würde: Ich denke darüber nach. Das würde ich nicht tun, das wollte ich nicht tun, aber ich spürte jetzt schon, wie sich dieselbe leise Stimme in meinem Hinterkopf meldete wie früher schon.

  Hatte ich überhaupt noch die richtigen Maße, um an einer Misswahl teilzunehmen? Nur zu deutlich erinnerte ich mich an Moms entsetzten Ausdruck, als ich in den Semesterferien nach Hause gekommen war. Genau wie an ihre Worte. Oh, Schätzchen, wie siehst du nur aus? Keine Sorge, das kriegen wir schon wieder hin.

  Als ich nach dieser Halloweenparty im Krankenhaus aufgewacht war, hatte ich mir vorgenommen, nichts mehr nur anderen zuliebe tun. Das betraf vor allem Schönheitswettbewerbe. Aber ich wusste auch, wie wichtig sie für meine Mutter waren. In ihrer Welt öffneten solche Veranstaltungen einer jungen Frau Tür und Tor, sei es für lukrative Werbeverträge, Modelagenturkontakte oder einen reichen Ehemann. Nichts davon stand auf meiner Lebenswunschliste.

  Aber was, wenn ich nur an einem einzigen weiteren Wettbewerb teilnahm? Wenn ich tatsächlich bei dieser Miss-Winternight-Sache mitmachte, um sie zu beruhigen und ihr zu beweisen, dass ich es konnte. Dass ich nicht nur eine einzige Enttäuschung für sie war. Aber was, wenn ich versagte, so wie beim letzten Mal?

  Ich schüttelte den Kopf und versuchte, all diese Gedanken zu vertreiben. Heute Morgen war ich mit einem Lächeln aufgewacht, auch wenn ich allein in meinem Bett gewesen war. Trotzdem war da dieses schöne, warme Gefühl in meiner Brust gewesen, das ich mir nicht nehmen lassen wollte. Doch jetzt schlichen sich all die alten Zweifel wieder ein, die ich Anfang des Semesters noch mit dem Bootcamp-Training zum Schweigen gebracht hatte. An diesem Morgen gab es jedoch nichts, das sie verstummen ließ.

  Ich warf das Handy zurück in meine Tasche und ließ es ganz tief zwischen die Bücher und den Laptop sinken, damit ich nicht in Versuchung geriet, danach zu greifen und Mom noch mal zu schreiben. Oder nachzusehen, ob sie mir geantwortet hatte.

  Erst als ich den Kopf hob, merkte ich, dass ich die Kreuzung vor unseren Wohnheimen schon erreicht hatte – und dabei war, in jemanden reinzulaufen, der dort stand und darauf wartete, dass die Ampel umschaltete.

  »Ey! Hast du keine Augen im Ko… oh.« Tate musterte mich stirnrunzelnd. »Morgen.«

  Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Guten Morgen.«

  »Warum bist du so früh schon unterwegs?«

  »Weil ich eine Vorlesung habe …?« Ich blinzelte irritiert. Aus irgendeinem Grund kam ich mir auf einmal vor wie bei einem Verhör. Dabei war es kurz vor acht. Auch andere Leute liefen auf dem Weg zu ihren ersten Kursen über den Campus. Aber vielleicht war Tate auch einfach kein Morgenmensch.

  »Und ich dachte, ihr verlasst das Liebesnest nicht vor zwei Uhr nachmittags.« Die Andeutung eines Lächelns, dann schob sie den Gurt ihrer Tasche höher und zupfte ein paar Haarsträhnen darunter hervor, die sich verfangen hatten.

  Die Ampel schaltete um, und wir setzten uns in Bewegung. Tate und ich mochten zwar zum selben Freundeskreis gehören, aber wir waren nie wirklich Freunde geworden. Anders als Emery, mit der mich eine lange Geschichte verband, oder Elle, die man einfach gernhaben musste, war Tate schon immer etwas distanziert rübergekommen. Gut möglich, dass ich aber auch die Distanz gesucht hatte, weil sie so aufmerksam war und kein Blatt vor den Mund nahm. Einmal hatte sie mir gesagt, ich würde sie an sich selbst vor ein paar Jahren erinnern. Wie sich herausstellte, war das kein Kompliment gewesen.

  »Also … du und Mason …« Sie warf mir einen prüfenden Seitenblick zu.

  Oh, oh. Aus irgendeinem Grund begann mein Herz schneller zu pochen.

  »Ja …?«

  Tate warf das dunkle Haar über die Schulter zurück. »Du hast mir mal geholfen, also gebe ich dir einen gut gemeinten Rat. Maze ist ein guter Kerl. Er hat mehr verdient als eine Frau, die es nicht ernst mit ihm meint. Also spiel keine Spielchen mit ihm, verstanden?«

  »Warum klingt das mehr nach einer Warnung als nach einem Rat?«

  Sie lächelte mörderisch. »Weil es auch eine ist.«

  Glaubte sie etwa, das hier wäre nur ein Spiel für mich? Eine Affäre? Eine Ablenkung? Das war es nicht. Das war es auf keinen Fall.

  Schweigend gingen wir weiter, doch das seltsame Gefühl, die nagenden Selbstzweifel, die sich schon heute Morgen in mein Bewusstsein geschlichen hatten, blieben.

  Wir kamen gerade am Memorial Fountain vor dem Hauptgebäude vorbei, als ich eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm. Zunächst wusste ich nicht mal, warum ausgerechnet sie meine Aufmerksamkeit auf sich zog, schließlich liefen hier überall andere S
tudenten herum. Viele davon hetzten über den Campus, andere schlurften im Zombiemodus mit Coffee-to-go, Smartphone und Kopfhörern weiter.

  Nichts davon war außergewöhnlich, schon gar nicht an einem ganz normalen Donnerstagmorgen mitten im Herbstsemester. Nicht einmal Mason und Jenny zusammen neben dem Springbrunnen zu sehen, wäre außergewöhnlich … zumindest nicht, wenn man nicht gerade die letzten Nächte mit Mason verbracht hätte.

  Meine Bewegungen wurden langsamer, bis ich schließlich ganz stehen blieb. Tate lief ein paar Schritte weiter, dann schien sie zu bemerken, dass ich fehlte, und drehte sich zu mir um. Sie folgte meinem Blick und runzelte die Stirn.

  Meine Beine waren wie festgefroren, und auch wenn ich wusste, dass ich mir das nicht antun sollte, konnte ich nicht anders. Dafür war die Erfahrung mit Daniel noch zu frisch. Dafür hatte mich die Art, wie Stephen mich in der Highschool betrogen hatte, zu tief verletzt und mein Selbstbewusstsein unter sich begraben.

  Ich wusste, dass ich Mason vertrauen konnte. Er würde mir niemals absichtlich wehtun. Das war nicht seine Art. Aber als er Jenny jetzt umarmte, musste ich mir dennoch fest auf die Lippen beißen und mich dazu zwingen, den Blick abzuwenden.

  Tate schüttelte den Kopf. »Das hat nichts zu bedeuten.« Ihre Stimme klang entschieden, aber auch so, als würde sie gleich einen Mord begehen wollen. Wobei das auch ihre typische morgendliche Stimmung sein konnte. »Sie haben eine lange, verquere Geschichte, das lässt sich nicht so einfach abhaken.«

  Tu es nicht. Tu es nicht, Grace. Halt einfach den Mund.

  »Was für eine Geschichte?«, fragte ich und hätte mich im nächsten Moment am liebsten selbst geohrfeigt. Ich wollte es nicht hören. Ich wollte absolut nicht hören, wie Mason und Jenny sich kennengelernt und ineinander verliebt hatten. Aber für einen Rückzieher war es jetzt zu spät.

  Tate seufzte und verdrehte die Augen. »Ich war mit Luke auf einer anderen Highschool, also habe ich es nicht live und in Farbe miterlebt, aber Dylan zufolge war Mason schon in seinem ersten Jahr an der Highschool in Jenny verknallt. Und ihr ging es genauso, aber das haben sie erst später herausgefunden, weil beide zu schüchtern waren, etwas zu unternehmen. Total dämlich, wenn du mich fragst.« Sie schnaubte und warf einen flüchtigen Blick auf ihr Handy.

 

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