Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition)

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Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition) Page 33

by Bianca Iosivoni


  Ich hatte keine Ahnung, ob wir noch Zeit bis zu unseren Vorlesungen hatten oder schon zu spät dran waren.

  »Nachdem Dylan und Luke ihn ewig bearbeitet haben, hat Maze dann doch den ersten Schritt gewagt und sie angesprochen. Danach waren sie unzertrennlich. Händchen halten, im Gang rumknutschen, sich ständig mit irgendwelchen Textnachrichten vollsülzen – das ganze Programm. Hast du gewusst, dass Maze nur ihr zuliebe zwei Jahre später mit dem Studium angefangen hat?« Tate wartete meine Antwort gar nicht erst ab, sondern sprach schon weiter. Anscheinend hatte sie sich in Rage geredet. »Was für ein Idiot macht so was? Aber der Kerl ist eben ein unverbesserlicher Romantiker. Er hat Jenny die Welt zu Füßen gelegt, hat alles für sie getan und ständig um sie gekämpft, sogar dann, wenn sie ihn nur hingehalten hat. Wenn du mich fragst, hat Jenny ihn immer für selbstverständlich genommen. Und jetzt, da er sie abserviert hat, scheint sie endlich zu merken, was sie die ganze Zeit an ihm hatte.« Sie sah wieder auf ihr Handy. »Shit, ich muss los! Aber mach dir keine Sorgen. Jenny ist Geschichte!«

  Damit ließ sie mich stehen und bog nach links ab, wo der Weg sie zum Kriminologischen Institut führen würde. Ich sah ihr mit noch immer hämmerndem Herzen nach und runzelte die Stirn, während ihre letzten Worte noch in mir nachhallten.

  Jenny ist Geschichte.

  War sie das wirklich? Sie war Masons Highschool-Sweetheart gewesen und, so wie ich das verstanden hatte, auch seine erste große Liebe. Diese Person vergaß man nicht einfach, schon gar nicht, wenn man so lange für die gemeinsame Beziehung gekämpft hatte.

  Ich schluckte hart, doch der bittere Geschmack in meinem Mund blieb.

  Es hat nichts zu bedeuten, rief ich mir Tates Worte in Erinnerung. Es hat absolut nichts zu bedeuten.

  Sie hatten eine gemeinsame Vergangenheit, waren sogar zusammen zur Schule gegangen. Natürlich blieben sie noch in Kontakt, vielleicht sogar als Freunde. Das hieß nicht, dass er mich einfach fallen lassen würde wie … die anderen vor ihm. Wie Stephen. Wie Daniel.

  Nein. Ich zwang mich dazu, diese Gedanken beiseite zu schieben. Das war nur die Angst, die aus mir sprach. Die Angst davor, noch mal so verletzt zu werden. Wieder nur die zweite Wahl zu sein. Dabei wollte ich so sehr die erste Wahl sein. Nur ein einziges Mal in meinem Leben. Ich wollte das Mädchen sein, für das Mason sich entschied, selbst wenn sich ihm alle anderen Frauen zu Füßen warfen.

  Und er hatte sich für mich entschieden. Das wusste ich.

  Ich sah zurück zum Brunnen. Mason und Jenny standen noch immer davor, hatten sich mittlerweile aber voneinander gelöst. Keine Umarmung und auch sonst keine Berührung. Sie redeten einfach nur miteinander, mehr nicht.

  Ich atmete tief durch. Ein und aus. Mason war kein bisschen wie Stephen oder Daniel, und ich tat keinem von uns einen Gefallen damit, ihn mit einem der beiden zu vergleichen. Genauso wenig, wie ich mir einen Gefallen damit tat, weiter hier stehen zu bleiben und mich all diesen Zweifeln hinzugeben. Ja, ich hatte zwei Beziehungen hinter mir, die ziemlich bescheiden geendet hatten. Aber das musste nicht bedeuten, dass meine aktuelle genauso enden würde. Richtig? Ich hatte es verdient, glücklich zu sein.

  Und mit diesem Gedanken kehrte ich ihnen den Rücken zu und ging weiter.

  Mason

  Ich hatte nicht vorgehabt, diesen Tag damit zu beginnen, meine Exfreundin noch vor dem Frühstück und dem ersten Kaffee zu treffen. Aber Jenny hatte mich wach geklingelt und gefragt, ob wir uns vor den ersten Kursen sehen konnten und ich … ich hatte nicht Nein sagen können. Das mit uns mochte vorbei sein, aber das hieß nicht, dass mir dieses Mädchen plötzlich egal war.

  Für Anfang Oktober war es ziemlich kühl um diese Uhrzeit, vor allem, wenn man nur eine Jeans und ein T-Shirt trug. Auch Jenny schien in ihrer dünnen Jacke und der kurzen Hose zu frieren. Ein Grund mehr, sie zur Begrüßung kurz in den Arm zu nehmen, auch wenn sich die Geste einerseits total vertraut und andererseits einfach nur merkwürdig anfühlte.

  Ich löste mich hastig wieder und schob die Hände in die Hosentaschen. »Worüber wolltest du reden?«

  Sie holte tief Luft, und ich rechnete fast schon mit einer ganzen Ansprache, doch dann verließ nur ein einziger Satz ihren Mund. »Ich habe einen Fehler gemacht.«

  Wow. Okay.

  »Ich dachte, eine Pause wäre das Richtige für uns und würde uns wieder näher zusammenbringen. Wie früher …«, fügte sie hastig hinzu, obwohl sie die Einzige war, die das so gesehen hatte. Ich hatte jede einzelne dieser sogenannten Pausen aus tiefster Seele verabscheut. »Stattdessen habe ich nur dafür gesorgt, dass wir uns immer weiter voneinander entfernen. Das ist mir jetzt klar.«

  Ich nickte leicht. In diesem Punkt musste ich ihr recht geben. Die ständigen On und Offs hatten uns nicht näher zusammengebracht, sondern uns auseinandergetrieben. Zum ersten Mal konnte ich das deutlich sehen und auch vor mir selbst zugeben. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Jenny und ich die ganze Welt füreinander gewesen waren, aber seither hatten wir uns in verschiedene Richtungen entwickelt. Jeder von uns hatte neue Ziele, Wünsche und Hoffnungen – und die Zeit ohne einander hatte das nur noch bestärkt.

  Vielleicht war es von Anfang an absehbar gewesen. Denn, mal ehrlich, wer blieb schon für immer mit seiner ersten großen Liebe zusammen? Aber ich hatte es einfach nicht wahrhaben wollen, hatte mich an das geklammert, was ich hatte, was vertraut war und dadurch beinahe das verpasst, was ich wirklich wollte. Wen ich wirklich wollte. Grace. Und die Musik.

  »Mason …?« Jennys Augen waren gerötet, ihre Stimme nur noch ein Wispern, das beinahe in dem leisen Gurgeln des Springbrunnens und den Stimmen der anderen Leute in der Nähe unterging. Sie stand plötzlich vor mir und nahm meine Hände in ihre. »Sag doch etwas. Bitte. Ich … ich war so dumm und hatte Angst, etwas zu verpassen oder mich irgendwie einschränken zu müssen, dabei will ich doch nur mit dir zusammen sein.« Sie drückte meine Hände. »Sag, dass du mir verzeihst und wir es noch mal miteinander versuchen. So, wie wir es immer gemacht haben. Es kann wieder so wie früher werden, das weiß ich.«

  »Nein.«

  Sie blinzelte. »Wie bitte?«

  »Tut mir leid, Jen.« Behutsam löste ich meine Hände aus ihren und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir hatten unsere Chance. Wir hatten sogar mehr als nur eine. Es funktioniert nicht.«

  »Du machst Schluss mit mir? So richtig?« Ihre Stimme bekam einen schrillen Klang.

  »Eigentlich dachte ich, das hätte ich schon bei unserem letzten Treffen getan.« Seufzend rieb ich mir über den Nacken. »Tut mir leid, wenn du das falsch aufgefasst hast. Wir wissen beide, dass es die ganze Zeit darauf hinausgelaufen ist, auch wenn wir es nicht wahrhaben wollten. Einer von uns muss einen Schlussstrich setzen. Endgültig.«

  Sekundenlang brachte sie kein Wort heraus. Sie wollte es, das konnte ich ihr ansehen, aber sie starrte mich nur an. Fassungslos, aber auch mit einer neuen Faszination, bei der sich alles in mir zusammenzog. Oh nein. Definitiv nein. Das hier war kein Spiel. Das war keine verdammte weitere Pause, die für mehr Abwechslung, Nervenkitzel oder was auch immer zwischen uns sorgen sollte. Das hier war real. Und es war zu Ende.

  »Das meinst du nicht wirklich so. Lass uns … lass uns morgen oder nächste Woche noch mal darüber reden. Vielleicht … vielleicht brauchst du nur etwas mehr Zeit, um darüber nachzudenken.«

  Ich schüttelte den Kopf und ignorierte die neugierigen Blicke, die uns ein paar Leute zuwarfen. »Ich hab lange genug darüber nachgedacht. Es ist vorbei, Jenny. Und diesmal gibt es keine Pause und keinen Neuanfang.«

  Und obwohl mit diesen Worten jede Menge Wehmut einherging, hatte es auch etwas unglaublich Befreiendes, sie endlich auszusprechen. Meine Zukunft mochte nicht mehr fest geplant sein, aber das war sie sowieso nie wirklich gewesen. Jahrelang hatte ich mich an die Pläne eines Sechzehnjährigen geklammert, der für immer mit dem Mädchen zusammen sein wollte, mit dem er seinen ersten Kuss und sein erstes Mal erlebt hatte. Aber so lief es nicht immer. Menschen veränderten sich. Pläne änderten sich. Und Jenny und ich hatten uns definitiv ver�
�ndert.

  »Warum?«, stieß sie hervor. Ihre Augen schimmerten noch immer feucht, aber ich meinte auch, eine ruhige Akzeptanz in ihnen lesen zu können. Dieselbe Empfindung, die auch mich gepackt hatte. »Warum jetzt?«

  Bilder tauchten in meinem Bewusstsein auf. Erinnerungen an ganz bestimmte Momente in Grace’ und meinem Zimmer. Auf der Tanzfläche in diesem Club. Auf dem Dach des Wohnheims. Auf der Bühne und beim verdammten Spielen von Wahrheit oder Pflicht vor ein paar Monaten.

  »Ist das wirklich wichtig? Wir wissen beide, dass wir das schon längst hätten tun sollen.«

  Aber so leicht ließ Jenny nicht locker. Das hatte sie noch nie.

  »Ist es wegen …« Sie biss sich auf die Unterlippe. Kämpfte wieder gegen die Tränen an. »Es ist wegen ihr, oder? Ich habe da ein paar Gerüchte gehört, aber ich wollte es nicht wahrhaben.« Sie sah mich wieder direkt an. »Liebst du sie?«

  Ich zögerte, da ich genau wusste, welche Antwort sie sich erhoffte. Das Letzte, was ich wollte, war, Jenny wehzutun, aber in all den Jahren, die wir zusammen – oder auch nicht zusammen – gewesen waren, hatten wir uns nie angelogen. Und ich würde jetzt nicht damit anfangen.

  »Ja«, erwiderte ich schlicht.

  »Es tut mir leid«, flüsterte sie. Tränen liefen ihr über die Wangen. »Ich weiß, dass ich ein Miststück sein kann. Keine Ahnung, wie du es überhaupt so lange mit mir ausgehalten hast, aber ich wollte dir nie wehtun, Mason. Ich wollte nicht, dass es so endet. Das musst du mir glauben.«

  »Ich weiß.« Ich schluckte hart. »Aber das mit uns ist endgültig vorbei.«

  Sie wischte sich über die feuchten Wangen, nickte jedoch und brachte sogar ein Lächeln zustande. Und als sie mich zögernd ansah, machte ich einen Schritt auf sie zu und zog sie ein letztes Mal fest an mich. Denn trotz all diesem nervenaufreibenden Hin und Her teilten wir ein paar wundervolle Erinnerungen miteinander. Erinnerungen, die uns für immer verbinden und begleiten würden. Aber sie gehörten der Vergangenheit an. Jenny gehörte meiner Vergangenheit an.

  Jetzt musste ich nur noch dafür sorgen, dass Grace und die Musik ein Teil meiner Zukunft blieben.

  Kapitel 22

  Mason

  Samstagabend. Der Tag, an dem alle feiern gingen. Der Tag, an dem wir gleich auf die Bühne gehen würden. Es war unser letzter Gig, bevor wir zur Vorrunde des Wettbewerbs später im Oktober antraten. Dementsprechend groß war die Nervosität in der Band, auch wenn wir einen Heimvorteil hatten, da wir letztes Jahr schon mal in diesem Club aufgetreten waren. Damals noch an Elles Geburtstag und mit Hazel als Sängerin, bis diese dank einer Magenentzündung mittendrin ausgefallen war. Wenn Grace damals nicht für sie eingesprungen wäre, sodass wir den Auftritt professionell zu Ende hatten bringen können … wer wusste dann schon, ob wir heute auch hier sein würden. Zu fünft. Zumindest theoretisch, denn von Grace war noch nichts zu sehen.

  Eine böse Vorahnung begann sich in mir auszubreiten. Ich wusste noch genau, wie fertig sie vor dem Open-Air-Konzert gewesen war. War sie jetzt wieder so nervös? Hatte sie sich wieder irgendwo verkrochen? Ich hatte nicht die geringste Ahnung, und das wurmte mich. In den letzten Tagen hatten wir nicht viel Zeit allein gehabt, da jedes bisschen Freizeit mit den Proben für diesen Auftritt gefüllt waren, aber selbst da hatte Grace irgendwie abwesend gewirkt und war schweigsamer als sonst. Und wenn ich sie darauf ansprach, hatte sie mir versichert, dass alles in Ordnung war. Was blieb mir anderes übrig, als ihr zu glauben?

  »Die Leute sind gut drauf.« Jesse kam breit grinsend hinter die Bühne. »Und sie freuen sich auf uns. Ich hab sogar ein paar Autogramme verteilen dürfen.«

  Kane schnaubte. »Steigt dir der Ruhm schon zu Kopf?«

  Jesse stemmte die Hände in die Hüften. »Ich stelle mich nur schon mal darauf ein, wie es sein wird, wenn wir den Wettbewerb gewinnen und einen Plattenvertrag kriegen. Denkt nur mal an all die Konzerte, die Fans, den Jubel, die Fanpost, die kreischenden Frauen …«

  »Den fehlenden Schlaf, den Stress und die unendlich vielen Stunden in Proberaum und Studio«, ergänzte Paxton trocken. »Dafür muss man gemacht sein. Bist du das?«

  Jesse zeigte ihm den Mittelfinger. »Sei kein Spielverderber. Wir werden diesen Wettbewerb gewinnen. Ich hab ein gutes Gefühl bei der Sache.«

  »Hast du dir die restlichen Bands überhaupt angesehen, gegen die wir antreten?«, warf ich ein.

  »Ähm …« Jesse kratzte sich am Hinterkopf. »Nein?«

  Ich lachte lautlos. Typisch. Jesse war schon immer der Optimist und Träumer gewesen. Allerdings setzte er sich auch immer hohe Ziele, und wir hatten mehr als nur einen Gig dank seiner Hartnäckigkeit bekommen.

  Von irgendwoher tauchte Grace plötzlich auf. Endlich. Sie hatte ein nervöses Lächeln auf den Lippen und trug ein Outfit, das aus einer hautengen schwarzen Hose, einem silbrig funkelnden Oberteil, das ihren gesamten Rücken frei ließ, und mörderisch hohen Schuhen in derselben Farbe bestand. Ihr Haar war auf der einen Seite zurückgesteckt, was den dramatischen Effekt ihrer dunkel geschminkten Augen nur noch verstärkte.

  »Tut mir leid«, entschuldigte sie sich sofort.

  Pax schüttelte den Kopf. »Alles gut. Wir haben noch fünf Minuten.«

  Ich ging zu ihr hinüber und gab mir keine Mühe, mein Lächeln zu unterdrücken. Das wäre sowieso zwecklos gewesen. Grace hatte diese Wirkung auf mich. Genauso wie mir unweigerlich wärmer wurde, als ich sie in diesen Sachen sah, und es in meiner Brust immer stärker zu hämmern begann.

  »Hi«, murmelte ich, als ich direkt vor ihr stand, und legte eine Hand an ihre Wange. »Bereit für den Auftritt?«

  Sie nickte, schmiegte sich aber nicht an meine Hand, wie sie es sonst immer tat, sondern wich meinem Blick aus.

  »Alles klar?«

  »Ja«, antwortete sie fast zu schnell und setzte ein Lächeln auf.

  Ich runzelte die Stirn. Vielleicht sah ich schon Gespenster, aber seit ein paar Tagen wirkte Grace irgendwie nicht mehr ganz wie sie selbst. Wenn ich allerdings daran zurückdachte, wie fertig sie mit den Nerven kurz vor unserem letzten Konzert gewesen war, konnte ich es ihr nicht übel nehmen, dass sie zurzeit ein bisschen abwesend zu sein schien.

  »Hey …« Mit dem Daumen strich ich über ihre Haut. »Wir schaffen das, okay?«

  »Ich weiß.« Sie nickte bekräftigend, klang aber nicht völlig überzeugt.

  Ich wollte noch etwas sagen, wollte einen Weg finden, wie ich sie beruhigen und von ihrer Nervosität ablenken konnte, doch in diesem Moment bekamen wir das Zeichen, dass wir gleich auf die Bühne durften. Mein Blick wanderte zwischen den einzelnen Mitgliedern von Waiting for Juliet hin und her. Kane wirkte wild entschlossen, Pax tippte sich mit den Drumsticks immer wieder gegen das Bein, als würde er in Gedanken schon die Songs anzählen, und Jesse hob grinsend den Daumen. Grace wirkte gefasst, auch wenn sie noch immer den direkten Blickkontakt zu mir zu vermeiden schien.

  Ich atmete tief durch. »Lasst uns den Club zum Kochen bringen!«

  Und dann ging es für uns auch schon auf die Bühne. Zunächst blieben wir unbemerkt, da der DJ noch einen Remix spielte und die Leute auf der Tanzfläche im Takt der Musik auf und ab sprangen. Aber sobald wir auf unseren Plätzen waren, griff der DJ nach dem Mikrofon und kündigte uns an. Die Scheinwerfer gingen an und blendeten mich für einen Moment. Das Publikum klatschte, laute Jubelrufe und Pfiffe waren zu hören und nach einigen Sekunden konnte ich sogar ein paar Gesichter in der Menge ausmachen.

  Elle und Luke standen ganz vorne, genau wie Trevor und Tate. Myung-hee jubelte uns von der Seite zu. Seit sie und Kane zusammen waren, war sie öfter zu unseren Bandproben gekommen, kümmerte sich um neue Flyer und erledigte den ganzen E-Mail-Verkehr, für den keiner von uns wirklich Zeit oder Lust hatte, und hatte natürlich die Verantwortung für das Styling übernommen. Für all die Arbeit, die sie machte, sollte sie eigentlich mit uns auf der Bühne stehen, statt hinter den Kulissen zu bleiben. Aber sie schien ganz zufrieden damit zu sein, uns anzufeuern wie eine stolze Löwenmama.

  Emery und Dylan waren nicht
hier, da sie dieses Wochenende für ihren Trip nach Vermont gewählt hatten. Sie waren schon am Freitagmorgen losgefahren, hatten ihre Vorlesungen geschwänzt und genossen mittlerweile hoffentlich das sorglose Leben in einem schicken Haus am See. Ein kleiner Teil von mir beneidete sie um die Ruhe, gleichzeitig wusste ich aber auch, dass ich gerade nirgendwo auf der Welt lieber wäre als genau hier. Mit dieser durchgeknallten Truppe.

  Wir begannen mit einem schnellen Popsong, der die Leute in Stimmung bringen sollte. Pax zählte an, dann legten wir mit Gitarre, Bass, Keyboard und Schlagzeug los. Grace stand bereit, rührte sich aber nicht. Atmete sie überhaupt? In dem wechselnden Licht konnte ich nur kurz einen Blick auf ihr Gesicht erhaschen. Lag es am grellen Scheinwerfer oder war sie tatsächlich so blass?

  Das ungute Gefühl von vorhin verstärkte sich. Verdammt, hatte sie gerade einen Blackout? War ihr Lampenfieber doch schlimmer, als ich hinter der Bühne vermutet hatte? Aber sie hatte so beherrscht gewirkt, ganz so, als hätte sie ihre Nervosität unter Kontrolle.

  Wir spielten die Einleitung, aber als der Einsatz für Grace kam, passierte … nichts. Ich wechselte einen schnellen Blick mit den Jungs und gab Pax ein Zeichen, da er uns über das Schlagzeug hinweg kaum hören konnte. Routiniert nahmen wir die Stelle noch mal auf, spielten sie erneut, um Grace Zeit zu geben, sich innerlich darauf vorzubereiten. Doch als es Zeit für den Gesang war, brachte sie keinen Ton hervor.

  Ich beobachtete sie von der Seite, unfähig, einzugreifen. Sie starrte ins Publikum, umfasste das Mikrofon mit beiden Händen, als wollte sie es dazu zwingen, Töne zu produzieren, aber ihr kam nichts über die Lippen. Nicht die erste Strophe des Songs, keine Textzeile, nicht mal ein einziges verdammtes Wort.

  Ohne nachzudenken, sprang ich für sie ein. Wir hatten den Song in den letzten Wochen so oft geprobt, dass ich die Lyrics kannte, auch wenn ich sie nicht zu meinem Part gehörten. Beim Refrain sah ich zu Grace hinüber, die sich noch immer am Mikro festhielt. Ihre Lippen zitterten, bewegten sich sogar – aber ganz ehrlich? Ich konnte sie nicht hören. Es war meine Stimme, die durch die Lautsprecher in den Club schallte. Beim Refrain, bei der Bridge, der nächsten Strophe und auch bei den letzten Zeilen. Und mit jeder Sekunde, in der Grace noch immer ohne ein Wort, ohne einen Ton am Mikrofon stand, hämmerte mein Puls stärker. Warnender. Immer wieder schaute ich zu ihr hinüber, aber sie blickte einfach nur starr geradeaus.

 

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