Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition)

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Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition) Page 34

by Bianca Iosivoni


  Als wir den ersten Song zu Ende gebracht hatten und die Bühne für den Übergang zum nächsten Lied dunkel wurde, spürte ich einen Lufthauch und hörte ihre Schritte Richtung Bühnenausgang eilen.

  Ich wollte ihr nach, wollte sie in den Arm nehmen und herausfinden, was zum Teufel gerade passiert war. Aber vor allem wollte ich sie trösten. Sie hatte mir von diesem schrecklichen Erlebnis beim Schönheitswettbewerb erzählt, als sie die Stimme verloren hatte, und ich hatte ihr versichert, dass alles gut werden würde. Dass wir bei ihr waren. Dass wir es zusammen schaffen würden. Und jetzt konnte ich ihr nicht mal beistehen, weil wir diesen verfluchten Auftritt zu Ende bringen mussten.

  Die plötzliche Unsicherheit in der Band war nahezu körperlich spürbar. Ich nickte Paxton zu, damit er das neue Stück wie geplant anzählte. Gleich darauf waren auch die ersten Klänge des Keyboards zu hören. Wir spielten weiter, wie wir es immer getan hatten, nur ohne unsere Leadsängerin. Ich versuchte, ihre Parts zu übernehmen, so gut ich konnte. Bei einigen Liedern klappte das ganz gut, bei Despacito, mit dem wir beim Open-Air-Konzert die Menge endgültig begeistert und für uns eingenommen hatten, wurde es deutlich schwieriger. Schweiß trat mir auf die Stirn, ich verspielte mich mehr als einmal und kam kaum mit dem Gesang hinterher. Irgendwie schafften wir es trotzdem, ohne uns komplett zu blamieren, ausgebuht zu werden oder das ganze Publikum zu enttäuschen, auch wenn die Zuschauer kurzzeitig genauso verwirrt gewesen waren wie wir. Der Auftritt war nicht richtig gut, von grandios ganz zu schweigen, aber solide. Und obwohl ich mehr als genug damit zu tun hatte, gleich drei Rollen in der Band einzunehmen – Gitarrist sowie Erst- und Zweitstimme –, war ich in Gedanken die ganze Zeit über bei Grace.

  Wo war sie hingelaufen? Brauchte sie mich? Elle war sofort aus der Menge verschwunden, dicht gefolgt von Tate. Ich war mir sicher, dass sie Grace nachgingen, aber wirklich beruhigen konnte mich das nicht. Ich musste selbst mit ihr sprechen, verdammt. Ich musste herausfinden, was da eben passiert war, und mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass es ihr gut ging.

  Die Leute jubelten und klatschten, als die letzten Töne verklangen, aber die Begeisterung unseres letzten Gigs fehlte. Tatsächlich hätte mir das aber nicht gleichgültiger sein können. Sobald die Lichter aus waren, lief ich hinter die Bühne, stellte meine Gitarre ab und machte mich auf die Suche nach Grace.

  Ich sah bei den Tischen und den Toiletten nach, hinter der Tür, die auf einen verlassenen Hinterhof hinausführte, noch mal hinter der Bühne und schließlich auch auf der Tanzfläche. Nichts. Keine Spur von Grace. Auch keine Nachricht auf meinem Smartphone. Kein Anruf. Gar nichts.

  »Hey!«, rief ich Tate zu, die im Gedränge auf mich zukam. »Wo ist Grace?«

  Zwischen uns schoben sich zu viele Leute, um ihre Antwort zu verstehen, aber das Kopfschütteln war mehr als deutlich. Verdammt. Ich drehte mich im Kreis, kehrte zur restlichen Band zurück, schaute wieder bei den Toiletten vorbei, konnte sie aber auch dort nicht finden. Als Elle mich plötzlich antippte, ahnte ich es schon, und der gequälte Ausdruck in ihrer Miene bestätigte mir meine Befürchtung, noch bevor sie die Worte aussprach.

  Grace war fort.

  Grace

  Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Gut möglich, dass ich gerade beides tat. Zumindest waren meine Wangen feucht, als ich mit dem Handrücken darüberwischte. Gleichzeitig kitzelte aber auch ein irrsinniges Lachen in meiner Kehle, das unmöglich zu unterdrücken war. Und das musste ich auch nicht. Ich war allein in meinem Zimmer. Niemand war hier, der mein hysterisches Lachen oder mein Schluchzen hören konnte.

  Gott, wie hatte ich nur so naiv sein können, zu glauben, dass das hier funktionieren würde? Dass es eine gute Idee war, bei einer Band mitzumachen und auf die Bühne zu gehen? Ich konnte nicht singen. Nicht so wie früher, und selbst da hatte ich zwar in der oberen Liga mitgespielt, war aber nie an der Spitze gewesen. Jetzt? Nach dem Unfall? Jetzt war ich bestenfalls ein solides Mittelmaß. Mom hatte es mir oft genug gesagt, aber ich hatte ihr nicht glauben wollen, weil ich es zu sehr liebte, zu singen. Selbst dann noch, als ich mich an den neuen Klang meiner Stimme gewöhnen und mir das Singen wieder hart antrainieren musste. Dabei hatte ich das nur für mich getan, und nicht, um damit öffentlich aufzutreten. Als ich Montana verlassen hatte, hatte ich mir ein Versprechen gegeben: Ich würde nie wieder singen. Nicht auf eine Weise, mit der ich alles von mir preisgab, sondern nur, wenn ich eine Rolle spielen konnte. Die gute Fee im Wintermusical, ein Teil des Chors in der Theateraufführung oder auch nur die ehrgeizige Studentin für meine Dozenten. Damit konnte ich arbeiten, hinter diesen Persönlichkeiten konnte ich mich verstecken. Aber als Grace Watkins auf die Bühne zu gehen, nachdem ich damals so versagt hatte? Das hatte ich nie mehr tun wollen.

  Und jetzt war es erneut passiert. Der Albtraum von damals wiederholte sich. Nicht im landesweiten Fernsehen, nicht bei einem Schönheitswettbewerb und auch nicht vor den Augen einer grausamen Jury, die keinen Hehl daraus machte, was sie von meiner Unfähigkeit hielt. Dafür in einem Club voller Menschen, die nur wegen uns hergekommen waren. Kommilitonen. Bekannte. Freunde. Ich hatte mich nicht nur selbst völlig blamiert, sondern auch all diese Menschen im Stich gelassen. Ich hatte Jesse, Paxton und Kane im Stich gelassen. Und Mason.

  Wie hatte ich auch nur eine Sekunde lang denken können, dass ich Erfolg haben würde? Wie hatte ich überhaupt glauben können, irgendetwas erreichen oder anders machen zu können als zu Hause? Ich hatte gar nichts erreicht. Ich war ein Niemand. Das Mädchen mit all diesen Siegertrophäen, der Stern, der bei der ersten Herausforderung verglüht war. Ich war als Verliererin nach Hause zurückgekehrt. Als Loser. Genau wie heute. Nichts hatte sich geändert. Diesmal war ich jedoch so weit gegangen, einer aufstrebenden Band Hoffnungen zu machen und einen Keil in eine glückliche Beziehung zu treiben.

  Ohne mich hätte die Band eine andere, eine viel bessere Sängerin gefunden, da war ich mir sicher. Und ohne mich wäre Mason noch mit Jenny zusammen und die beiden könnten weiter an ihrer perfekten Zukunft arbeiten, so wie sie es schon seit Jahren taten. Stattdessen lag jetzt alles in Scherben.

  Was hatte ich getan?

  Ich tastete nach den Taschentüchern auf meinem Nachttisch und erstarrte mitten in der Bewegung, als es an der Tür klopfte. Mit einem Mal raste mein Herz, weil ich nur zu genau wusste, wer auf der anderen Seite stand. Und ein Teil von mir wünschte es sich so sehr, dass es wehtat. Ich wollte mich in Masons Arme stürzen, wollte mich bei ihm verkriechen und mir von ihm versichern lassen, dass alles okay war. Oder dass es zumindest besser werden würde. Der andere, viel vernünftigere Teil verachtete mich jedoch dafür. Ich war nicht nur eine Verliererin, sondern auch noch ein Schwächling.

  »Grace …« Masons gedämpfte Stimme drang durch die Tür. »Ich weiß, dass du da bist. Ich kann das Licht sehen.« Er hielt inne. »Und ich kann dich weinen hören.«

  Verdammt. Mit dem Handrücken wischte ich mir über die Wangen, aber wahrscheinlich verteilte ich damit nur Eyeliner und Mascara auf meiner Haut. Ich zog die Nase hoch, stand auf und ging zur Tür hinüber. Wortlos riss ich sie auf.

  Mason wollte mich in den Arm nehmen, erstarrte aber, als ich vor ihm zurückwich und ihm Platz machte, damit er hereinkommen konnte, dann drückte ich die Tür hinter ihm zu. »Was ist los?«

  Wieso musste er so einfühlsam, so besorgt klingen? Konnte er nicht einfach wütend auf mich sein und mir all das an den Kopf werfen, was ich falsch gemacht hatte? Das würde das hier so viel einfacher machen.

  »Grace …« Vorsichtig kam er näher und strich mit den Händen über meine nackten Arme.

  Ich hatte nicht mal gemerkt, dass ich eine Gänsehaut hatte und zitterte.

  »Sprich mit mir«, bat er.

  »Tu das nicht …«

  Falten erschienen auf seiner Stirn und er hielt in seinen Streichelbewegungen inne. »Was soll ich nicht tun?«

  »So nett zu mir sein und mich trösten, obwohl ich diesen Gig für uns alle versaut habe.«

  »Hey, das ist nicht wahr. Du hast gar nichts versaut.
Und was da auf der Bühne passiert ist, war nicht …«

  »Nicht meine Schuld?«, beendete ich seinen Satz und schnaubte abfällig. »Das glaubst du doch selbst nicht. Ich habe die Nerven und dann auch noch meine Stimme verloren. Ich habe euch im Stich gelassen! Das ist unverzeihlich.«

  »Was redest du denn da?« Er legte die Hände auf meine Schultern und suchte meinen Blick, auch wenn ich ihm am liebsten ausgewichen wäre.

  Zu viel schwirrte mir gerade durch den Kopf. Zu viele Gedanken, zu viele Emotionen, zu viele Erinnerungen. Das ganze Drama nach der letzten Misswahl kam ausgerechnet jetzt wieder hoch. Als Mom mir die Hölle heiß gemacht hatte, obwohl ich völlig aufgelöst vor ihr gestanden hatte. Gott, sie war so wütend gewesen … So herablassend und verletzend. Was war das da draußen? Kannst du nicht mal auf die Bühne gehen und ein dummes Lied singen? Ich hatte es dir gleich gesagt, aber du musstest ja unbedingt deinen Willen durchsetzen. Das hast du jetzt davon. Du wirst es nie zu irgendetwas bringen, Grace! Niemals!

  Das Schlimmste waren nicht all diese Worte. Das Schlimmste war, dass sie recht damit hatte. Mom hatte recht damit gehabt, dass ich es nie zu etwas bringen würde. Ich hatte es dennoch versucht – und jetzt stand ich hier und hatte alles kaputtgemacht.

  »Ich hätte niemals bei euch vorsingen sollen …«

  »Was?«

  Erst als ich Masons verwirrten, geradezu entsetzten Gesichtsausdruck bemerkte, wurde mir klar, dass ich die Worte laut ausgesprochen hatte. Aber das spielte keine Rolle, denn es war die Wahrheit. Ich musste es irgendwie wiedergutmachen. Das mit der Band war nicht mehr zu retten, ich hatte sie schon alle im Stich gelassen. Aber was Mason betraf … für ihn konnte ich etwas tun. Ich konnte es für ihn wieder in Ordnung bringen. Selbst wenn das bedeutete, dass ich nicht nur mir selbst, sondern auch ihm wehtun musste.

  »Das hier war ein Fehler …«, flüsterte ich und zwang mich dazu, ihn direkt anzusehen.

  Zuerst schien er es nicht zu begreifen, es nicht erkennen zu wollen, doch dann erstarrte er. Sein Blick wurde distanzierter, und seine Hände fielen von meinen Schultern herab. »Lass mich raten. Du weißt nicht, ob es das Richtige für dich ist? Und mit das hier meinst du nicht nur die Band.«

  Ich sah ihn nur schweigend an. Dabei kostete es mich jedes bisschen Selbstbeherrschung, ihn nicht merken zu lassen, dass ich mir in die Wangeninnenseite beißen musste, um all die Wörter zurückzuhalten, die mir über die Lippen kommen wollten. Entschuldigungen dafür, dass ich völlig versagt hatte. Dafür, dass er sein Vertrauen in die falsche Person gesetzt hatte. Dafür, dass ich ihm wehtat. Ich wollte es ungeschehen machen, wollte zurück zu den leichten, den schönen Momenten zwischen uns, als wir in unserer eigenen kleinen Welt gewesen waren, in der es nur ihn und mich, Küsse, Lachen, Gespräche und ganz viel Nähe gab. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, und meine Nasenspitze begann zu kribbeln, als mir Tränen in die Augen schossen. Es würde nie wieder so zwischen uns sein.

  »Es tut mir leid«, brachte ich schließlich hervor, aber es klang selbst in meinen Ohren hohl und nichtssagend. »Ich … Ich will das nicht mehr. Ich kann nicht.«

  Mason richtete seinen Blick wieder auf mich. Die Enttäuschung stand ihm geradezu ins Gesicht geschrieben. »Ja …«, gab er genauso leise zu und machte einen Schritt zurück. »Ich auch nicht.«

  Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ mein Zimmer.

  Sekundenlang starrte ich auf die Tür, bis sie vor meinen Augen verschwamm. Ich blinzelte mehrmals. Heiße Tränen liefen mir über die Wangen und tropften auf mein Oberteil. Diesmal wischte ich sie nicht fort. Wozu auch?

  Es war besser so. Mason und ich … das hätte niemals funktioniert. Nicht, wenn ich diejenige war, die sich zwischen ihn und Jenny gedrängt hatte. Die beiden gehörten zusammen. Ich hatte es in jeder Silbe gehört, als Tate mir von den beiden erzählt hatte, und es auch noch mit eigenen Augen gesehen. Sie hatten eine gemeinsame Vergangenheit und sie hatten eine Zukunft geplant. Ich war nur … nur jemand, der sich dazwischengedrängt hatte. Ich hatte dieses ganze Chaos ausgelöst, weil ich selbstsüchtig und naiv gewesen war.

  Aber jetzt konnten Mason und Jenny wieder zusammenfinden. Er, Jesse, Pax und Kane würden eine neue, eine viel bessere Sängerin finden. Eine, die sie nicht mitten in einem wichtigen Auftritt hängen ließ und die nicht vor jedem Konzert mit ihrem Lampenfieber zu kämpfen hatte. Eine, die so viel besser war als ich.

  Und am Ende würden sie selbst feststellen, dass ich nur eine Notlösung gewesen war.

  Nur die zweite Wahl.

  Kapitel 23

  Mason

  Was zum Teufel war da gerade passiert? Ich war noch immer wie vor den Kopf geschlagen, als ich die Treppe hinunterlief und aus dem Wohnheim nach draußen trat. Die Abendluft war feuchtwarm und kündete Regen an. Aber selbst wenn die Wolken jetzt über mir aufbrechen und mich in einer Sintflut ertränken würden, wäre mir das so ziemlich egal. Nicht egal war mir, warum Grace das gesagt hatte. Warum sie es für einen Fehler hielt. Die Band. Uns beide. Vor allem uns beide.

  Scheiße, ich war mir sicher gewesen, dass es das war, was sie wollte. Dass sie glücklich mit mir war. Hatte ich mich geirrt? Hatte ich wieder mal von mir auf andere geschlossen und die Zeichen völlig falsch interpretiert? War sie in den letzten Tagen deshalb so still, so zurückhaltend gewesen? Ich schüttelte den Kopf. Nein. Grace war nicht wie Jenny. Sie wollte keine Pause. Sie wollte … gar nichts mehr. Keine Band. Keine Beziehung. Als würde sie versuchen, mich aus ihrem Leben herauszuschneiden. Aber warum, verdammt noch mal? Nur wegen dieses einen verpatzten Auftritts? Das hätte mir oder den Jungs genauso gut passieren können. Ja, es war eine beschissene Situation gewesen, aber niemand würde Grace daraus einen Vorwurf machen. Und wenn doch, würde ich persönlich dafür sorgen, dass derjenige die Klappe hielt.

  Ich verstand es einfach nicht. Und mit jeder Minute, die ich weiter ziellos hier draußen herumlief, nahmen die Zweifel zu. Was, wenn ich sie tatsächlich falsch eingeschätzt hatte? Wenn es ihr von Anfang an nicht ernst gewesen war? Oder es war ihr ernst gewesen, aber sie hatte es sich anders überlegt? Eine spontane Entscheidung, einfach mal alles umzukrempeln – mein Leben miteingeschlossen. Wäre schließlich nicht das erste Mal für mich. Das Spielchen hatte ich schon dutzende Male mit Jenny durch.

  Aber während mir die Trennung von Jenny nur etwas Frust und jede Menge Wehmut beschert hatte, wusste ich jetzt nicht, wohin mit mir. Einfach so zu gehen war ein Reflex gewesen. Ich hatte nicht nachgedacht. Grace’ Worte hatten mich eiskalt erwischt und so getroffen, dass ich nur noch wegwollte. Ich brauchte eine Auszeit, einen Moment, um nachzudenken und das alles zu verstehen. Doch jetzt verstand ich überhaupt nichts mehr. Ich wollte zurück nach oben rennen, an ihre Tür hämmern und Antworten verlangen. Ich wollte mich in meiner Musik und Alkohol vergraben, bis ich nicht mehr denken, aber vor allem nicht mehr fühlen konnte. Ich wollte mich ablenken und gleichzeitig herausfinden, wie es hatte so schiefgehen können. Gerade eben war noch alles in bester Ordnung gewesen – mehr noch: Ich war glücklich gewesen. So glücklich wie … ich wusste gar nicht mehr, wie lange es her war, seit ich zuletzt so empfunden hatte. Vielleicht noch nie. Und dann … puff! Alles vorbei.

  Wobei das so nicht ganz stimmte. Stirnrunzelnd blieb ich neben einem der Holztische stehen, die auf der Grünfläche zwischen den vier Wohnheimen standen. Tagsüber tummelten sich hier die verschiedensten Leute auf den Bänken. Jetzt hingegen? In einer Samstagnacht war es hier wie ausgestorben. Wahrscheinlich herrschte auf einem Friedhof mehr Action als hier.

  Konzentrier dich, Lewis!

  Ich versuchte, mir den genauen Moment ins Gedächtnis zu rufen, an dem es angefangen hatte, bergab zu gehen, kam aber zu keiner Antwort. Die Tage und Nächte mit Grace waren unglaublich gewesen. Unsere gemeinsamen Freunde schienen nur darauf gewartet zu haben, dass wir zusammenkamen, und Myung-hee war tatsächlich vor Freude auf und ab gehüpft. Dann hatte sie sich Grace geschnappt, um alles von ihr zu erfahren. So viel hatte ich von dem Gespräch noch mitbekommen, genau wie Grace’ amüsiert-verzweifelten Blick, de
n sie mir beim Hinausgehen zugeworfen hatte.

  Sicher, bei den letzten Proben war sie zunehmend angespannter gewesen, aber so kurz vor dem Gig war das kein Wunder gewesen. Schon gar nicht, wenn ich daran zurückdachte, wie fertig sie vor dem Open-Air-Konzert gewesen war. Fertig und bereit dazu, alles hinzuschmeißen, wenn ich sie nicht überredet hätte. War es diesmal wieder so schlimm gewesen? Hatte sie es für sich behalten, um niemanden von uns damit zu belasten? Und war sie mit all diesen Ängsten auf die Bühne gegangen, nur um sich erneut in ihrem schlimmsten Albtraum wiederzufinden?

  Scheiße. Ich wusste es nicht. Ich wusste es einfach nicht. Frustriert rieb ich mir über den Kopf. Egal, wie ich es drehte und wendete, ich kam auf keine Antwort. Weil nur Grace sie mir geben konnte. Aber sie hatte mich aus ihrem Leben ausgeschlossen. Was zur Hölle sollte ich jetzt tun?

  Das hier war nicht vergleichbar mit den Situationen, in denen Jenny mich um eine Pause gebeten hatte. Anfangs hatte sie sich noch zu erklären und ich sie zu verstehen versucht. In den letzten Monaten hatte es schon gar keine Vorwarnung mehr gegeben, und ich hatte es einfach akzeptiert. Ich hatte es hingenommen, dass Jenny unsere Beziehung – und die Pausen derselben – bestimmte. Sie tat, was sie wollte, und ich stellte keine Fragen, sondern versuchte, für sie da zu sein. Auf sie zu warten. Und was hatte mir das letzten Endes gebracht?

 

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