Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition)

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Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition) Page 35

by Bianca Iosivoni


  Fuck. Verzweifelt faltete ich die Hände im Nacken. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Aber vor allem hatte ich nicht den blassesten Schimmer, was in Grace gefahren war. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen und war auch nicht eine ihrer Freundinnen, die mit Sicherheit auf den ersten Blick erkennen würden, was los war und … Moment mal.

  Ich drehte mich schwungvoll zu meinem Wohnheim um. Emery mochte meilenweit entfernt sein, aber sie war nicht Grace’ einzige Freundin. Tate würde ich sicher nicht fragen und Myung-hee war wahrscheinlich bei Kane, der allerdings auf der anderen Seite der Stadt wohnte. Aber Elle war da. Elle war einfühlsam. Sie konnte mir sicher sofort sagen, was los war.

  Ehe ich mich versah, rannte ich schon die Treppen hinauf, bog aber ein Stockwerk früher in den Flur ab. Denn ziemlich wahrscheinlich war Elle gar nicht oben in ihrer eigenen WG, sondern eine Etage tiefer bei Luke. Ich joggte zur richtigen Tür und hämmerte dagegen. Einmal. Zweimal. Dreimal.

  »Ist ja gut!« Zwei Sekunden später riss Luke die Tür auf. »Alter, willst du Tote wecken?«

  Zwar wirkte er müde und mürrisch, aber nicht so, als hätte ich ihn gerade aus dem Bett geworfen … oder bei irgendwas anderem gestört. Shit. Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht. Aber Luke trug noch seine Jeans, auch wenn das das Einzige war, was er anhatte, und starrte mich nicht mit einem mörderischen Ausdruck an. Also war wohl alles gut.

  »Was gibt’s?«, fragte er gähnend.

  »Ist Elle da?«

  »Du hämmerst wie ein Irrer gegen die Tür und dann willst du nicht mal zu mir?« Er schnaubte und rieb sich über das stoppelige Kinn. »Danke. Jetzt fühle ich mich besser.«

  Als ich nichts darauf erwiderte, öffnete er die Tür ganz, damit ich hereinkommen konnte, und drückte sie hinter mir zu. »Elle schläft schon. Soll ich sie wecken?«

  »Ja«, antwortete ich automatisch, schüttelte dann jedoch den Kopf. »Nein, ich … Fuck!«

  Luke schien bisher eher etwas amüsiert gewesen zu sein, jetzt verschwand dieser Ausdruck aus seiner Miene und wich einem ungewohnten Ernst. Und Besorgnis. »Was ist los, Mann?«

  »Es geht um Grace. Sie ist …«

  »Beim Auftritt abgehauen. Ich weiß. Ich war da. Elle hat die ganze Zeit versucht, sie zu erreichen, aber sie ist nicht ans Handy gegangen. Hast du sie gefunden?«

  »Ja. Und sie … sie hat …«

  Lukes Augen weiteten sich. »Dich abserviert? Scheiße, das ist hart.«

  Ich runzelte die Stirn. »Woher weißt du das? War das etwa genauso offensichtlich wie diese blöde Wette?«

  Beschwichtigend hob er die Hände. »Ganz ruhig. Das hab ich nicht gesagt. Aber wenn sie schon so in Panik war, kann ich mir gut vorstellen, dass sie noch eine Kurzschlussreaktion hatte.«

  Ich biss die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf. »Das war keine Kurzschlussreaktion, sondern ihr voller Ernst. Sie hat es beendet.« Ich merkte nicht mal, dass ich den Kühlschrank in der WG ansteuerte, bis ich die kalte Bierdose in meiner Hand öffnete und die ersten Schlucke runterkippte.

  Luke lehnte sich gegen die Kochinsel und beobachtete mich unbeeindruckt. »Und das ist jetzt der Plan? Dich zu betrinken? Alter, das funktioniert nicht. Ich bin das beste Beispiel dafür.«

  »Hast du eine bessere Idee?«

  Er zuckte mit den Schultern. »Elle hätte sicher einen guten weiblichen Rat für dich. Ich hab nur eine Frage: Du hast jahrelang um Jenny gekämpft, aber bei Grace gibst du einfach auf? Was ist los mit dir? Haben sie dir bei der Army gar nichts beigebracht?«

  Ich hielt mit der Dose kurz vor meinem Mund inne. Für gewöhnlich redete ich nicht viel über meine Zeit beim Militär. Die Vorbereitung darauf war hart gewesen, aber das Basic Combat Training selbst die Hölle. Ich hatte Leute zusammenbrechen und kotzen gesehen, hatte sie bis an ihre Grenzen gehen und die Ausbildung trotzdem nicht absolvieren gesehen. Wie ich es geschafft hatte, wusste ich nicht mehr. Wahrscheinlich mit schierer Willenskraft und Verzweiflung. Zurück nach Hause hatte ich nicht gekonnt. Das Verhältnis zu meinem Vater war damals noch nicht so entspannt gewesen wie heute, und ein Teil von mir war sich sicher, dass er mich erst richtig akzeptiert hatte, als ich wie er ein Soldat geworden war. Aber wäre ich nach den ersten Wochen mit eingezogenem Schwanz nach Hause zurückgekehrt? Er hätte mich gnadenlos rausgeworfen. Daran bestand nicht der geringste Zweifel. Aufgeben war damals einfach nicht infrage gekommen.

  Und nach den ersten Wochen unter Satans Leitung hatte ich ziemlich schnell gelernt, dass ich nicht machtlos war. Im Gegenteil. Bei all den Läufen und Liegestützen, den Teambuilding- und Schießübungen, dem Klettern und Durch-Schlamm-Kriechen, den Schreien und anfeuernden Gesängen, bei dem ganzen Drill und der Vorbereitung auf den Militärdienst war ich alles andere als machtlos. Wie weit ich es schaffte und wie gut ich war, hing nur von mir selbst ab. Von meiner eigenen Leistung. Von meiner Entschlossenheit.

  Nur die wenigsten der Männer und Frauen, mit denen ich angefangen hatte, hatten es bis zum Ende des Trainings gebracht. Manche waren verletzt worden, andere aufgrund von Krankheits- oder Todesfällen in der Familie vorzeitig zurück nach Hause gefahren, wieder andere hatten das Handtuch geworfen und waren unehrenhaft entlassen worden, bevor sie zu einem US-Soldaten werden konnten. Aber ich hatte es gepackt. Ich hatte diese Tortur durchgestanden, obwohl eine Karriere im Militär nie mein Traum gewesen war. Es war Dads und Grandpas Traum gewesen. Ich hatte es ihnen zuliebe durchgezogen. Und wenn ich das geschafft hatte, konnte ich auch alles andere schaffen.

  Luke hatte recht. Scheiße, und wie er recht hatte. Ich hatte mich so lange für Jenny abgemüht, mich für sie und sogar für meine Familie entzweigerissen, damit sie stolz auf mich waren, aber jetzt auf einmal versuchte ich nicht mal, um etwas zu kämpfen, das mir wirklich wichtig war? Und Grace war mir wichtig. Mehr als das – sie war zu einem so wichtigen Teil meines Lebens geworden, dass ich nicht darauf verzichten wollte.

  Langsam ließ ich das Bier wieder sinken. »Du hast recht.«

  Luke grinste. »Natürlich hab ich recht. Brauchst du auch noch einen Rat, wie du sie zurückgewinnen kannst? Ich bin gerade so gut in Form.«

  Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß genau, was ich tun muss. Danke, Mann.«

  Im Vorbeigehen drückte ich ihm die Dose gegen die nackte Brust und verließ die Wohnung genauso schnell wieder, wie ich hier reingebrettert war. Denn jetzt hatte ich einen Plan.

  Ich würde Grace nicht so einfach aufgeben. Nicht einmal dann, wenn sie mich von sich stieß. Scheiße, ich konnte ihr das nicht mal wirklich verübeln. Sie war so oft von anderen Leuten im Stich gelassen worden, von den Menschen, die für sie hätten da sein sollen … Und was hatte ich getan, als die ersten Schwierigkeiten auftraten? Ich war einfach gegangen. Dabei wollte ich doch für sie da sein, und das nicht nur in den guten Zeiten auf Wolke sieben, sondern auch in schlechten Phasen. Ganz besonders in diesen.

  Jetzt musste ich sie nur noch davon überzeugen, dass ich sie, sobald es mal Probleme gab, nicht genauso fallen lassen würde, wie alle anderen Menschen in ihrem Leben es bisher getan hatten.

  Kapitel 24

  Grace

  Ich hatte das Richtige getan. Ich wusste, dass ich das Richtige getan hatte, auch wenn es sich nicht so anfühlte. Um ehrlich zu sein, fühlte es sich schrecklich an. So schrecklich, dass ich mich schon am nächsten Tag in die Fitness- und Ernährungspläne stürzte, die meine Mutter mir geschickt hatte. Zehn Kilo runter in vier Wochen, dann wäre ich sogar unter dem Gewicht, das ich bei meinem Umzug nach West Virginia gehabt hatte. Damit würde ich wenigstens eine Person in meinem Leben zufriedenstellen. Auch wenn ich insgeheim wusste, dass es nichts auf der Welt gab, das Mom wirklich glücklich machen würde. Weil sie kein glücklicher Mensch war. Aber vielleicht wäre sie mir gegenüber wenigstens wieder gnädig und würde mich, wenn ich das nächste Mal nach Hause flog, nicht mehr mit diesem enttäuschten und mitleidigen Gesichtsausdruck begrüßen.

  In den folgenden drei Tagen versuchte ich, Mason aus dem Weg zu gehen, stürzte mich in meine Kurse, sc
hwänzte die, die wir gemeinsam hatten, und konzentrierte mich auf die Theaterproben – auch wenn ich noch immer Bauchschmerzen dabei bekam, wenn ich auf die Bühne trat und vor anderen sang – sowie die regelmäßigen Besuche im Fitnesscenter. Ich hasste Fitnesscenter, weil jeder einen anstarrte, aber Moms Pläne erforderten die Geräte und das Laufband, also zwang ich mich dazu, hinzugehen. Ich begann, Mahlzeiten auszulassen und verbannte Musik fast gänzlich aus meinem Leben. Ich konnte kein Radio hören, weil sie Lieder spielen würden, die wir mit der Band geprobt hatten. Und ich konnte meine eigenen Playlists nicht mehr hören, weil mich jeder Song an Mason erinnerte. An unsere Anfänge, an das gemeinsame Training, als ich sowohl ihn als auch jede einzelne Übung verflucht hatte, an die gemeinsam verbrachten Nachmittage und Abende mit unseren Freunden, an unseren ersten Kuss, unseren ersten gemeinsamen Song und an das erste Lied, das wir je zusammen gesungen hatten.

  Ich kniff die Augen zusammen, nicht vor der untergehenden Sonne vor dem PAC, sondern um sowohl meine Gedanken als auch die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen. Ich hatte keine Zeit dafür, sondern musste zu meiner Vorlesung in Musikwissenschaften. Aber vor allem wollte ich mich nicht mit diesem Chaos beschäftigen. Ich wollte nicht so fühlen. Ich wollte nicht, dass es so sehr wehtat …

  »Hey, Grace! Warte mal!«

  Ich zuckte zusammen und riss die Augen auf. Ganz automatisch begann mein Herz schneller zu schlagen, obwohl ich doch bereits wusste, dass diese Stimme nicht ihm gehörte. Masons Stimme hätte ich unter tausenden wiedererkannt.

  Jesse joggte zu mir herüber. Er trug eine kurze Hose, ein T-Shirt und Laufschuhe. Seine blonden Locken waren verschwitzt, sein Gesicht etwas gerötet, aber er schien kaum außer Atem zu sein.

  »Du warst seit dem Auftritt am Wochenende nicht mehr bei den Proben.« Es war eine einfache Feststellung, trotzdem schwang ein fragender Unterton mit.

  Also hatte Mason es ihm und den anderen noch nicht gesagt. Natürlich nicht. Ich seufzte innerlich. Mason hatte es mir noch nie leicht gemacht. Außer, als du mit ihm Schluss gemacht hast, meldete sich eine kleine Stimme in meinem Bewusstsein. Da hatte er es mir ziemlich leicht gemacht – und sich seither auch nicht mehr bei mir gemeldet. Keine Nachricht. Kein Anruf. Gar nichts. Sogar Daniel war hartnäckiger gewesen.

  Ich räusperte mich und zwang meine Aufmerksamkeit zurück in die Gegenwart. »Ich bin nicht mehr dabei.«

  Wenn ich erwartet hatte, Überraschung in Jesses Gesicht zu sehen, hatte ich mich getäuscht. Er wirkte kein bisschen überrascht, eher ein wenig irritiert, so, wie er die Brauen zusammenzog und plötzlich damit aufhörte, vor mir auf der Stelle zu joggen.

  »Was soll das heißen, du bist nicht mehr dabei? Wir brauchen dich.«

  Ich schüttelte den Kopf. In Gedanken zählte ich die Minuten, die mir noch blieben, um es rechtzeitig in meine letzte Vorlesung für heute zu schaffen. Nicht nur, weil ich pünktlich sein wollte, sondern weil mir das half, ruhig zu bleiben.

  »Ihr findet eine neue Sängerin.«

  Die Worte brannten auf meinen Lippen, obwohl ich sie mir in Gedanken schon so oft vorgesagt hatte.

  »Bis zum Wettbewerb?« Er stieß ungläubig die Luft aus. »Willst du mich verarschen? Das ist unmöglich. Die Vorrunde ist diesen Samstag! Wir proben fast jeden Tag dafür. Wie sollen wir bis dahin eine neue Leadstimme finden und auch noch die Songs mit ihr einstudieren?«

  Ich begann zu antworten, wollte irgendetwas sagen, um ihn zu beruhigen und es herunterzuspielen, aber Jesse ließ mir keine Chance dazu.

  Obwohl er kaum größer war als ich, baute er sich vor mir auf. »Ich verrate dir was. Was da letztes Mal auf der Bühne passiert ist? Dumm gelaufen! Das ist noch lange kein Beinbruch. Aber wenn du deinen Posten als Sängerin hinschmeißt, wenn wir dich am dringendsten brauchen? Dann lässt du uns hängen. Aber so was von!«

  »Ich kann das nicht …«

  »Versuch es, verdammt noch mal!«

  Ich presste die Lippen aufeinander. Da war auf einmal ein Rauschen in meinen Ohren, das zuvor nicht da gewesen war.

  »Was, wenn es wieder passiert?«, presste ich hervor. Meine Stimme war hauchdünn. »Was, wenn ich wieder auf die Bühne gehe und keinen Ton rausbringe?«

  Er breitete die Arme aus. »Dann ist das eben so. Aber dann hatten wir eine Chance, die wir auch genutzt haben – und du hast es wenigstens versucht, statt einfach aufzugeben. Ehrlich, Grace, ich hätte dich nicht für jemanden gehalten, der einfach das Handtuch wirft, wenn es mal ein bisschen schwierig wird. Als du Anfang des Semesters bei uns vorgesungen hast, wolltest du nicht mal in die Band, sondern dir nur selbst etwas beweisen. Du hast es durchgezogen, obwohl du Angst davor hattest. Was ist mit dieser Grace passiert?«

  Ich wusste es nicht. Das war das Erschreckende daran. Ohne die geringste Vorwarnung fühlte ich mich wieder wie dasselbe unfähige Mädchen, das im landesweiten Fernsehen versagt und ihre ganze Familie blamiert hatte. Dasselbe Mädchen, das als Verliererin nach Hause zurückgekehrt war. Wenigstens hatte ich meinen Kummer diesmal nicht in Alkohol auf einer Party ertränkt und war im Krankenhaus aufgewacht, um meiner Mutter und Schwester den Schock ihres Lebens zu verpassen. Aber viel besser als damals war mein Verhalten heute auch nicht. Ich hatte bei etwas versagt, das mir die Welt bedeutete … und dann einfach aufgegeben.

  »Komm schon«, beschwor Jesse mich. »Du lässt uns nur im Stich, wenn du es gar nicht erst versuchst.«

  Ich atmete tief durch. Versuchte, gegen das Rauschen in meinen Ohren und die Panik in meiner Brust anzukämpfen. Mein ganzer Körper war auf Kampf oder Flucht eingestellt. Und bisher hatte ich immer die Flucht gewählt, weil es der einfachere Weg war. Der, mit dem ich mich irgendwie hatte arrangieren können.

  Aber diesmal würde ich das nicht zulassen.

  »Okay.« Mein Herz hämmerte wie verrückt, aber ich nickte. Erst zögerlich, dann immer entschlossener. »Aber ich kann dir keine Versprechungen machen.«

  Ein erleichtertes Lächeln umspielte seine Lippen. »Musst du auch nicht. Hauptsache, du lässt uns nicht hängen.«

  Das wollte ich auch nicht und hoffte so sehr, dass es nicht dazu kommen würde. Weil ich nicht wusste, ob ich noch einmal den Mut dazu aufbringen würde, wieder zu singen, wenn es auch diesmal schiefging.

  Kapitel 25

  Mason

  Die Woche war beschissen. Heute war Mittwoch, und der Tag begann damit, dass ich verschlafen hatte, verkatert aus dem Bett rollte und die Dusche im Bad aus Versehen auf eiskalt stellte. Vor Schreck schlug ich mir den Ellbogen an der Wand an. Scheiße, tat das weh! Aber wenigstens war ich anschließend richtig wach. Nur dass ich kurz darauf zu spät in meine erste Vorlesung kam, den Kaffee auf meiner Jeans verschüttete und mir jemand in der Mittagspause den letzten Burger vor der Nase wegschnappte. Und als wäre das nicht schon genug, musste ich zu allem Überfluss auch noch lauter glücklich verliebte Paare um mich herum ertragen.

  Wenigstens das konnte ich mittags einigermaßen vermeiden, indem ich mich ausnahmsweise nicht zu Emery und Dylan, Elle und Luke, Tate und Trevor an den Tisch setzte. Bei aller Liebe für diese bunte Truppe, heute ertrug ich sie einfach nicht. Also hockte ich mich zu Kane und Jesse an den Tisch und ignorierte den besorgten Blickwechsel der beiden. Als Pax dazustieß, noch viel verkaterter als ich, weil er letzte Nacht deutlich mehr von dem Scotch getrunken hatte, den wir uns in seinem Zimmer geteilt hatten, entspannten sie sich wenigstens ein bisschen. Wir redeten über Alltagskram, über Kurse und nervige Dozenten. Die Möglichkeit, unsere fehlende Sängerin zurückzuholen, erwähnte keiner mit einem einzigen Wort. Wir besprachen kurz unsere Setlist und entschieden gemeinsam, dass ich bis auf Weiteres wieder die Leadstimme übernehmen würde. Es war nicht ideal, aber es war alles, was wir im Moment tun konnten, da uns keine Zeit blieb, uns nach einer neuen Sängerin umzusehen und die Songs einzustudieren. Außerdem hatte ich genug damit zu tun, wenigstens einen Originalsong für den Wettbewerb fertig zu machen. An der Melodie übten die anderen bereits, während ich noch immer am Text feilte.

  Wir mussten es irgendwie allein s
chaffen. Denn auch wenn ich daran arbeitete, Grace zurückzugewinnen – sie dazu zwingen, wieder auf die Bühne zu gehen, konnte und wollte ich nicht. Das war ganz allein ihre Entscheidung und ihre Angst, die sie bezwingen musste.

  Nach dem Mittagessen gesellte ich mich zu den Theaterleuten ins PAC. Auch wenn die Musik mittlerweile stand, schienen heute alle Extrawünsche zu haben. Ich biss die Zähne zusammen und setzte ihre Ideen schweigend um. Es konnte mir egal sein. Das hier war nicht meine Aufführung, ich sorgte nur für den Soundtrack. Ursprünglich hatte ich geplant, ein Stück dafür selbst zu komponieren, aber dann war ich so damit beschäftigt gewesen, mit Grace an diesem einen Song zu arbeiten …

  Grace. Verdammt. Ich schloss die Augen und atmete tief durch, aber das vertrieb den Schmerz in meinem Inneren nicht. Nichts tat das, nicht mal die Flasche Scotch, die ich mir mit Pax geteilt hatte.

  Zwei Energydrinks brachten mich durch den Nachmittag, dann war es Zeit, meine Sachen zu packen und in den Proberaum zu gehen, in dem wir mit der Band übten. Zumindest war das der Plan, doch dann blieb ich wie erstarrt im Türrahmen stehen. Ich hatte damit gerechnet, allein zu sein, weil ich früh dran war und vor uns heute niemand für den Raum eingetragen war. Aber ich war nicht allein. Und der einzige Grund, warum ich Grace’ tiefe, sinnliche Stimme nicht schon früher gehört hatte, war die Musik in meinen Kopfhörern gewesen, die ich mir jetzt langsam von den Ohren schob. Sofort umfing mich ihre warme Stimme, die von den Klängen des Keyboards untermalt wurde.

  Sie stand am Mikro, in einem ihrer typischen knielangen Kleider, und hatte die Augen geschlossen, während sie ein Lied von Pink sang. Allerdings nicht die rockige, fröhliche Variante, sondern so gefühlvoll, dass ich innerhalb von Sekunden eine Gänsehaut bekam. Jesse stand am Keyboard und wechselte spielerisch die Melodie. Grace ging darauf ein, erkannte den Song sofort und sang weiter, als hätte sie nie etwas anderes getan, als dieses Medley von einer meiner Lieblingskünstlerinnen zu performen. Dabei wirkte sie so entspannt, so glücklich, dass es mir den Atem raubte.

 

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