Book Read Free

Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition)

Page 37

by Bianca Iosivoni


  Diesmal suchte Mason nicht nach mir. Er kam nicht zu mir, um sanft auf mich einzureden und mich zu beruhigen. Und auch sonst keiner der Jungs. Aber das war in Ordnung. Weil ich es ganz allein schaffen musste. Gott, ich wollte es allein schaffen. Ich wollte nicht ewig das Mädchen bleiben, das an ihren eigenen Selbstzweifeln und ihrer Unsicherheit zugrunde ging. Außerdem hatte ich es Jesse und den anderen versprochen. Und er hatte recht gehabt: Ich würde nur dann alle hängen lassen – mich selbst eingeschlossen –, wenn ich von vornherein aufgab. Aber wenn ich jetzt dort rausging, hatte ich es wenigstens versucht und mir bewiesen, dass ich es konnte. Und selbst wenn alles schiefging, selbst wenn mir wieder die Stimme wegbleiben sollte, wüsste ich mit absoluter Sicherheit, dass ich wieder aufstehen und weitermachen konnte. Dass ich nicht einfach liegen bleiben würde.

  Also stand ich auf, glättete mein dunkelblaues Kleid und marschierte zu den Toiletten, um mein Make-up aufzufrischen. Ich war so blass, dass meine Augen viel zu groß für mein Gesicht wirkten. Aber als die alten Selbstzweifel zurück in mein Bewusstsein kriechen wollten, um mir zu sagen, dass ich nicht hübsch, nicht talentiert, nicht dünn genug war, atmete ich tief durch und schob sie mit aller Macht beiseite. Ich würde das hier durchziehen. Das war ich den Jungs, aber vor allem mir selbst schuldig.

  Wenige Minuten später schloss ich mich den anderen Bandmitgliedern hinter der Bühne an. Ihre fragenden Blicke entgingen mir ebenso wenig wie ihre eigene Nervosität. Pax hielt die Drumsticks ausnahmsweise völlig ruhig, Kane lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen und einem angespannten Blick an der Wand, Jesse knetete seine Hände, fuhr sich durchs Haar, wippte auf und ab. Und Mason stand total still. Nur sein Blick zuckte immer wieder von der Bühne zu uns und wieder zurück.

  Dann wurden wir angekündigt, und uns blieb keine Zeit mehr. Keine Zeit für Nervosität, keine Zeit für weitere Absprachen, keine Zeit zum Zögern. Nacheinander betraten wir die Bühne, Mason und Pax voran, ich hinter den beiden, dicht gefolgt von Jesse und Kane.

  Im ersten Moment war ich von den Scheinwerfern geblendet und brauchte kurz, um mich an die neuen Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Das Herz schlug mir bis zum Hals, und meine Hände zitterten, als ich ans Mikro trat, um es auf meine Größe einzustellen. Gleich darauf schlossen sich warme Finger um meine. Ich riss den Kopf hoch und blickte in Masons Gesicht. Seine Miene war angespannt, aber er zog dennoch einen Mundwinkel hoch und stellte das Mikrofon auf der richtigen Höhe fest. Dann ging er zu seinem Platz zurück und griff nach der Gitarre.

  Mühsam riss ich meinen Blick von ihm los und ließ ihn durch den Saal wandern. Dabei rief ich mir wieder ins Gedächtnis, dass das hier ganz anders war als die Misswahlen, an denen ich teilgenommen und die ich im Fernsehen und im Internet mitverfolgt hatte. Direkt vor uns saß keine Jury, die uns mit kritischen Blicken beurteilte und sich jeden noch so kleinen Fehltritt notierte. Natürlich gab es eine, aber sie war zum Glück nicht zu sehen. Vor uns stand nur das Publikum, das uns mit begeistertem Klatschen empfing. Ein paar feuerten uns sogar lautstark an. Meine Nervosität ließ etwas nach. Wir mussten keine Jury überzeugen, wir mussten nur die Leute für uns gewinnen. Und das war uns schon einmal gelungen.

  Ich dachte an das Open-Air-Konzert zurück und klammerte mich an diese Bilder und Empfindungen. Wenn ich mich darauf konzentrierte, konnte ich es schaffen. Wir würden es alle zusammen schaffen. Nacheinander sah ich zu den Jungs und nickte ihnen zu. Paxton holte tief Luft, dann zählte er an.

  Insgesamt mussten wir drei Stücke spielen: einen Partysong, eine Ballade und ein Duett. Keiner davon musste ein Originalsong sein – das durften wir uns bis zum Finale aufheben, sollten wir überhaupt so weit kommen. Das Duett war es, was mir am meisten Sorgen bereitete, obwohl Despacito am kompliziertesten war, immerhin war es auf Spanisch. Wir hatten es in der kurzen Zeit unheimlich oft geübt, doch bei unserem letzten Gig hatte ich die Jungs damit allein gelassen. Das würde nicht noch mal passieren. Ich würde nicht wieder weglaufen.

  Als Mason mit der ersten Strophe begann, zog sich mein Magen vor Anspannung zusammen. Meine Hände zitterten noch immer, also umfasste ich das Mikro fester und betete innerlich zu jeder göttlichen Macht, dass mich meine Stimme diesmal nicht im Stich ließ. Ich atmete tief durch, lauschte auf den Takt und Masons Gesang, dann stieg ich im richtigen Moment ein.

  Mein Herz hämmerte wie verrückt, aber ich zog es durch. Ich sang vor diesem fremden Publikum. Vor einer Jury, die uns alle beurteilte. Anfangs merkte man mir die Unsicherheit bestimmt an, meine Wangen wurden warm, und meine Stimme war noch etwas dünn, doch mit jeder weiteren Sekunde gewann sie an Kraft, bis die Leute lautstark mitsangen.

  Ich warf den Jungs ein Lächeln zu, voller Erleichterung, aber auch in dem Wissen, dass wir bisher nur ein Drittel des Auftritts geschafft hatten. Aber der Anfang war das Schwierigste gewesen. Zumindest glaubte ich das.

  Die Ballade, die ich als Solo sang, schnürte mir die Kehle zu, dennoch brachte ich das Lied zu Ende. Es war der nächste Song, der mich jedes bisschen Selbstbeherrschung kostete. Jesse spielte die ersten Klänge am Keyboard und schon begann mein Puls zu rasen.

  Als wir uns Just A Dream für diese Performance ausgesucht hatten, hatte sich niemand etwas dabei gedacht. Es war ein Lied, das sich gut im Duett und mit viel Gefühl singen ließ. Keiner von uns hätte ahnen können, dass dieser Song eines Tages so sehr zu Mason und mir passen würde. Weil all das zwischen uns nur ein schöner Traum gewesen war. Ein Traum, in den ich zurückkehren, den ich noch mal erleben wollte, auch wenn ich wusste, dass er früher oder später unweigerlich wieder enden würde.

  Der Song begann mit einem Keyboard-Intro, dann legte Mason los, und ich fiel bei der Zeile, die auch Titel des Lieds war, mit ein. Gleich darauf war wieder Mason dran. Aber statt sich dem Publikum zuzuwenden, drehte er sich zu mir und hielt meinen Blick fest, während er die Worte sang. Ich schluckte hart, völlig gebannt von seinem Blick. Wie selbstverständlich sangen wir den Refrain zusammen, erzählten davon, wie oft wir aneinander dachten, daran, was wir gewesen waren und was wir sein könnten. Davon, wie sehr wir beide zurückwollten. Dann war es Zeit für meinen Part.

  Meine Stimme überschlug sich, Wut und Verzweiflung schwangen in jeder einzelnen Silbe mit, aber ich ließ mich nicht davon aus der Fassung bringen, sondern tat das, was ich seit jenem schrecklichen Erlebnis zu vermeiden versucht hatte: Ich legte alles von mir in diesen Song. All meine Gedanken, all meine Zweifel, all den Schmerz und alles von dem, was ich für Mason empfand. Ich spürte nicht mal, wie mir Tränen über die Wangen liefen, bis ich Masons Finger auf meiner Haut fühlte, der sie mit einer sanften Bewegung wegwischte. Es war sein Gesicht, in das ich sah, seine Augen, in denen ich versank, als wir das Stück zu Ende brachten. Und während die letzten Töne verklangen, konnte ich meinen Blick nicht von ihm lösen.

  Weil unser Traum, so wundervoll er auch gewesen war, zu einem Ende gekommen war.

  Tosender Beifall brach über uns herein und brachte mich in die Gegenwart zurück. Und zu der Erkenntnis, wie verwundbar ich mich gemacht hatte. Der Schmerz war wieder da, für alle sichtbar, und es wurde von Sekunde zu Sekunde nur noch schlimmer. Jeder Blick, jeder Atemzug, jede Berührung tat einfach nur weh. Meine Augen brannten, und ich konnte kaum noch etwas erkennen. Ich wusste nur eines: Ich musste hier weg.

  Also tat ich das, was ich immer tat: Ich ergriff die Flucht.

  Mason

  »Grace! Warte!«

  Ich dachte nicht nach, als ich die Bühne verließ und Grace folgte. Wie damals in meiner WG hatte sich mein Denken vollkommen abgeschaltet, nur dass ich sie diesmal nicht küsste, sondern am Handgelenk packte, bevor sie wieder vor mir weglaufen konnte.

  Sie blieb stehen, drehte sich aber nicht zu mir um. Dafür begann sie zu zittern.

  »Was war das gerade?«

  Schweigen.

  »Grace …«

  »Gar nichts«, behauptete sie, als würde ich nicht merken, wie erstickt sie gerade klang. Oder dass sie sich hastig über die Wangen wischte.

  »Gar nichts?«, wi
ederholte ich fassungslos und ließ sie los. »Also war das alles nur Teil der Performance?«

  Ich wusste, dass sie Ja sagen wollte. Ich konnte es ihr ansehen, als sie sich zu mir umdrehte. Genauso wie ich ihr ansehen konnte, dass es eine Lüge gewesen wäre. Grace mochte eine gute Schauspielerin sein, aber sie war nicht so gut. Allen anderen konnte sie vielleicht weismachen, dass alles – ihre Tränen und die Art, wie ihre Stimme gebrochen war – nur einstudiert war, um das Publikum und die Jury auf ihre Seite zu ziehen. Aber mir nicht. Ich hatte die echte Grace kennengelernt, hatte ihre Höhen und Tiefen hautnah miterlebt. Warum versuchte sie also noch immer, mir etwas vorzumachen?

  »Sag es«, verlangte ich. »Sag mir ins Gesicht, dass du nichts für mich empfindest. Sag mir, dass du nicht mit mir zusammen sein willst, und ich lasse dich für immer in Ruhe.«

  Ihre Augen weiteten sich. Sie öffnete den Mund, aber ihr kam kein Wort über die Lippen. Sie zitterte noch immer, und ich hasste es, sie so zu sehen, aber wenn ich eines gelernt hatte, dann, dass man mit netten Worten und Schmeicheleien bei Grace Watkins nicht weiterkam. Nicht, solange sie nicht mal sich selbst gegenüber ehrlich sein konnte.

  Ich wusste, dass sie etwas für mich empfand. Verdammt viel sogar. Ich konnte es ihr ansehen, hatte es bei jedem Kuss und jeder Berührung gespürt. Ich hatte es an dem Leuchten in ihren Augen gemerkt und daran, wie sie mich anlächelte und sich beim Einschlafen an mich schmiegte. Und ich hatte es heute Abend gehört, hatte es gerade eben auf der Bühne gesehen. Zusammen mit Hunderten Zuschauern. Ich war ihr nicht egal. Trotzdem konnte oder wollte sie nicht mit mir zusammen sein – auch wenn sie diese Worte nicht aussprach.

  »Sag es …«, wiederholte ich leiser, rauer, da auch meine Stimme zu brechen drohte.

  Wieder liefen ihr Tränen über die Wangen, aber sie schüttelte auch den Kopf.

  »Du kannst es nicht, oder?«

  »Maze …«

  »Hast du Emerys Nachricht bekommen? Hast du letzte Nacht den Campus-Sender eingeschaltet?«

  Hatte sie den Song gehört? War ihr klar, dass ich ihn für sie fertig geschrieben und eingesungen hatte? Für uns? Ich war über meinen Schatten gesprungen, denn obwohl ich schon länger mit dem Gedanken spielte, eines meiner eigenen Lieder auch andere hören zu lassen, hatte ich dieses Vorhaben bisher nie in die Tat umgesetzt. Zu groß war die Angst davor, von anderen beurteilt zu werden und erkennen zu müssen, dass ich zwar ganz gut Cover singen, aber keine eigene Musik produzieren konnte. Denn genau das war es, was ich tun wollte. Die Band war nicht nur ein nettes Hobby und Musik nicht nur eine Flucht aus dem Alltag für mich. Musik war mein Alltag. Meine Tage und Nächte, meine Gedanken und Gefühle, meine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ich wollte nicht an die Westküste ziehen, ich wollte kein Haus kaufen und jahrelang die Hypothek abbezahlen müssen. Ich wollte keinen Bürojob. Ich wollte weiter Musik machen, sie spielen, komponieren und meine eigenen Texte singen. Und ich konnte nicht glauben, dass es so lange gedauert hatte, bis ich mir dies eingestehen und ganz klar als die Zukunft vor mir sehen konnte, die ich mir wünschte.

  Aber ich hatte erst einen Grund gebraucht, um mich wirklich zu trauen. Und Grace war dieser Grund für mich. Für sie war ich in ein verdammtes Haifischbecken gesprungen. Zumindest kam es mir so vor. Aber wenn sie den Song nicht mal gehört hatte …

  Grace zögerte, nickte dann jedoch. »Ich habe ihn gehört und … er war unglaublich. Du warst unglaublich …«

  Für einen winzigen Moment explodierte die Hoffnung in mir wie das Feuerwerk am vierten Juli, aber als Grace nichts weiter sagte und sich das Schweigen zwischen uns auszudehnen begann, verglomm die Hoffnung ebenso schnell wieder.

  Irgendwie brachte ich ein Lächeln zustande, auch wenn mir eher nach Schreien zumute war. »Es ändert nichts, oder? Es ändert überhaupt nichts.«

  »Es tut mir leid, Maze …«

  »Warum?« Ich hob die Hand und strich mit den Fingerknöcheln über ihre Wange. Sie war noch immer feucht. »Warum ändert es nichts?«

  »Ich kann das nicht. Ich kann nicht mit dir zusammen sein, wenn ich … wenn … Glaub mir, du bist ohne mich besser dran.«

  Ich starrte sie an. Fassungslos, dass sie so etwas überhaupt denken konnte.

  Verdammt, so konnte es nicht enden. Ich weigerte mich, das zu akzeptieren. Grace war die ganze Zeit da gewesen, die ganze Zeit über direkt vor meinen Augen, aber ich war so verdammt blind gewesen und hatte mich nur auf meine Exfreundin konzentriert statt auf das, was ich wirklich wollte. War das die Strafe dafür? Dass ich einen Vorgeschmack davon bekam, wie es mit Grace sein konnte, wie wir zusammen sein konnten, nur um sie dann für immer zu verlieren?

  Und was sollte überhaupt dieser Blödsinn, dass ich ohne sie besser dran war? Das war ich nicht. Konnte sie das nicht sehen? Waren ihre Zweifel und Ängste wirklich so groß, dass sie alles andere überlagerten? Ich wollte dagegen ankämpfen, wollte für Grace, für uns beide kämpfen – aber wie konnte ich das tun, wenn sie selbst ihr größter Feind war? Wenn all ihre Zweifel wie eine Mauer zwischen uns aufragten, die ich nicht überwinden konnte, ganz egal, wie sehr ich mich anstrengte? Grace war diejenige, die all das überwinden musste, aber sie versuchte es nicht einmal. Sie gab einfach auf. Mich. Uns. Sich selbst.

  Stimmen waren von der Bühne aus zu hören. Die Sieger wurden verkündet, und bevor ich es realisierte, nannten sie unseren Bandnamen. Ich blinzelte. Wir hatten es geschafft. Wir waren in die nächste Runde gekommen. Aber ich nahm die Worte kaum wahr, weil all meine Aufmerksamkeit bei der Frau vor mir lag.

  »Es tut mir …«

  »Hör auf!«, unterbrach ich sie schroff. »Hör auf, ständig zu sagen, dass es dir leidtut.«

  Sie zuckte zusammen, beendete ihren Satz aber nicht mehr. Stattdessen sah sie kurz zur Bühne und dann wieder zurück zu mir. »Was ist mit dem Wettbewerb?«, fragte sie leise.

  Ich schnaubte. Wut mischte sich unter die Verzweiflung, die in mir tobte. Sie entschied einfach, was für uns beide das Beste war, ohne mich auch nur ein einziges Mal zu fragen, aber bei der Band überließ sie mir freiwillig die Entscheidung darüber, was richtig und was falsch war? Fuck, war das ihr verdammter Ernst?

  Ich schüttelte den Kopf. »Vergiss es«, stieß ich hervor. »Du wolltest von Anfang an nicht in die Band, also kannst du auch genauso gut zu Hause bleiben. Wir brauchen dich nicht.«

  Kapitel 28

  Grace

  Wir brauchen dich nicht.

  Die Worte taten weh. Schlimmer noch: Sie hatten sich so sehr in mein Gedächtnis eingebrannt, dass sie Tage später noch immer in meinem Bewusstsein widerhallten. Ich wusste nicht mal, warum ich überrascht war. Mason hatte recht. Ich hatte von Anfang an nicht die Sängerin von Waiting for Juliet sein wollen. Nur, weil er mich dazu überredet hatte, war ich überhaupt mit ihnen aufgetreten. Und jetzt schien auch dieses Kapitel in meinem Leben vorbei zu sein.

  Ich wünschte nur, es würde nicht so wehtun. Ich wünschte, ich könnte all das vergessen und den Schmerz betäuben. Ich wünschte, es wäre nie passiert.

  Nein. Noch während dieser Gedanke in meinem Kopf auftauchte, wurde mir klar, dass das gelogen war. Ich würde alles darum geben, die Zeit zurückzudrehen und die letzten Wochen noch mal zu erleben.

  Stattdessen strampelte ich mich im Fitnesscenter ab, bis ich völlig durchgeschwitzt war und mir vor Anstrengung beinahe schlecht wurde. Doch als ich die Trainingsergebnisse und verbrauchten Kalorien auf dem Heimweg an meine Mutter mailen wollte, hielt ich zum ersten Mal inne.

  Was tat ich da eigentlich? Hatte ich mich wirklich wieder so sehr ihrer Kontrolle unterworfen, dass ich sie darüber entscheiden ließ, wie und wo ich trainierte und was ich mir zu essen erlaubte?

  Ich zögerte noch einen Herzschlag lang, dann packte ich das Handy weg und lief zurück zum Wohnheim. Als ich endlich dort ankam, war ich noch viel mehr außer Atem als direkt nach dem Workout. Meine Beine zitterten, mein Magen verkrampfte sich, und die Welt begann sich zu drehen.

  Keuchend stützte ich mich gegen meine Zimmertür und tastete nac
h der Schlüsselkarte. Irgendwo musste sie doch sein … Ich wühlte in meiner Tasche, schob Bücher beiseite, durchsuchte Innentaschen und meine Alltagskleidung. Meine Sicht begann zu verschwimmen, und ich musste gegen die Tränen ankämpfen. Verdammt, wo war diese Schlüsselkarte?

  Als meine Finger etwas Flaches, Plastikartiges ertasteten und die Karte herauszogen, hätte ich am liebsten geweint. Ob vor Erleichterung oder Verzweiflung wusste ich nicht mal selbst.

  Ich schleppte mich in mein Zimmer, ließ die Tasche zu Boden fallen und riss die Schranktüren auf. Ich musste dringend etwas essen, bevor ich noch umkippte, aber davor wollte ich duschen und mein Lieblingsshirt anziehen. Wahrscheinlich war es völlig bedeutungslos, was ich gleich anzog, aber aus irgendeinem Grund war es mir wichtig, genau dieses Shirt zu finden. Es war weit geschnitten, mit einem fröhlichen Blütenmuster und so lang, dass ich es auch als Kleid tragen konnte. Aber vor allem war es weich und gemütlich und ein Geschenk meiner Schwester. Ich brauchte dieses Shirt. Jetzt. Sofort.

  Aber ganz egal, wie sehr ich danach suchte und wie viele andere Kleidungsstücke ich herauszog und hinter mir auf den Boden warf, ich fand dieses eine Oberteil einfach nicht. Dafür hielt ich plötzlich einen Umschlag in der Hand, der mir viel zu bekannt vorkam. Langsam drehte ich ihn herum. Das Kuvert war unbeschriftet, trug aber das Logo eines Krankenhauses.

  Mir drehte sich der Magen um, trotzdem zog ich das einzelne Blatt heraus, faltete es auf und begann zu lesen:

  01. November

  Ich liege in einem Krankenhausbett, mit einer Nadel im Arm, einem Schlauch in der Nase, einem Brennen in Hals, das einfach nicht verschwinden will, und einer Stimme, die nicht mehr meine ist.

  Meine Knie gaben nach, und ich rutschte am Schrank entlang zu Boden. Dort saß ich, umringt von meinen ganzen Klamotten, und starrte auf den Brief in meiner Hand. Die Schrift verschwamm vor meinen Augen, als die Bilder in meinem Kopf auftauchten. Ich, blass, mit blutleeren Lippen, Augenringen und einem dicken Pflaster an der Schläfe – dort, wo heute die Narbe war. Ich konnte mich kaum noch an den Abend zuvor erinnern, erst recht nicht an den Unfall, aber die Details aus dem Krankenhaus hatten sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt. Ich wusste noch genau, wie elend ich mich gefühlt hatte. Zu schwach, um aufstehen und herumlaufen zu können. Und ich war allein gewesen. Allein mit meinen Gedanken. Allein mit meinen Zweifeln. Irgendwann hatte ich eine der Krankenschwestern so lange genervt, bis sie mir Stift und Block vorbeigebracht hatte. Der Name und das Logo der Klinik standen noch immer auf dem Papier, auch wenn beides mittlerweile verblasst war.

 

‹ Prev