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Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us

Page 10

by Iosivoni, Bianca


  »Warst du schon mal irgendwo außerhalb der Staaten?« Holly verrenkte sich beinahe den Hals, um nach hinten zu schauen.

  »Gezwungenermaßen, ja.« Er zögerte einen Herzschlag lang. »Nach der Highschool bin ich zur Army gegangen und ein bisschen rumgekommen. Leider nicht in die typischen Touristenregionen.«

  Das erklärte den Armeerucksack. Unser Wiedersehen am Flughafen blitzte vor meinem inneren Auge auf. Damals hatte ich ihn für einen Vagabunden gehalten, weil er so aussah, als hätte er eine lange Reise hinter sich. War er etwa direkt von einem Einsatz hierhergekommen? Aus dem Irak, Syrien oder Afghanistan? Die Fragen brannten mir auf der Zunge, aber ich sprach keine einzige davon aus. Es sollte mich nicht interessieren, was er in den vergangenen sieben Jahren getrieben hatte. Zum Teufel, er sollte mich nicht interessieren. Nichts an ihm, außer der Frage, wann er wieder aus meinem Leben verschwinden würde. Darin hatte er ja bereits Übung.

  Die Fahrt bis zum National Forest dauerte etwas mehr als zwei Stunden. Ich parkte den Jeep auf einer der extra dafür angelegten Flächen am Rande des Waldes und stellte den Motor ab. Inzwischen stand die Sonne deutlich höher, und ich war froh, meine alte Kappe im Schrank gefunden und eingepackt zu haben.

  Holly sprang aus dem Wagen und streckte sich ausgiebig, dann band sie sich das lange Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und setzte ein bunt gepunktetes Cap auf. »Es sieht noch genauso aus wie damals, als wir mit Dad hier waren, oder, Callie?«

  Ich hatte mich gerade nach meinem Rucksack gebückt, doch nun erstarrte ich mitten in der Bewegung. Die Erinnerung streifte mich so sanft wie ein Windhauch. Kinderlachen. Das Getrippel schneller Schritte. Hollys kleine Hand, die in einer sehr viel größeren lag … Wie immer musste ich nicht lange auf den vertrauten Schmerz warten. Für gewöhnlich war es wie der Stich einer Nadel, kurz und schnell wieder vorbei, da ich jede Erinnerung an damals entschieden beiseiteschob. Diesmal fühlte es sich eher wie ein Skalpell an, das quälend langsam durch meine Brust gezogen wurde. Zwei, drei Sekunden lang bekam ich keine Luft, dann füllte so viel davon meine Lunge, dass ich glaubte, sie würde gleich bersten.

  »Ja«, erwiderte ich monoton und richtete mich wieder auf. Holly hatte sich bereits abgewandt und war ein paar Schritte weiter zum ausgeschilderten Wanderweg gelaufen. Ich spürte Keiths Blick auf mir, fragend, drängend, aber ich weigerte mich, zu ihm zu schauen. Stattdessen tat ich das, was ich am besten konnte und verdrängte den Schmerz zusammen mit den Erinnerungen, während ich meinen Rucksack schulterte.

  Vor uns erstreckte sich eine hügelige Landschaft voller alter Bäume, die unglaublich hoch in den Himmel ragten. Der würzige Geruch des Waldes lag in der Luft, zusammen mit einer Feuchtigkeit, die zu Hause nicht zu spüren gewesen war. Der Sommer hatte gerade erst begonnen, also leuchtete alles um uns herum in einem satten Grün. Das braune Schild am Anfang des Weges wies uns darauf hin, dass der Pfad über hundertdreißig Meilen lang war und wir für unsere Sicherheit selbst verantwortlich waren. Darunter prangte die Notrufnummer in großen weißen Ziffern.

  »Kommt schon!«, drängte Holly wie eine übereifrige Pfadfinderin. Sie war bereits ein paar Schritte vorausgegangen und winkte uns ungeduldig zu.

  Ich spürte Keith hinter mir, beachtete ihn aber nicht, als ich meine Kappe geraderückte und mich in Bewegung setzte. Kieselsteine knirschten unter meinen braunen Wanderstiefeln, die mir bis knapp über die Knöchel reichten. Dazu trug ich Hotpants, ein khakifarbenes Tanktop und eine offene Bluse, deren Ärmel ich mir bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hatte. Nach der Wärme in den letzten Tagen wollte ich kein Risiko eingehen – auf einen Hitzschlag hatte ich wirklich keine Lust. Anders als Keith offenbar, der in seinem dunklen T-Shirt von der Sonne gebraten werden würde.

  Die erste Stunde marschierten wir schweigend, einzig unterbrochen von Hollys Zwischenstopps, um ein Foto zu schießen. Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Meine Schwester könnte wahrscheinlich so ziemlich alles im kreativen Bereich studieren – Modedesign, Schreiben, Theater –, aber Fotografie war wirklich nicht ihre Stärke. Auch wenn das ihre Begeisterung in keiner Weise zu mindern schien.

  »Na los«, kam es plötzlich von Keith, doch als ich mich zu ihm umdrehte, war es Holly, die er mit einem belustigten Ausdruck im Gesicht musterte. »Ich sehe doch, dass du vor Neugier gleich platzt.«

  Oh, oh. Das hätte er besser nicht sagen sollen.

  »Was hast du all die Jahre getrieben?«, sprudelte es aus ihr hervor. »Wieso warst du bei der Armee? Wo hast du gewohnt? Was hast du erlebt? Bleibst du jetzt hier?«

  Die letzte Frage kam so überraschend, dass ich ins Stolpern geriet. In letzter Sekunde fand ich mein Gleichgewicht wieder und murmelte etwas von einem Stein auf dem Weg. Den Blick hielt ich dabei auf den Boden gesenkt. Warum hämmerte mein Herz auf einmal so schnell? Keine von Hollys Fragen sollte mich interessieren, weil es mich verdammt noch mal nichts anging. Ich wollte nicht wissen, was Keith in den letzten sieben Jahren getrieben hatte. Das würde seine Anwesenheit und ihn als Person viel zu real machen. So konnte ich mir noch immer einreden, dass er in der Hölle geschmort hatte und diesen Sommer über nur eine kurze Pause davon nahm.

  »Das sind ganz schön viele Fragen«, stellte er amüsiert fest.

  »Wir haben den ganzen Tag Zeit«, konterte Holly ungerührt.

  Ich hielt mich heraus, gab mich völlig desinteressiert, doch mit jedem weiteren Schritt, den ich machte, pochte mein Puls ein bisschen schneller.

  »Ich habe bei meinem Dad an der Westküste gewohnt, bis ich mit der Highschool fertig war«, begann Keith gleichmütig zu erzählen. In seiner Stimme lag keine Emotion, weder positive noch negative, als würde er uns diese Informationen zwar freiwillig geben, uns jedoch nicht an seinem Innenleben teilhaben lassen. »Da Dad bei der Army war und ich keine Ahnung hatte, was ich sonst machen sollte, habe ich mich kurzerhand eingeschrieben. Nach zwei Jahren hatte ich genug, war mal hier, mal da und hatte verschiedene Jobs. Jetzt bin ich zurück.«

  »Also hast du keine Wohnung an der Westküste oder irgendwo anders?« Holly klang so hoffnungsvoll, dass sich mir die Kehle zuschnürte. Sie wollte tatsächlich, dass er hierblieb. Sie hatte ihm verziehen. Schlimmer noch: Sie wollte, dass er ein Teil ihres Lebens wurde. Zumindest diesen Sommer über, bevor sie selbst auszog. Und so wie ich Holly kannte, auch danach.

  Keith zögerte eine Sekunde. »Nein. Das habe ich nicht.«

  »Du kannst bestimmt so lange bleiben, wie du willst. Dein Zimmer stand in den letzten Jahren sowieso leer.«

  Moment mal. Wo kam das auf einmal her?

  »Holly, ich glaube nicht …«, setzte ich an, aber Keith unterbrach mich.

  »Mal sehen«, erwiderte er vage. »Ich wollte mir sowieso einen Job und eine Wohnung in der Nähe suchen.«

  Was?

  Mein Kopf ruckte zu ihm herum. Das konnte nur ein schlechter Scherz sein. Ich öffnete den Mund, um dagegen zu protestieren, dass er sich ein Leben in meiner Heimat aufbaute, aber Holly war schneller.

  »Cool.« Sie lächelte so glücklich über diese Möglichkeit, dass ich den Mund unverrichteter Dinge wieder schloss.

  Drei Monate, versicherte ich mir in Gedanken. Drei Monate und ich würde ihn nie wiedersehen müssen. Höchstens zu Weihnachten und an Thanksgiving, wenn ich es dieses Jahr überhaupt zu den Feiertagen nach Hause schaffte. Und zu Stellas Geburtstag. Dreimal im Jahr. Das war machbar. Das war in Ordnung.

  Zumindest war es das, was ich mir in den nächsten Stunden wie ein Mantra in Gedanken vorbetete. Die Zeit verging seltsam schnell und gleichzeitig quälend langsam. Ich genoss es, durch den Wald zu laufen und die Hügel hinaufzuklettern, selbst wenn ich dabei abrutschte und mir Hände und Knie dreckig machte. Nach all den Wochen, die ich eingeschlossen in meinem Wohnheim und in der Bibliothek mit Lernen verbracht hatte, tat mir so viel frische Luft unheimlich gut. Gleichzeitig fühlte sich jedes Gespräch zwischen uns dreien so an, als würde ich durch Wasser laufen. Zäh und kräftezehrend. Holly und Keith schienen nichts davon zu bemerken. Die beiden redeten und lachten miteinander,
als wären keine sieben Jahre vergangen, in denen sie sich nicht gesehen hatten. Irgendwann, nachdem wir einen zweiten Flusslauf passiert hatten, war Holly dazu übergegangen, Keith mit weiteren Fragen zu bombardieren.

  »Hm, lass mich überlegen«, murmelte sie jetzt und zog die Nase kraus. »Lieblingsfilm?«

  »Star Trek.«

  »Welcher?«

  Ein amüsiertes Lächeln umspielte seine Lippen. »Alle.«

  »Na gut. Vielleicht bist du noch zu retten.«

  »Wie bitte?«

  Ich gab mir keine Mühe, mein Lächeln zu unterdrücken, während ich dem Wortwechsel wie einem Tennisspiel folgte.

  »Du und dein schöner Chris. Wann ist noch mal eure Hochzeit?«

  Holly drehte sich im Gehen zu mir um und funkelte mich an. »Ich habe einen Fünf-Jahres-Plan. Und wenn du so weitermachst, lade ich dich nicht zur Feier ein.«

  Entschuldigend hob ich die Hände, konnte mein Lachen aber kaum unterdrücken. Im zarten Alter von sieben Jahren hatte sie den Schauspieler das erste Mal in diesem Prinzessinnen-Film gesehen und sofort verkündet, dass sie ihn eines Tages heiraten würde. An diesem Vorhaben hatte sich bis heute nichts geändert.

  »Chris Pine? Ehrlich?« Keith verzog das Gesicht. »Ist der nicht viel zu alt für dich?«

  »Hey!« Holly stemmte die Hände in die Hüften und deutete dann abwechselnd auf uns beide. »Macht so weiter und ich lasse euch hier stehen, schnappe mir den Jeep und fahre allein zurück.«

  Ich kräuselte die Lippen. »Dir ist aber schon klar, dass ich bei den Pfadfindern war, oder?«

  »Und ich in der Army«, fügte Keith hinzu. In seiner Stimme schwang eine unterschwellige Belustigung mit, als würde er sein Grinsen nur mühsam zurückhalten. »Wahrscheinlich sind wir schneller wieder beim Wagen als du.«

  Holly warf uns beiden einen bitterbösen Blick zu. »Ihr seid schrecklich. Ich will neue Geschwister.«

  Ich lachte auf. »Im nächsten Leben dann.«

  Statt einer Antwort streckte sie mir die Zunge raus, drehte sich um und marschierte weiter. Wenige Minuten später löcherte sie Keith schon wieder mit neuen Fragen. Wie eine Erstklässlerin, die das neue Wissen in sich aufsog wie ein Schwamm, nahm sie jedes Detail über ihn in sich auf. Als wollte sie die sieben verlorenen Jahre damit wettmachen.

  »Lieblingsessen?«

  »Pizza Diavolo.«

  »Gute Wahl«, lobte sie. »Lieblingslied?«

  »Imagine von John Lennon«, antwortete Keith wie aus der Pistole geschossen.

  Diesmal blieben wir beide stehen und starrten ihn an. Ich hätte auf jeden Fall auf einen Hardrock-Song getippt. So etwas wie AC/DC, Black Sabbath, Bon Jovi, Deep Purple oder eine andere Band in dieser Richtung, die er früher immer gehört hatte. Aber ein Lied über Liebe und Frieden?

  »Sag bloß, du bist Pazifist geworden?«, murmelte ich spöttisch. »Und das als Soldat?«

  Sein Blick fand meinen und hielt ihn fest. »Gerade weil ich Soldat war, bin ich Pazifist«, verbesserte er mich. Seine Züge waren hart geworden, seine Augen ausdruckslos. Mir wurde plötzlich kalt, obwohl ich in einem sonnigen Fleck auf dem Weg stand. Was war mit ihm geschehen? Nicht hier, nicht heute, sondern schon vor Jahren, während seiner Zeit bei der Armee? Denn dass etwas passiert sein musste, war offensichtlich, so wie er diesem Thema auswich. Und wenn er doch darüber sprach, tat er es völlig emotionslos.

  Holly unterbrach unser Duell mit einem Räuspern. »Ich finde das toll.« Sie lächelte in dem Versuch, die plötzliche Spannung zwischen uns zu überspielen. »Lieblingsgetränk?«

  So ging es weiter, bis ich das Geplänkel der beiden größtenteils ausblendete und mich auf meine Schritte konzentrierte. Die Muskeln in meinen Beinen brannten und erinnerten mich schmerzhaft daran, dass es viel zu lange her war, seit ich zuletzt Sport getrieben hatte. Früher war ich jeden Morgen joggen gegangen, hatte den Pfad eingeschlagen, der von unserem Haus auf die Felder führte, meinen iPod laut aufgedreht und für eine Weile alles andere vergessen. Warum hatte ich damit aufgehört?

  Als die Sonne am höchsten stand und mir der Schweiß bereits den Rücken hinunterlief, zeigte auch Keith erstmals Anzeichen dafür, dass ihm zu warm war. Aber statt sich wie ich die Kappe vom Kopf zu ziehen und mit dem Unterarm über die Stirn zu wischen, zog er sich das T-Shirt aus. Einfach so.

  Wir standen auf einer kleinen Lichtung neben einem Wasserfall und Holly hatte sich gerade in die Büsche verzogen. Zum ersten Mal seit heute Morgen waren Keith und ich allein. Und natürlich wählte er ausgerechnet diesen Zeitpunkt, um sich auszuziehen.

  Seine Brust war ebenso gebräunt wie der Rest seines Körpers und glänzte jetzt vor Schweiß. Ich registrierte die breiten Schultern und die lange Narbe direkt unter seinem Schlüsselbein, die sich wie ein heller Strich von seiner Haut abhob. War sie von damals? Vom Unfall? Oder hatte er sie später bekommen, während seiner Zeit beim Militär? Mein Blick wanderte weiter, über trainierte Bauchmuskeln, und folgte der feinen Spur aus dunklem Haar, die im Bund seiner tief sitzenden Hose mündete. Direkt darüber, unter seinem rechten Hüftknochen, lugten die schwarzen Linien eines Tattoos hervor.

  Ich merkte nicht einmal, dass ich ihn anstarrte und seinen muskulösen Oberkörper mit meinen Blicken abtastete, bis ich wieder bei seinem Gesicht ankam. Sein wissendes Grinsen traf mich wie ein Schlag in die Magengrube.

  »Gefällt dir die Aussicht?« Seine Stimme hatte einen rauen Tonfall angenommen, der wie ein warmer Windhauch über meine Haut strich.

  Ich zuckte zusammen und verfluchte mich im selben Moment für meine Reaktion. Aber noch mehr verfluchte ich ihn dafür, dass er mich dabei ertappt hatte, dass ich ihn wie ein liebeskranker Teenager angaffte.

  »Sehr sogar.« Meine Wangen schmerzten, so sehr bemühte ich mich um ein überzeugendes Lächeln. »Der Wasserfall hinter dir ist atemberaubend. Wenn du mal zur Seite gehen könntest, damit ich den Anblick genießen kann?«

  Er gluckste leise, tat mir aber den Gefallen und trat kopfschüttelnd beiseite. »Ich frage mich, wie lange du die Scharade aufrechterhalten kannst«, raunte er mir im Vorbeigehen zu.

  Ich sah ihm wortlos nach, während ich das Chaos in meinem Kopf und meinem Herzen zu ordnen versuchte. Keith ging zurück zu unseren Rucksäcken, die wir im Schatten der Bäume am Flussufer abgestellt hatten, und nahm sich sein Wasser heraus.

  »Was ist mit dir?«, fragte er, bevor er die Flasche an seine Lippen führte und einige große Schlucke daraus trank.

  Hastig wandte ich den Blick ab. »Was soll mit mir sein?«

  »Holly hat mich stundenlang mit Fragen gelöchert, aber du hast mir keine gestellt.« Ich spürte, wie er mich beobachtete. »Keine einzige, Callie.«

  Ich zuckte mit den Schultern. »Es interessiert mich nicht, wer du bist oder was du in den letzten Jahren getan hast.«

  Lüge. Sie brannte so deutlich zwischen uns, als hätte jemand ein Feuer entzündet.

  »Bist du sicher?«

  Und wie ich sicher war.

  Ich hob den Kopf und fixierte ihn. »Du bist für mich an dem Tag gestorben, an dem du das Krankenhaus verlassen hast.«

  Meine Worte sollten ihn treffen, ihn ebenso verletzen, wie er mich verletzt hatte, aber er zuckte nicht einmal zusammen. Als würde ihm all das nichts bedeuten. Als wäre er sich keiner Schuld bewusst. Stattdessen trat ein nachdenklicher Ausdruck auf sein Gesicht.

  »Wenn das wirklich wahr ist …«, begann er ruhig und schob die Hände in seine Hosentaschen. »Warum hasst du mich dann so sehr?«

  Ich öffnete den Mund, doch mir kam kein Wort über die Lippen. Hasste ich ihn, weil er so unerwartet wieder in mein Leben getreten war? Oder hatte ich ihn schon die ganze Zeit gehasst, ohne mir selbst darüber bewusst zu sein, weil ich zu sehr damit beschäftigt gewesen war, ihn aus meinem Gedächtnis zu streichen?

  Holly kehrte von ihrem kurzen Abstecher in die Büsche zurück und bewahrte mich davor, ihm eine Antwort geben zu müssen, doch die Erleichterung wollte sich nicht einstellen. Keiths Frage brachte mich dazu, an
Dinge zu denken, mit denen ich mich nicht auseinandersetzen wollte.

  Seufzend ließ sich Holly neben ihrem Rucksack ins Gras fallen. Das eisige Schweigen zwischen Keith und mir schien ebenso an ihr vorbeizugehen wie die Spannung, die auf einmal in der Luft lag. Oder sollte ich sagen, die wieder in der Luft lag? Wenn es eine einzige Sache gab, die sich in sieben Jahren nicht geändert hatte, dann war es die Tatsache, dass Keith noch immer genau wusste, wie er mich mit wenigen Worten zur Weißglut bringen konnte. Er war die einzige Person auf Erden, der es gelang, mich wirklich aus der Fassung zu bringen und die Beherrschung verlieren zu lassen. Das war früher schon so gewesen, worunter vor allem die Türen im Haus und die Ohren der anderen Familienmitglieder hatten leiden müssen, und daran schien sich bis heute nichts geändert zu haben.

  Ich ging am Flussufer in die Hocke, formte meine Hände zu einer Schale und kühlte mein erhitztes Gesicht und meine Arme. Heute Morgen hatte ich in aller Eile Sonnencreme aufgetragen, doch trotz dieser Vorkehrung und der Kappe aus meiner Pfadfinderzeit spürte ich schon jetzt ein feines Brennen auf meiner Haut. Früher war ich so braun wie Holly gewesen, weil ich jeden Tag draußen verbracht hatte. Inzwischen hatte ich jedoch mehr Ähnlichkeit mit einer schneeweißen Laborratte als mit einer Südstaatenschönheit.

  »Leute …«, rief Holly, die sich auf den Rücken gelegt hatte und alle viere von sich streckte. »Können wir hier bleiben? Bis morgen oder so? Dann kann ich meine Füße sicher wieder spüren.«

  »Da ist jemand noch nicht fit für seine Weltreise, was?«, gab ich unbeeindruckt zurück, nahm eine Ladung Wasser in meine hohle Hand und spritzte sie damit nass.

  Sie quietschte auf und war sofort wieder auf den Beinen. Von wegen schmerzende Füße!

  Keine zwei Meter weiter lachte Keith auf und beobachtete uns, während er von seinem Sandwich abbiss. Auch er hatte sich neben unseren Rucksäcken niedergelassen und jetzt lag eine Mischung aus Belustigung und etwas anderem in seinem Gesicht. Wehmut vielleicht? Ich konnte nicht weiter darüber nachdenken, da mich plötzlich ein ganzer Schwall Wasser von der Seite traf.

 

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