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Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us

Page 21

by Iosivoni, Bianca


  Für einen Moment glaubte ich, dass meine kleine Schwester protestieren würde, doch dann schloss sie den Mund unverrichteter Dinge wieder und nickte nur. Wahrscheinlich erkannte sie dieselbe Sorge im Gesicht unserer Stiefmutter wie ich. Stella versuchte keine Spielverderberin zu sein und auch nicht die Übermutter zu spielen, aber für meine Schwester war sie tatsächlich eine Mutter. Die Einzige, an die sie sich noch erinnern konnte. Und Holly war das letzte Kind, das das Nest verließ. Auch wenn Keith zurückgekehrt war, so blieb Holly noch immer die Jüngste von uns.

  Der Kellner kam an unseren Tisch und brachte unsere Getränke. Wein. Na endlich.

  Stella hob ihr Glas und blickte uns alle der Reihe nach mit einem warmen Ausdruck in den Augen an. »Auf die Familie.«

  Als wir miteinander anstießen, schien die Diskussion schon vergessen zu sein. Auch Keith gab sich Mühe, keine schlechte Stimmung mehr aufkommen zu lassen und konzentrierte sich stattdessen auf andere Dinge. Auf mich, zum Beispiel. Er sah mir tief in die Augen, als er sein Glas gegen meines stieß, und schon wieder meldete sich dieses Kribbeln in meinem Bauch.

  Ich funkelte ihn an, aber er zuckte nur mit den Mundwinkeln. Allen anderen an diesem Tisch konnte ich vielleicht etwas vormachen, aber nicht ihm. Nicht nachdem er genau wusste, wie sehr ich auf ihn reagierte. Nicht nach diesem Kuss, der mich jeden Tag und jede Stunde in einer Mischung aus Lust und Schuldgefühlen verfolgte. Ich spülte diese Empfindungen mit einem großen Schluck Rotwein hinunter und wandte den Kopf zur Seite, um nach draußen zu sehen. Die Sonne war bereits untergegangen, aber der Himmel war noch immer in sanftem Rosa und Gold verfärbt. Die ersten Lichter glitzerten unter uns. Sobald es ganz dunkel war, würde es mit Sicherheit noch atemberaubender aussehen.

  Ob es der Wein oder dieser Anblick war, spielte letztlich keine Rolle. Meine flatternden Nerven beruhigten sich und meine Muskeln begannen sich zu entspannen.

  Holly und ich teilten uns die Vorspeise und der Salat war so lecker, dass ich mich am liebsten hineingelegt hätte. Um die letzten Bissen stritten wir uns regelrecht, was Stella und auch Keith amüsierte. Anschließend kam der Hauptgang und die Gespräche am Tisch verstummten bis auf gelegentliche genießende Laute, eifriges Nicken und jede Menge lobende Worte.

  Besonders Keith schien sein medium gebratenes Steak zu genießen, denn er stöhnte bereits zum zweiten Mal leise neben mir auf. Wie schon beim ersten Mal stockte mir der Atem und ich musste nach meinem Weinglas greifen, um die plötzliche Trockenheit in meiner Kehle fortzuspülen.

  Je länger wir schweigend aßen, umso deutlicher wurde ich mir Keiths Gegenwart bewusst. Es war einfacher gewesen, ihn auszublenden, als ich mir mit Holly den Salat geteilt hatte oder während wir uns alle noch unterhielten. Doch jetzt schienen sich all meine Sinne auf ihn zu fokussieren. Aus dem Augenwinkel nahm ich jede seiner Bewegungen wahr und meinte sie sogar zu spüren, wenn sein Knie meinem gefährlich nahe kam. So nahe, dass ich die Wärme fühlen konnte, die von seinem Körper ausging.

  Ich versuchte mich auf mein Essen zu konzentrieren, indem ich das Fleisch in fein säuberliche Stücke schnitt und mein Gemüse gewissenhaft mit der Gabel aufspießte. Als ich wieder aufsah, musste ich feststellen, dass Holly und Stella beinahe fertig waren.

  »Wenn du uns immer zum Essen einlädst, begleite ich dich in Zukunft auf jede Veranstaltung, zu der du gehen willst«, nuschelte Holly gerade mit kugelrunden Backen, schluckte hinunter und strahlte Stella an. Nicht einmal die mahnenden Worte unserer Stiefmutter, nicht mit vollem Mund zu sprechen, konnten ihre Begeisterung dimmen.

  Als mein Teller leer war, lehnte ich mich pappsatt zurück und faltete die Hände auf meinem Bauch. Wenn das so weiterging, würde ich in diesem Sommer mindestens zehn Kilo zunehmen. Morgen musste ich unbedingt mal wieder Joggen und vielleicht auch einen Gang runterschalten, was das Essen anging. Doch als Stella uns nach dem Dessert fragte, war ich die Erste, die Ja sagte. Nachtisch zählte nicht. Das waren keine Kalorien, sondern Nahrung für die Seele, genau wie Schokolade. Und für die Nerven … Ich hatte immer mehr das Gefühl, dass ich dringend etwas zur Beruhigung meiner angespannten Nerven brauchte. Denn je später es wurde, desto mehr wuchs meine Unruhe. Keith berührte mich nicht und sagte auch nichts, was mich an den Kuss erinnerte – aber das musste er auch gar nicht. Ein einziger Blick in seine Richtung genügte, um mich zu jenem Moment zurück zu katapultieren. Ein Zucken seiner Mundwinkel und ich wusste wieder, wie sich seine Lippen auf meinen anfühlten. Wie er schmeckte … Wie er mich an sich drückte …

  Ich räusperte mich und setzte mich auf, doch auch das ließ die Hitze in meinem Bauch nicht verschwinden. Der Wein half sogar noch weniger, denn damit schüttete ich nur Benzin ins Feuer. Trotzdem streckte ich erneut die Hand danach aus – genau in dem Moment, in dem auch Keith nach seinem Glas griff. Seine Finger streiften meine und als ich ihm das Gesicht zuwandte, sah ich ihm geradewegs in die Augen.

  Sekunden verstrichen, in denen keiner von uns sich bewegte oder ein Wort sagte. Und mit jeder dieser Sekunden beschleunigte sich meine Atmung ein kleines bisschen mehr.

  Vielleicht hätte der Rest unserer Familie etwas bemerkt, wenn der Kellner nicht auf einmal mit dem Dessert aufgetaucht wäre und den Bann damit brach. Holly und Keith hatten sich für eine Crème brûlée mit knuspriger Karamellkruste entschieden, während der Kellner einen Schokokuchen mit flüssigem Kern und einer Kugel Vanilleeis vor mir abstellte. Ich war ganz offiziell im Himmel. Allein der erste Bissen entlockte mir ein genießendes Stöhnen, dabei hatte ich den flüssigen Schokoladenkern noch nicht mal erreicht.

  Neben mir begann Keith auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen. Doch wann immer ich zu ihm hinübersah, schien er vollauf damit beschäftigt, seine Crème brûlée zu essen. Ich biss mir auf die Unterlippe, um mein Lächeln zu unterdrücken. Ha! Wenigstens litt er genauso wie ich, auch wenn das nur ein schwacher Trost war.

  Mein Blick fiel auf seine Hände, als er anfing, mit den Fingern seiner linken Hand auf der weißen Tischdecke herumzutrommeln. Lange Finger, mit denen er abends an seinem Pick-up herumschraubte und tagsüber irgendwo in der Stadt einem Job nachging. Vielleicht auf dem Bau, aber so genau wusste ich das nicht. Doch schon die Vorstellung davon, wie er mit diesen rauen Händen über meine Haut fuhr, genügte, um mich meinen Schokoladenkuchen völlig vergessen zu lassen.

  »Hey, Schwesterherz.« Holly schnippte vor meinem Gesicht herum, bis ich den Kopf hob. »Du sieht etwas mitgenommen aus. Wenn dir der Kuchen nicht schmeckt, kann ich …«

  »Vergiss es«, fauchte ich. Dieses verfressene kleine Biest. Ich zog meinen Teller näher zu mir heran.

  »Holly hat recht«, wandte sich jetzt auch Stella an mich. Ihre braunen Augen musterten mich sorgenvoll. »Geht’s dir gut? Du bist ganz rot. Nicht, dass du dir etwas eingefangen hast und jetzt Fieber bekommst.«

  Ein erstickter Laut drang an mein Ohr, und ich sah zu Keith hinüber. Er hatte sich mit dem Ellbogen auf den Tisch aufgestützt und räusperte sich ausgiebig, als hätte er sich verschluckt. Doch seine Augen funkelten vor unterdrücktem Lachen. Verflucht. Vermutlich konnte er sich ganz genau denken, wohin meine Gedanken gewandert waren.

  Ich biss die Zähne zusammen und wandte mich den anderen zu. »Das liegt nur am Wein«, brachte ich hervor, weil das die einzig sinnvolle Erklärung zu sein schien, warum ich mit hochrotem Kopf hier saß. Apropos Wein. Ich griff nach dem Glas und trank einen großen Schluck.

  Stellas Mundwinkel zuckten, aber die Sorge war noch nicht aus ihrem Gesicht verschwunden. Seit meiner Geburtstagsfeier hatte ich das Gefühl, dass sie mich eine Spur aufmerksamer betrachtete. Als würde sie jeden Moment damit rechnen, dass ich erneut in einen Schockzustand verfiel.

  »Vielleicht solltest du in dem Fall besser Wasser trinken«, schlug sie vor.

  »Oder wir gehen einfach«, warf ich ein.

  Einen Moment lang schien Stella zu zögern und ich schickte ein Stoßgebet gen Himmel, obwohl ich nicht mal selbst wusste, was ich noch wollte. Weiter hier neben Keith sitzen, während meine Hormone Achterbahn fuhren? Oder zurück nach Hause und m
ich in die Sicherheit meines Zimmers flüchten? Allein die Tatsache, dass ich es nicht wusste, sandte mein Stoßgebet vermutlich eher in die Hölle statt in den Himmel.

  »In Ordnung«, stimmte Stella zu und ich atmete erleichtert auf, als sie sich nach dem Kellner umsah.

  Doch der Atem blieb mir im Hals stecken, als Keith sich zurücklehnte und sein Knie dabei meines streifte. Es war wie ein verrücktes Déjà-vu von jenem Morgen am Frühstückstisch. Und genau wie damals war ich nicht dazu in der Lage, von ihm abzurücken. Stattdessen packte ich meine Gabel so fest, dass meine Fingerknöchel weiß hervortraten. Unter Aufbietung all meiner Willenskraft schaffte ich es irgendwie, meinen Schokoladenkuchen aufzuessen und Holly und Stella sogar ein Lächeln zuzuwerfen, als wir uns zum Gehen bereitmachten.

  Ich war so aufgewühlt, dass ich nicht mal protestierte, als Holly vorne sitzen wollte, was mich neben Keith auf den Rücksitz verbannte. Großartig.

  Doch obwohl er im Schutz der Dunkelheit die Gelegenheit dazu hatte, mich zu berühren oder etwas zu sagen, das nur ich hören konnte, tat er es nicht. Die ganze Fahrt über rechnete ich damit, doch meine Erwartung erfüllte sich nicht. Das Schlimmste daran? Ich wusste nicht, ob ich erleichtert oder frustriert darüber sein sollte. Genau genommen wusste ich überhaupt nicht mehr, was ich fühlen sollte.

  Mal verhielt er sich wie ein Arsch, neckte mich und brachte mich mit seinen Berührungen um den Verstand, dann schien er wieder beinahe gleichgültig zu sein. Und dann gab es noch jene seltenen Momente, in denen ich meinte, den wahren Keith zu erkennen. Den Jungen, der er früher einmal gewesen war. Wenn er mich in seine Arme zog und mich weinen ließ oder neben mir auf dem Verandadach lag, ohne ein Wort zu sagen. Es waren diese ruhigen, fast schon innigen Momente, die mir am meisten Angst einjagten und die ich um jeden Preis vermeiden musste.

  Wieder mal erwachte ich ruckartig und mit klopfendem Herzen und starrte sekundenlang orientierungslos in die Dunkelheit meines Zimmers. Meine Haut brannte und mein Atem ging so schnell, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Aber es waren keine Albträume und auch keine verschütteten Erinnerungen, die meinen Puls in die Höhe schnellen ließen. Das Gegenteil war der Fall und dafür schämte ich mich nur noch mehr. Denn ich hatte von Keith geträumt. Nicht von dem Jungen, den ich früher gekannt hatte, sondern von dem Mann, zu dem er inzwischen geworden war. Von seinen rauen Händen, seinem angedeuteten Lächeln und anderen Dingen, die er mit seinen Lippen tun konnte.

  Ein Stöhnen entwich mir, teils vor Scham erstickt, teils so verlangend, dass es mir selbst Angst einjagte. Ich setzte mich auf und rieb mit beiden Händen über mein erhitztes Gesicht. Ironischerweise kamen mir die Dinge, die mir für gewöhnlich den Schlaf raubten, auf einmal deutlich weniger schlimm vor. Aber wenn man Träume hatte, in denen der eigene Stiefbruder eine alles andere als geschwisterliche Rolle spielte, waren die üblichen Albträume plötzlich sehr viel willkommener.

  Mein Hals brannte, als hätte ich die letzten Stunden damit verbracht, so laut zu stöhnen wie in meinem Traum. Oh Gott, ich konnte nur beten, dass das nicht der Fall war. Holly würde mich mit ziemlicher Sicherheit nicht hören, aber Keiths Zimmer lag nur ein Stockwerk unter mir und er musste mich schon einmal gehört haben, schließlich war er in der Nacht nach meinem Geburtstag hochgekommen, nachdem Parker mich aus meinem Albtraum geweckt hatte.

  Frustriert strampelte ich die Decke weg und ließ mich zurück in die Kissen fallen, doch nicht einmal das brachte mir die erhoffte Abkühlung, ganz zu schweigen davon, dass es meine Gedanken in eine andere Richtung lenkte. Jeder Muskel in meinem Körper war noch immer angespannt und drängte nach Erlösung. Wieder flammten die Bilder meines Traums vor meinen Augen auf und ich sprang aus dem Bett, als hätte ich mich an ihnen verbrannt. Himmel, ich brauchte dringend eine Abkühlung. Oder Sex. Vorzugsweise mit jemandem, der nicht mein Stiefbruder war.

  Ich fuhr mir durch das Haar und durchquerte mein Zimmer. Meine Schritte waren lautlos auf dem Holzfußboden, nur meine Tür quietschte wieder mal. In der Stille der Nacht klang das Geräusch so laut, das ich sicher war, es würde das ganze Haus aufwecken. Doch als ich mit angehaltenem Atem in die Dunkelheit lauschte, hörte ich nichts Auffälliges. Irgendwo tickte eine Uhr und von draußen drang das Zirpen der Grillen herein. Ansonsten war es ruhig. Ich quetschte mich durch den Türspalt und nahm die Treppe nach unten. Dabei wechselte ich wie eine Betrunkene von links nach rechts, um die Stellen in den Stufen zu vermeiden, von denen ich wusste, dass sie knarzten.

  Die Luft im Haus war stickig. Am liebsten hätte ich alle Fenster geöffnet, um frische Luft hereinzulassen, aber das hätte nur das Gegenteil bewirkt. Zu dieser Jahreszeit war es selbst mitten in der Nacht noch immer schrecklich schwülwarm draußen. Eine Dusche wäre meine nächste Wahl gewesen, wenn ich nicht genau gewusst hätte, dass Stella mich hören würde. Und ein Gespräch mit ihr darüber zu führen, warum ich um vier Uhr morgens eine kalte Dusche brauchte, stand nicht gerade auf meiner Liste der Dinge, die ich in diesem Leben unbedingt noch erleben wollte.

  Im Erdgeschoss war es genauso dunkel wie im Rest des Hauses. Ich machte mir nicht die Mühe, das Licht einzuschalten, da ich meinen Weg auch so kannte und außerdem niemanden wecken wollte. Lautlos schlich ich in die Küche und dort direkt auf den Kühlschrank zu.

  »Kannst du nicht schlafen?«

  Ich zuckte so heftig zusammen, dass ich über meine eigenen Füße stolperte und gegen den Kühlschrank stieß. Ein kurzer Schmerz schoss durch meine Schulter, dann übernahm das panische Hämmern in meiner Brust das Ruder. Ich drehte mich um und entdeckte den Besitzer der Stimme nur wenige Schritte von mir entfernt: Keith. Er saß am Küchentisch, ein Glas in den Händen, die Beine auf einen Stuhl gelegt. Obwohl ich sein Gesicht in der Dunkelheit kaum ausmachen konnte, spürte ich seinen forschenden Blick auf mir.

  »Willst du mich umbringen?«, zischte ich. Hatte ich zuvor schon nicht mehr schlafen können, war ich jetzt hellwach.

  Sein tiefes Glucksen drang an mein Ohr und schickte ein Prickeln über meine Haut. Unweigerlich wurde ich an meine Träume erinnert, die nicht mal ansatzweise mit der Realität mithalten konnten. Dafür wusste ich zu genau, wie sich seine von der Arbeit rauen Finger auf meiner Haut anfühlten. Welches Gefühlschaos sein Mund in mir wecken konnte, wenn er mich berührte … an meiner Schulter, auf meinem Hals, meinen Lippen.

  Ich atmete tief durch und wandte mich abrupt ab. Wenn ich noch eine Sekunde länger hier stehen blieb, konnte ich für nichts mehr garantieren. Mit zitternder Hand öffnete ich den Kühlschrank und war dankbar für die kalte Luft, die sich wie ein Balsam auf mein erhitztes Gesicht legte. Vielleicht inspizierte ich den Inhalt etwas zu lange, bevor ich nach der Wasserflasche griff und sie herauszog, aber ich brauchte die Abkühlung ebenso sehr wie die Ablenkung. Obwohl ich meine Gedanken mit allem Möglichen zu beschäftigen versuchte, kehrten sie immer wieder zu einer Tatsache zurück: Keith war hier. Allein mit mir in der Küche. Und egal wie sehr ich mich dagegen wehrte, all meine Sinne konzentrierten sich auf ihn.

  Irgendwie schaffte ich es, mir ein Glas Wasser einzugießen, ohne etwas zu verschütten und die halbe Küche zu überfluten, aber das Trinken erwies sich als deutlich schwieriger. Denn kaum, dass ich die Flasche wieder zuschraubte, spürte ich eine viel zu vertraute Wärme hinter mir. Unwillkürlich hielt ich den Atem an, während mein Puls in derselben Geschwindigkeit weiterhämmerte wie wenige Augenblicke zuvor, als ich die Küche betreten und Keith hier entdeckt hatte.

  »Was tust du da?« Die Worte sollten stark und abweisend klingen, aber sie kamen mir nur als Flüstern über die Lippen.

  »Ich weiß es nicht«, antwortete er genauso leise und stützte sich mit den Händen rechts und links neben mir auf der Küchentheke ab. Er berührte mich nicht, dennoch hatte ich das Gefühl, ihn überall spüren zu können. Die Hitze, die von ihm ausging. Sein Geruch, der mir inzwischen schmerzhaft vertraut geworden war. Sein Atem, der mich im Nacken kitzelte. Als wären seine Nähe während des Abendessens und meine verdammten Träume nicht genug, liefen meine Sinne auch jetzt auf Hochtouren.

  »Dann
hör auf damit …«, brachte ich hervor und klammerte mich an mein Wasserglas, als wäre es das Einzige, was mich noch bei Verstand hielt.

  »Sag es«, raunte Keith an meinem Nacken. Seine Stimme klang so kehlig, dass ich von Kopf bis Fuß erschauerte. »Sag mir, dass ich mich von dir fernhalten soll.«

  Wieder überließ er mir die Entscheidung – und es fiel mir genauso schwer wie beim ersten Mal, als er mich dazu aufgefordert hatte. Wie sollte ich das Vernünftige tun, wenn er mir so nahe war, dass mir sein Duft in die Nase drang? Diese Mischung aus Aftershave und warmem Holz vernebelte mir nicht zum ersten Mal die Sinne.

  Die Muskeln in meinem Rücken versteiften sich, als ich seinen Oberkörper hinter mir fühlte. Es fehlten nur ein paar Zentimeter, vielleicht auch nur noch Millimeter, bis er sich mit der ganzen Länge seines Körpers an meinen presste. Ich sollte ihn davon abhalten, sollte mich umdrehen, ihn wegstoßen und ihm endlich das sagen, was er die ganze Zeit von mir hören wollte. Hatte ich mir nicht erst vor wenigen Stunden vorgenommen, es nicht mehr zu einer Situation wie dieser kommen zu lassen? So fest mein Entschluss gewesen war, so sehr schwankte er jetzt.

  Nacheinander löste ich meine Finger von dem Glas und schob es beiseite, dann drehte ich mich zu Keith um. Bei der Bewegung streifte ich ihn mit Schulter und Hüfte und vergaß kurzzeitig, wie man atmete. Er trug ein weißes Shirt, das sich an seinen Oberkörper schmiegte und jeden einzelnen festen Muskel betonte; dazu eine dunkelblaue Shorts. Ich klammerte mich an die Kante der Arbeitsplatte hinter mir. Obwohl ich wusste, dass es ein monumentaler Fehler war, legte ich den Kopf in den Nacken und sah Keith in die Augen. Sie waren so dunkel wie die Finsternis, die uns umgab. Sein Haar wirkte zerzaust, so als hätte er sich genau wie ich im Bett herumgewälzt oder wäre sich mit den Fingern mehrmals hindurchgefahren. Der heutige Abend schien ihn genauso wenig kaltgelassen zu haben wie mich.

 

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