Mit zwei Schritten war Keith bei mir. Bevor ich mich versah, drehte er mich um und drückte mich gegen die Wand neben der Tür. Hitze breitete sich in meinen Adern aus, als hätte mein Körper nur darauf gewartet, dass ich meinen Verstand endlich ausschaltete. Denn auch wenn ich Keith und der ganzen Welt weismachen konnte, diese eine Nacht wäre genug gewesen – mich selbst konnte ich nicht belügen. Nicht mehr. Ich wollte diesen Mann mit jeder selbstzerstörerischen Faser meines Seins, auch wenn ich wusste, wie absolut falsch das war.
Statt sofort über mich herzufallen, wie ich es erwartete, zeichnete Keith mit seinem Daumen die Konturen meines Gesichts nach, und betrachtete mich dabei so aufmerksam, als würde er mich zum ersten Mal sehen. Ich öffnete den Mund, um ihn zu fragen, was los war, warum er mich so ansah, doch dann trafen sich unsere Blicke. Mein Herzschlag setzte aus, nur um gleich darauf in einem harten, beinahe schmerzhaft schnellen Tempo weiter zu hämmern. Jedes Wort erstarb auf meiner Zunge, bevor es mir über die Lippen kommen konnte.
»Wegen unseres Deals …«, begann er zögernd.
»Scheiß auf den Deal.« Ich packte ihn an seinem T-Shirt und zog ihn zu mir heran.
Er lächelte, dann presste er seinen Mund auf meinen. Alles, was ich tun konnte, war, die Augen zu schließen und den Kuss zu erwidern. Es gab Millionen Gründe, die dagegensprachen, gegen diese Anziehungskraft zwischen uns, gegen das, was wir hier taten, aber nichts davon zählte in diesem Moment. Hier und jetzt gab es nur noch Keith und mich, seine Lippen auf meinen, seinen Körper, der sich gegen meinen presste und die Hitze zwischen uns.
Ich schlang die Arme um seinen Hals und er hob mich hoch, dann kollidierte mein Rücken erneut mit der Wand. Fester, drängender als zuvor. Als hätten wir das hier schon unzählige Male zuvor getan, schlang ich die Beine um seine Hüften und ließ mich gehen. Ich gab mich dem brennenden Kribbeln hin, das bis in meinen Bauch schoss, als Keith an meiner Unterlippe knabberte, und schnappte keuchend nach Luft, sobald er seinen Mund auf meinen Hals senkte. Heute Morgen hatte ich den Knutschfleck mit meinem Rollkragentop verdeckt. Umsonst, denn Keith bearbeitete bereits eine andere Stelle, saugte und leckte daran und ließ mich aufstöhnen.
Die Geräusche, die ich nicht länger zurückhalten konnte, spornten uns beide an. Ich vergrub die Finger in seinem Haar und zog daran, weil ich seinen Mund unbedingt wieder auf meinem spüren musste. Er gab meinem Drängen nach und erstickte mein Stöhnen mit einem weiteren Kuss. Ich hatte bereits den Kontakt zum Boden verloren und jetzt verlor ich ihn auch zu allem anderen. Ich vergaß, wo wir waren und was zu diesem Moment geführt hatte.
Ein Luftzug streifte mein Gesicht, aber das war nicht genug, um mich wieder ins Hier und Jetzt zurückzubefördern. Das grelle Licht und die schrille Stimme dagegen schon.
»Oh mein Gott.«
Keith erstarrte und hob den Kopf. Ein, zwei Sekunden lang sahen wir uns in die Augen, während sich Fassungslosigkeit in seiner Miene widerspiegelte, dann blickte ich zur Seite. In der Tür stand niemand Geringeres als Holly. Ihre Augen waren vor Entsetzen geweitet und ihr Mund stand offen. Bevor ich richtig begriffen hatte, was gerade geschah, machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand.
»Holly!« Irgendwie landete ich wieder auf meinen eigenen Füßen. »Warte!«
16
Ich hatte mich immer für einen bodenständigen Menschen gehalten, der nur selten in Panik ausbrach. Doch in diesem Moment beherrschte sie mein ganzes Denken. Ich verließ das Badezimmer und lief Holly nach, aber es fühlte sich so an, als wären meine Beine mit Watte gefüllt. Als hätte mein Gehirn einige seiner Funktionen ausgeschaltet und mich in einen unwirklichen Zwischenzustand versetzt. Ich nahm jeden schmerzhaften Herzschlag überdeutlich wahr, brachte aber keinen klaren Gedanken zustande. Das Einzige, was ich wusste, war, dass ich mit meiner kleinen Schwester reden musste. Sie musste es verstehen. Aber vor allem durfte sie niemandem etwas davon erzählen.
Ich folgte ihr zu ihrem Zimmer, doch bevor ich eintreten konnte, hatte sie mir die Tür vor der Nase zugeknallt. Meine Hand zitterte, als ich anklopfte. Einmal. Zweimal. Dreimal.
»Verzieh dich!«, kam es von der anderen Seite.
Ich presste die Lippen aufeinander, fest entschlossen, den Schmerz nicht zuzulassen, den dieser brüsk hervorgebrachte Befehl in mir auslöste. Holly und ich hatten uns noch nie wirklich gestritten. Ja, wir diskutierten gerne mal und ärgerten einander bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Aber ein echter Streit? Niemals.
»Holly …« Ich atmete tief durch und versuchte, meiner Stimme mehr Kraft zu verleihen, als ich im Moment empfand. Hinter mir hörte ich Schritte, aber ich ignorierte sie. Ich konnte mich jetzt nicht mit Keith und meiner Schwester auseinandersetzen. »Bitte lass mich rein.«
Dass ich keine Antwort darauf bekam, wertete ich als positives Zeichen. Ich warf einen Blick über die Schulter zurück – und tatsächlich: Keith stand auf der anderen Seite des Flurs, die Hände in den Taschen seiner Jeans. Seine Miene war unlesbar, aber da war etwas in seinen Augen, das ich nicht begriff. Etwas Drängendes, fast schon Bittendes.
Ich wandte mich ab und öffnete die Tür einen Spalt weit. Mehr traute ich mich nicht – als könnte Hollys Wut mich quer durch das Haus schleudern wie in diesen Superheldenfilmen, von denen meine beiden besten Freunde dauernd redeten. Als nichts geschah, schob ich mich durch den Spalt und zog die Tür wieder hinter mir zu.
Links von mir raschelte es im Käfig und Hamtaro schob das Näschen durch das Gitter, als würde er meinen Geruch wittern. Holly saß auf ihrem Bett und sah mich nicht an. Im Halbdunkel, das nur durch ihre Nachttischlampe erhellt wurde, warfen wir beide verzerrte Schatten an die hellblauen Wände. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie Holly als Vierzehnjährige auf diese Farbe bestanden und sich gegen Stella durchgesetzt hatte, die lieber einen warmen Farbton für sie genommen hätte. Aber wenn Holly sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, zog sie es auch durch. Wir hatten die Musik laut aufgedreht und zusammen die Wände gestrichen. Jetzt schien dieser Moment schwesterlicher Zweisamkeit so unfassbar weit weg zu sein, und es schnürte mir die Kehle zu.
»Was du da eben gesehen hast …« Ich räusperte mich, weil meine Stimme so krächzend klang und ich nach den richtigen Worten suchte, um ihr zu erklären, in was sie da reingeplatzt war. Aber wie sollte ich ihr etwas verständlich machen, das ich selbst kaum begriff?
»Echt jetzt?« Sie riss den Kopf hoch und funkelte mich an. »Willst du mir etwa weismachen, dass es nicht das war, wonach es aussah? Hat Keith in deinem Hals nach seinem verloren gegangenen Kaugummi gesucht, oder was?«
Ich schloss die Augen bei ihrer Wortwahl. »So war das nicht …«
»Was dann? Mund-zu-Mund-Beatmung an der Wand, weil du einen Schwächeanfall hattest?«
Gott, dieses Mädchen machte es einem wirklich nicht leicht.
»Du weißt genau, was du gesehen hast, und ich will dir auch nichts anderes vormachen«, sagte ich schließlich.
Das schien einen Nerv bei ihr getroffen zu haben. In der einen Sekunde saß sie noch wie ein geknicktes kleines Mädchen auf ihrem Bett, in der nächsten war sie auf den Beinen und deutete anklagend auf mich.
»Allerdings. Wie kannst du nur? Er ist unser Bruder!«
»Stiefbruder«, verbesserte ich sie um Ruhe bemüht. »Wir sind nicht miteinander verwandt.«
»Und wenn schon! Er ist trotzdem unser Bruder. Außerdem hasst du ihn! Wie … wie kannst du nur?« Ihr Gesicht verzog sich, als hätte sie etwas Schlechtes gegessen. »Oh Gott, schlaft ihr etwa miteinander? Das ist widerlich!«
Ich zuckte zusammen. War es wirklich so abwegig für sie, dass Keith und ich mehr füreinander sein könnten als Stiefgeschwister? Uns hatte von Anfang an mehr verbunden. Erst war es nur unsere gegenseitige Abneigung und unser Protest gegen die Beziehung von Dad und Stella gewesen, dann hatte sich meine Antipathie in jugendliche Schwärmerei verwandelt. Und auch Keith schien ab irgendeinem Zeitpunkt mehr in mir gesehen zu haben als eine nervige kleine Stiefschwester. Bis der Unfall geschah … Ich schüttelte den Kopf. Es gab so viel
e Ereignisse, so viele verschiedene Emotionen, die uns miteinander verbanden. War es da tatsächlich so unvorstellbar, dass ein weiteres Band hinzugekommen sein könnte?
»Weiß Mom Bescheid?«
Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Meine Fingernägel hatten sich inzwischen so tief in meine Handflächen gegraben, dass ein pochender Schmerz von den Stellen ausging.
»Nein«, erwiderte ich ruhig und suchte den Blick meiner Schwester. »Sie ahnt nichts und es wäre mir sehr lieb, wenn du ihr nichts verraten würdest.«
»Warum nicht? Damit ihr weiter heimlich miteinander rummachen könnt?«
»Bitte, Holly.«
Der Ausdruck grenzenloser Enttäuschung auf ihrem Gesicht zerriss mir schier das Herz. Wie hatte ich auch nur eine Sekunde glauben können, sie würde damit zurechtkommen? Es vielleicht sogar akzeptieren? Die Antwort darauf war simpel: Ich hatte nicht darüber nachgedacht. Ich hatte keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, welche Auswirkungen diese Sache auf andere haben könnte. Dabei wusste ich nicht mal selbst, was diese Sache überhaupt war.
Seufzend lehnte ich mich gegen die Tür und rutschte daran hinunter, bis ich auf dem Teppichboden saß.
»Callie …?«
Ich schüttelte den Kopf, um sie zu beruhigen, um ihr zu versichern, dass mit mir alles in Ordnung war. Anscheinend war ich eine miserable Schauspielerin, denn im nächsten Moment kniete Holly vor mir und legte ihre Hände auf meine Knie. In ihren Augen lag noch immer Unverständnis, aber als sie mich jetzt ansah, konnte ich zumindest keine Abscheu oder Wut mehr darin lesen.
»Ich verstehe es einfach nicht«, beschwor sie mich leise. »Er ist doch unser Bruder und du hasst ihn, weil du ihm die Schuld an Dads Tod gibst.«
Ein großer Teil der Anspannung, die mich seit heute Morgen aufrecht gehalten hatte, war irgendwann während der letzten Minuten aus mir gewichen, sodass ich nicht mal mehr zusammenzucken konnte, als Holly die Dinge so direkt auf den Punkt brachte.
»Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll«, gab ich zu und vergrub meine Finger in meinen Haaren. »Oder fühlen«, fügte ich seufzend hinzu.
Statt einer Antwort oder weiteren Vorwürfen ließ Holly sich neben mir auf den Boden sinken und lehnte sich gegen die Tür. Minutenlang saßen wir schweigend nebeneinander, während Hamtaros nächtliche Aktivitäten und die Musik und Stimmen von draußen die einzige Geräuschkulisse bildeten.
»Es ist okay, ihn nicht zu hassen«, sagte Holly schließlich. »Was damals passiert ist, war ein schrecklicher Unfall, und ich möchte um nichts auf der Welt mit dir tauschen. Aber es ist vorbei. Wir haben damit abgeschlossen und unser Leben weitergelebt.«
Hatten wir das? Sicher, Holly hatte die Highschool beendet und bereitete alles für ihre Weltreise vor, und Stella hatte sich endlich wieder auf eine neue Beziehung eingelassen. Sogar Keith war zurückgekehrt, um in seiner alten Heimat neu anzufangen. Ich schien die Einzige zu sein, die noch immer eisern an der Vergangenheit festhielt. Aber nicht, weil ich sie nicht loslassen wollte – sondern weil ich es nicht konnte. Sie holte mich immer wieder ein und zwang mich in bruchstückhaften Albträumen, diesen schrecklichen Moment wieder und wieder zu erleben.
»Glaubst du wirklich, dass es so war? Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir nicht die ganze Geschichte kennen. Als würde … irgendetwas fehlen?« Zum ersten Mal sprach ich meine Bedenken aus. Alles an der Geschichte passte zusammen. Der Fahrunterricht. Die Tatsache, dass Keith zu schnell gefahren war. Das Reh, das Keith zufolge plötzlich auf der Straße aufgetaucht war. Seine reflexartige Reaktion, mit der er das Lenkrad herumgerissen hatte, wodurch wir von der Fahrbahn abgekommen und den Abhang hinuntergerollt waren. Der Baumstamm, gegen den das Auto geprallt war. Der Rauch. Das Feuer. Meine Schreie. Ich schluckte hart in dem Versuch, die Kontrolle zu behalten. All diese Informationen fügten sich nahtlos zusammen. Sogar meine Albträume passten dazu.
Was nicht dazu passte, war dieses Gefühl in meiner Brust. Irgendetwas stimmte nicht. Irgendwo war ein Fehler, etwas, das ich übersah oder an das ich mich noch immer nicht erinnern konnte.
»Gott, kannst du die Vergangenheit nicht endlich ruhen lassen?« Holly stöhnte frustriert und streckte die Beine aus. »Warum fällt es dir so leicht, mit ihm zu vögeln, aber gleichzeitig kannst du nicht von der Vergangenheit ablassen?«
Ich gab einen undefinierbaren Laut von mir, teils ungläubiges Lachen, teils tiefes Seufzen. Weil sie recht hatte. Es ergab keinen Sinn und ich verstand, warum sie es nicht begreifen konnte. Das konnte ich ja nicht mal selbst. Ich wusste nicht, was das zwischen Keith und mir war. Das Einzige, was ich wusste, war, dass eine Nacht nicht ausgereicht hatte, um diese Anziehung zwischen uns aus der Welt zu schaffen, und ich war ehrlich genug, um zuzugeben, dass ich mehr wollte. Viel mehr. Aber wohin sollte das führen?
Ich wusste keine Antwort darauf. Im Moment schwirrten mehr Fragen durch meinen Kopf als während der Klausur in Biochemie. Ich wusste nur, dass ich meinen eigenen Rat befolgen und mit jemandem darüber reden musste. Über alles. Über die Sache mit Keith und über die Vergangenheit.
Vorsichtig stieß ich Hollys Schulter mit meiner an. »Alles wieder gut zwischen uns?«
Sie spannte mich absichtlich auf die Folter, indem sie sich Zeit mit der Antwort ließ. »Ja«, sagte sie schließlich, begleitet von einem Seufzen. »Du stehst ja auch auf Jess, also kann ich von dir keine vernünftige Einstellung erwarten, was Männer angeht.«
Ich lachte laut auf und umarmte sie. Diesmal zögerte sie nicht. Holly schlang die Arme um mich und lehnte ihren Kopf an meine Schulter.
»Aber es wird eine Weile dauern, bis ich dieses Bild von euch beiden aus dem Kopf bekomme«, murmelte sie.
»Lass mich raten: Ein paar Tafeln Schokolade könnten dir dabei helfen.«
Ein zufriedenes Lächeln schwang in ihren nächsten Worten mit. »Das und wenn Keith mir neue Reifen kauft und die Klimaanlage in meinem Wagen repariert.«
Ich gab mir keine Mühe, mein Grinsen zu verbergen. Holly wollte tatsächlich, dass wir uns ihr Schweigen erkauften. Warum überraschte mich das kein bisschen?
»Einverstanden.«
Ich blieb noch ein paar Minuten so neben ihr sitzen, bevor ich ihr Zimmer wieder verließ. Keith stand noch immer im Flur, genau dort, wo ich ihn zurückgelassen hatte.
»Alles in Ordnung?«, fragte er leise.
»Mit ihr?« Ich deutete in Richtung von Hollys Zimmer. »Ja. Stell dich auf jede Menge Gefälligkeiten ein, die sie einfordern wird, aber sie wird niemandem etwas verraten.«
»Gut.« Keith atmete tief durch. Anscheinend war ich nicht die Einzige, die sich Sorgen gemacht hatte.
»Sie hasst dich nicht. Keinen von uns«, sagte ich eine Spur leiser, da ich das Gefühl hatte, uns beide beruhigen zu müssen, indem ich die Worte laut aussprach.
»Was ist mit dir?« Keith hielt meinen Blick fest. »Hasst du mich noch?«
Ich blieb ihm eine Antwort schuldig. Nicht nur, dass diese Frage alles andere als einfach zu beantworten war, auch Stellas Auftauchen, die wissen wollte, wohin all ihre Kinder so plötzlich verschwunden waren, hatte jedes weitere Gespräch unter vier Augen unmöglich gemacht. Mit mütterlicher Strenge hatte sie uns zurück in den Garten gescheucht, wo wir bis spät in die Nacht geblieben waren. Selbst jetzt, als ich in meinem Bett lag und an die Decke starrte, meinte ich, noch vereinzelte Stimmen und leise Musik von draußen zu hören.
Meine Beine schmerzten vor Müdigkeit, trotzdem wollte sich der Schlaf nicht einstellen. Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, überfluteten mich die Erinnerungen an die vergangene Nacht und ich sah Keith wieder vor mir, als er mir diese simple und doch so schwierige Frage stellte.
Hasst du mich noch?
Vor diesem Sommer und auch kurz nach meiner Ankunft hätte ich keine Sekunde gezögert und mit Ja geantwortet. Ja, ich hatte ihn gehasst. Ja, ich hatte ihn meine Abneigung Tag für Tag spüren lassen und ihm ins Gesicht gesagt, dass ich ihm nie verzeihen würde, was damals passiert war.
Und jetzt? Hatte ich ihm verziehen
?
Die Antwort darauf kam so schnell, dass ich beinahe zusammenzuckte, denn es war keine schöne.
Nein, ich hatte Keith nicht verziehen. Ich wusste nicht einmal, ob ich dazu in der Lage war, ihm jemals zu verzeihen. Seinetwegen hatte ich meinen Vater verloren. Meine Familie. Und ihn, denn er war einfach gegangen, als würde ihm all das nichts bedeuten. Als würde ich ihm nichts bedeuten.
Ein lautes Vibrieren ließ mich hochschrecken. Hastig wischte ich mir über die Augen und tastete nach meinem Handy auf dem Nachttisch. Es war fast vier Uhr morgens. Wer schrieb mir um diese Zeit? Als ich die Textnachricht auf dem Display las, wusste ich es, noch bevor ich auf den Absender geschaut hatte.
Sie war von Keith.
Hast du später ein paar Stunden Zeit?
Ich starrte die Nachricht so lange an, bis das Display dunkel wurde, und dann noch einmal genauso lange. Aber es war nicht diese Frage, die sich wie ein Stein auf meine Brust legte und jeden Atemzug in einen Kraftakt verwandelte, sondern eine andere. Denn jetzt hatte ich meine Antwort.
Hasst du mich noch?
Nein. Ich wusste nicht, wann und wie es dazu gekommen war, aber irgendwann während der letzten Wochen hatte sich mein Hass auf ihn Stück für Stück aufgelöst. Ich klammerte mich nicht länger daran wie an ein Seil, das mich niemals retten würde, sondern hatte losgelassen. Ich mochte Keith nicht verziehen haben, aber ich hasste ihn nicht mehr. Denn ich war nicht mehr das Mädchen, das am Anfang des Sommers hier angekommen war. Im Gegensatz zu früher war ich nun in der Lage, damals von heute zu unterscheiden. Ich konnte zwischen dem Jungen unterscheiden, der einen Fehler gemacht hatte, und dem Mann, der nach Hause zurückgekehrt war.
Mit einer Wischbewegung entsperrte ich den Bildschirm und tippte eine Antwort auf Keiths Nachricht.
Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us Page 28