Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us

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Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us Page 31

by Iosivoni, Bianca


  Statt irgendetwas zu sagen, das sowieso nur eine bedeutungslose Floskel gewesen wäre, lehnte ich mich über ihn und hauchte einen kleinen Kuss auf seine Narbe. Dann noch einen. Und noch einen. Zentimeter für Zentimeter wanderte ich nach oben, bis ich alles mit meinen Lippen bedeckt und die alten Erinnerungen hoffentlich durch neue ersetzt hatte.

  Als ich mich wieder aufrichtete, schob Keith seine Finger in mein Haar und betrachtete mich einen Moment lang still. Er sagte kein Wort, aber in seinem Blick lag so viel Wärme, dass ich zunächst nicht wusste, wohin damit. Erst als er mich an sich zog und seinen Mund auf die kleine Narbe über meiner Augenbraue setzte, wusste ich es. Ich schloss die Augen, ließ mich fallen und ganz auf das ein, was sich da zwischen uns entwickelte.

  18

  Ich lachte laut auf, als Keith mich von hinten packte und einen Kuss in meinen Nacken drückte. Ich war noch nicht mal richtig wach und stand vor seinem Kühlschrank, um nach der Milch für meinen Kaffee zu suchen. Wie spät war es? Welchen Tag hatten wir? Allesamt gute Fragen, auf die ich keine Antwort hatte. Die letzte Woche war wie ein einziger Rausch gewesen, die einzelnen Tage nur so verflogen, bis ich selbst nicht mehr wusste, wie mir geschah.

  Der Verantwortliche dafür?

  Keith.

  Als hätte er meine Gedanken gelesen, fasste er an mir vorbei in den Kühlschrank und zog eine Flasche Milch heraus, in der gerade noch genug Inhalt war, um meinen Kaffee trinkbar zu machen.

  »Danke«, wisperte ich mit vom Schlafen – und Stöhnen – heiserer Stimme. »Aber wenn du willst, dass wir beide einen Kaffee kriegen, musst du mich jetzt loslassen.«

  Keiths Körper bebte vor unterdrücktem Lachen. Er setzte einen letzten Kuss auf meinen Nacken, dann trat er einen Schritt zurück. Sofort fehlte mir die Wärme in meinem Rücken und ich schüttelte in Gedanken über mich selbst den Kopf. Wie konnte ich so schnell etwas vermissen, ohne das ich zuvor jahrelang gelebt hatte? Jetzt hielt ich es kaum einen Tag ohne ihn aus. Irgendwann letzte Woche hatte ich Keith von morgens bis abends weder gesehen noch gesprochen und mich vor dem Schlafengehen fast schon mit Gewalt davon abhalten müssen, ihm zu texten. Und dann war ich mitten in der Nacht von meinem eigenen Stöhnen aufgewacht – oder besser gesagt von Keiths Kopf zwischen meinen Schenkeln. Er hatte sich tatsächlich in mein Zimmer geschlichen und beschlossen, mich auf diese Weise zu wecken. Vor Sonnenaufgang war er wieder verschwunden und ich betete bis heute darum, dass uns niemand gehört hatte.

  »Ich bin am Verhungern.« Ausnahmsweise schwang keine Zweideutigkeit in Keiths Aussage mit, was auch daran liegen könnte, dass er währenddessen halb im Kühlschrank verschwand.

  »Selbst schuld, wenn du beim Familienessen fehlst«, gab ich ungerührt zurück und schüttete die Milch in meine Tasse. »Es gab Hollys berühmtes Mac and Cheese.« Und Stella hatte wissen wollen, wo ich eigentlich die ganze Zeit steckte, aber das erwähnte ich Keith gegenüber nicht. Faye war die perfekte Ausrede – zumindest fürs Erste.

  Keith warf mir einen gequälten Blick zu. »Streu auch noch Salz in die Wunde. Du weißt genau, warum ich es ausfallen lassen musste.«

  Das stimmte. In der letzten Woche hatte er seine flexiblen Arbeitszeiten voll ausgenutzt, um entweder Zeit mit mir zu verbringen oder etwas mit Holly und mir zu unternehmen, was zur Folge hatte, dass er ab und zu bis spät nachts in der Werkstatt bleiben musste, um einen Auftrag fertig zu machen. Ich nahm es ihm nicht übel, vor allem dann nicht, wenn er mir um Mitternacht textete, dass er vor dem Haus in seinem Wagen auf mich wartete. Ich konnte mich nicht daran erinnern, mich jemals so oft rausgeschlichen zu haben wie in diesem Sommer.

  »Nächstes Mal könntest du mir einfach etwas aufheben.« Keith grinste mir unbekümmert zu, während er an seinem Kaffee nippte. Schwarz. Ohne Zucker. Einmal war ich verzweifelt genug gewesen, davon zu probieren, und hätte es fast wieder ausgespuckt. Igitt!

  Alles andere als unangenehm war dafür der Anblick, den Keith an diesem Morgen bot. Er stand nur in Boxershorts in der offenen Küche seiner Wohnung. Die Muskeln in seinem Arm traten hervor, wann immer er die Tasse zum Mund führte. Die Bewegung war so simpel, so alltäglich, dass es lächerlich war. Trotzdem brachte sie meinen Magen dazu, sich in kribbelnder Erwartung zusammenzuziehen. Außerdem wurde mir immer wärmer, je länger ich diesen gebräunten Oberkörper mit den Augen abtastete. Als ich bei seinem Gesicht ankam, hätte ich eher einen Eiskaffee gebraucht statt der dampfenden Tasse in meinen Händen.

  Keiths Augen funkelten, als wüsste er genau, was ich dachte und welche Wirkung er auf mich hatte. Natürlich genoss er jede Sekunde davon, wie man unschwer an seinem selbstgefälligen Lächeln erkennen konnte.

  »Wenn du damit fertig bist, mich mit den Augen auszuziehen, könntest du rüberkommen und Taten sprechen lassen«, forderte er mich mit tiefer Stimme auf.

  Selbst wenn ich mich mit aller Macht dagegen gewehrt hätte, hätte ich nichts gegen den kleinen Hüpfer tun können, den mein Herz machte. Ich hatte es aufgegeben, mich gegen das zu wehren, was zwischen uns war. Was nicht hieß, dass es mich nicht jeden Tag aufs Neue überraschte. Oder jede Nacht.

  Wie vorgestern, als wir einfach nur auf dem Verandadach nebeneinander gelegen und zum Sternenhimmel hochgeschaut hatten. Anders als beim ersten Mal war das Schweigen zwischen uns völlig entspannt gewesen, auch wenn mir kurzzeitig der Atem gestockt hatte, als Keith nach meiner Hand griff und seine Finger mit meinen verschränkte.

  Ich stellte meine noch fast volle Kaffeetasse beiseite und ging zu ihm hinüber. Er lächelte noch immer, als ich vor ihm stehen blieb, und machte keine Anstalten, mich zu umarmen oder an sich zu ziehen. Der Mistkerl legte es wirklich drauf an. Wortlos stellte ich mich auf die Zehenspitzen, legte meine Hände an seine Wangen und presste meinen Mund auf seinen. Ein tiefer, zustimmender Laut belohnte mich für mein Vorgehen und dann kam endlich Leben in ihn. Ich hörte, wie er seine eigene Tasse abstellte, bevor er beide Arme fest um mich schlang. Da ich nur sein T-Shirt trug und meine Haut von letzter Nacht noch übersensibel war, keuchte ich leise auf, als er mich so fest an sich drückte, dass ich nicht nur seine Hitze wahrnehmen konnte, sondern auch, wie der Stoff über meine Brust rieb.

  »Da ist jemand unersättlich«, raunte er an meinem Ohr, nur um gleich darauf sanft hineinzubeißen.

  Ich lachte atemlos auf. »Sagt derjenige, der mir gestern Nacht getextet hat, ich soll mich aus dem Haus schleichen, weil er nicht genug bekommen kann.«

  »Stimmt auch wieder.« Wie zur Bestätigung dieser Aussage biss Keith mir in den Hals und ließ mich gleich darauf seine Zunge spüren. Inzwischen kannte ich all seine Tricks, aber bei diesem wurden mir immer noch die Knie weich.

  »Du verpasst mir hoffentlich keinen neuen Knutschfleck, oder?« Meine Stimme war nur ein heiseres Flüstern. Kaum ernst zu nehmen.

  Ich spürte, wie Keith an meiner Haut lächelte. »Niemals«, murmelte er und knabberte ein weiteres Mal an derselben Stelle.

  Selbst wenn ich es gewollt hätte, hätte ich das sehnsüchtige Stöhnen nicht unterdrücken können, das mir in diesem Moment über die Lippen kam. Am liebsten hätte ich meinen Verstand wieder mal beiseitegeschoben und mich ganz in Keiths Armen verloren. Aber heute war das leider nicht möglich.

  »Du musst in die Werkstatt«, erinnerte ich ihn leise. »Und ich habe Holly versprochen, sie auf dieses Musikfestival zu begleiten.«

  Das weckte Keiths Interesse, denn er hob den Kopf und sah mich mit einer Mischung aus Neugier und Belustigung an. »Holly interessiert sich für Musik?«

  Ich zuckte die Schultern. »Nicht wirklich. Ich glaube, das ist nur eine Ausrede, um mich dazu zu bringen, mitzukommen. Wahrscheinlich hat sie es auf die Essensstände abgesehen oder parallel findet noch eine andere Veranstaltung statt.« Meine kleine Schwester mochte viele Interessen haben, aber Musik gehörte eindeutig nicht dazu. Das Mädchen konnte nicht mal Dur von Moll unterscheiden.

  »Klingt spannend.« Keith drückte mir einen viel zu kurzen Kuss auf die Lippen. »Bringt mir was mit.«

  »Ein Autogramm der Randy Rogers Band?«
/>   Statt als Hardrock-Fan angewidert das Gesicht zu verziehen, grinste Keith nur. »Du hast mich durchschaut. Ich stehe auf die Jungs.«

  Ich lachte leise. »Mal sehen, was sich machen lässt. Vielleicht können wir dir auch einen Burger oder so mitbringen.«

  Er gab mir einen weiteren Kuss, dann löste er sich grummelnd von mir. Ich sah ihm nach, wie er nur in Boxershorts durch seine Wohnung marschierte und im Bad verschwand. Ein bittersüßes Gefühl breitete sich in meiner Magengrube aus, während ich meinen Kaffee allein austrank und dann meine in allen Zimmern verteilten Sachen vom Boden aufhob, um sie wieder anzuziehen. Sobald Keith geduscht hatte, machte ich einen kurzen Abstecher ins Bad, dann waren wir beide abfahrbereit.

  »Sicher, dass du nicht mitkommen willst?«, fragte ich beim Hinausgehen. »Immerhin reden wir hier von einem Country-Music-Festival. Das müsste doch wie Disneyland für dich sein.«

  Diesmal verzog Keith das Gesicht, als er die Wohnungstür hinter sich zuzog. »Eher die Hölle. Das überlasse ich schön euch.«

  »Feigling«, murmelte ich, um ihn weiter zu triezen.

  Zuerst dachte ich, er hätte es nicht gehört, doch dann packte er mich so plötzlich von hinten und schlang die Arme um mich, dass ich überrascht quietschte. Keith drehte mich in seinen Armen um und erstickte mein Lachen mit einem Kuss.

  Irgendwo ganz in der Nähe polterte etwas, aber es war nicht dieses Geräusch, das durch den rosaroten Nebel in meinem Kopf drang, sondern die helle Stimme.

  »Oh mein Gott!«

  Keith und ich erstarrten beinahe zeitgleich. Mein Herz machte einen schmerzhaften Satz, dann polterte es so schnell weiter, als würde es aus seinem Gefängnis ausbrechen wollen, nur um sich nicht dem stellen zu müssen, was jetzt folgte. Langsam löste ich mich von Keith und drehte mich um. Obwohl ich es bereits ahnte, obwohl ich es erwartete, war der Anblick dennoch ein Schock.

  Stella stand mitten im Hausflur, ihr schönes Gesicht blass, die Augen weit aufgerissen. Ihre Hände schwebten in der Luft, als würde sie etwas Imaginäres festhalten. Dann sah ich zu Boden und bemerkte die beiden Tupperdosen, die ihr heruntergefallen war. Das war das Poltern eben gewesen, das ich so gekonnt ausgeblendet hatte.

  »Was …« Mit dem Zeigefinger deutete sie zwischen uns hin und her. »Was geht hier vor?«

  Eins musste man ihr lassen: Sie hatte ihre Stimme sofort wiedergefunden und war wieder in ihre Mutterrolle geschlüpft. In die einer sehr, sehr fassungslosen und verärgerten Mutter.

  »Mom …« Keith machte einen Schritt auf sie zu, als wollte er ihr alles erklären, aber sie schüttelte nur den Kopf und zeigte auf seine Wohnungstür.

  »Rein da. Alle beide.«

  Wir zögerten. Ein großer Fehler.

  »Sofort!«

  Ich zuckte zusammen. Stella musste nicht die Stimme erheben, um ihrem Befehl mehr Nachdruck zu verleihen. Sie hatte drei Kinder großgezogen und arbeitete jeden Tag mit jungen Patienten im Krankenhaus. Wenn es jemanden gab, der wusste, wie er sich durchsetzen konnte, dann sie.

  Mit gesenktem Kopf betrat ich Keiths Wohnung. Die Luft war warm hier drinnen, als würde noch immer pure Glückseligkeit darin schweben. Aber mir war nicht länger warm und ich schlang die Arme um mich, um mein Frösteln zu unterdrücken. Und vielleicht auch, um alles in mir zusammenzuhalten, denn ein Teil von mir ahnte bereits, dass das Gespräch mit Stella ein vollkommen anderes werden würde als das mit Holly.

  Sie drückte die Tür hinter sich zu und marschierte in die Küche, um die Tupperdosen auf der Arbeitsfläche abzustellen. Jetzt erkannte ich auch, was sich darin befand: Hollys berühmtes Mac and Cheese. Die Reste von gestern Abend, womit ich Keith eben noch aufgezogen hatte. Jetzt schien das eine Ewigkeit her zu sein.

  Stella kehrte zurück, die Hände in die Hüften gestemmt, und sah fassungslos zwischen uns hin und her. »Wie lange geht das schon?«

  Ich öffnete den Mund, obwohl ich nicht einmal wusste, was ich darauf antworten sollte, aber Keith kam mir zuvor. »Mom, das ist nicht …«

  »Wie lange?«, fiel sie ihm gnadenlos ins Wort.

  Schuldbewusst hob ich die Schultern. »Eine Woche …?«

  Unter anderen Umständen wäre es faszinierend gewesen, dabei zuzusehen, wie viele verschiedene Emotionen in ihrem Gesicht aufflackerten, allerdings nicht, wenn ich die Ursache dafür war. Am liebsten hätte ich die Zeit zurückgedreht, damit sie Keith und mich niemals zusammen erwischte. Schon gar nicht so, dass wir uns keine Ausrede einfallen lassen konnten. Was sollten wir schon sagen? Keith wäre am Ersticken gewesen und ich hätte ihm mit Mund-zu-Mund-Beatmung das Leben gerettet? Wohl kaum.

  »Wie … wie konnte das passieren?« Stella schien noch immer zwischen Ungläubigkeit und Fassungslosigkeit zu schwanken, gemixt mit einem ordentlichen Schuss blanker Wut. »Habt ihr auch nur eine Sekunde an die Menschen um euch herum gedacht? An Holly? An mich?« Sie warf die Hände in die Luft, als könnte sie nicht fassen, dieses Gespräch tatsächlich mit uns führen zu müssen. Um ehrlich zu sein, konnte ich es genauso wenig begreifen wie sie. »Das hier ist eine verdammte Kleinstadt. Habt ihr auch nur die geringste Ahnung, wie lange es gedauert hat, bis die Leute vergessen haben, dass dein Vater mein Professor am College war und ich die verruchte Studentin, die ihn verführt hat?«

  Wieder zuckte ich zusammen. Ich kannte die Geschichte, aber Dad hatte sie mir damals ganz in Ruhe erzählt und erklärt, dass man sich nicht aussuchen konnte, in wen man sich verliebte und dass das Leben manchmal seltsame Wendungen nahm. Nie hatte er davon gesprochen, was die Leute in der Stadt davon hielten, und ich selbst hatte nie darüber nachgedacht. Wieso auch? Ich war gerade mal zehn Jahre alt gewesen. Er und Stella hatten immer so glücklich, so stark zusammen gewirkt, dass ich mir nie irgendwelche Gedanken darüber gemacht hatte, dass sie für ihre Liebe hatten kämpfen müssen.

  »Das war eine andere Zeit, Mom«, versuchte Keith es noch mal und verschränkte die Arme vor der Brust. »Außerdem sind Callie und ich nicht Professor und Studentin.«

  »Richtig. Ihr seid Geschwister, in Gottes Namen!«

  Ich schloss die Augen und verzog das Gesicht. Konnten die Leute vielleicht damit aufhören, uns so zu bezeichnen? Bis auf drei verdammte Jahre waren wir nicht mal miteinander aufgewachsen. Außerdem waren wir nicht miteinander verwandt. Ich hatte meine eigene Mom und meinen Dad und Keith hatte seine Eltern. Keine Verwandtschaft. Keine wirklichen Geschwister. Warum war das so schwer zu begreifen?

  »Stiefgeschwister«, korrigierte Keith sie ruhig. »Und auch nur, weil du uns dazu gemacht hast.«

  »Oh nein, wag es ja nicht, mir so zu kommen, Keith Blackwood.« Mit einem Schritt war sie bei ihm und baute sich zu ihrer vollen Größe vor ihm auf. Obwohl sie lange nicht so groß war wie ihr Sohn, schien er allein unter der Macht ihrer Autorität kleiner zu werden. »Wie kannst du alles aufs Spiel setzen, wofür du in den letzten Wochen so hart gearbeitet hast? Dein Leben hier? Deinen Job in der Werkstatt?«

  Er presste die Lippen zu einer harten Linie zusammen. »Nichts davon hat etwas mit Callie und mir zu tun.«

  Stella lachte ungläubig auf, aber es klang so schrecklich bitter. Sie so zu sehen war wie eine Faust, die sich um mein Herz schloss und immer weiter zudrückte.

  »Alles hat mit allem zu tun«, fuhr sie gnadenlos fort. »Denkst du, die Leute haben vergessen, was sie damals über mich gedacht haben? Eine mittellose Studentin mit Kind, die einen reichen Professor heiratet? Ein Teenager am Steuer des Wagens, der …«

  »Stopp!«, rief ich, auch wenn ich sah, dass sie den Satz nicht zu Ende bringen würde. Aber ich hatte auch den Schmerz in Keiths Augen gesehen, bevor er sich von uns abgewandt hatte. »Wir wissen alle, was damals passiert ist.«

  »Genau.« Mit einem Mal schien jede Kraft aus Stellas Stimme gewichen zu sein. Ich hatte sie immer für ihre Jugend bewundert, doch in diesem Moment wirkte sie viel älter als sie tatsächlich war. Wie eine Frau, die zwei Ehemänner verloren hatte. Einen, weil es nicht funktioniert hatte, und den anderen, weil das Leben ihn ihr viel zu früh genommen hatte. »Jeder we
iß es. Jeder erinnert sich daran. Wollt ihr wirklich noch eins draufsetzen? Wollt ihr für all diese Leute wirklich Bruder und Schwester sein, die miteinander ins Bett gehen? Denkt ihr wirklich, es interessiert irgendjemanden, dass ihr nicht blutsverwandt seid?«

  Ich rieb mir mit beiden Händen über das Gesicht. In meiner Handtasche vibrierte mein Handy, aber ich nahm es nur am Rande wahr. Vermutlich war es Holly, die mir mitteilte, dass sie wie so oft noch nicht fertig war und sich verspäten würde.

  Stella seufzte tief. »Ihr seid beide erwachsen. Ich kann euch nichts vorschreiben, auch wenn ich euch am liebsten für den Rest eures Lebens in verschiedene Zimmer einsperren würde.«

  Sie schluckte hart, dann schüttelte sie den Kopf. Keith stand noch immer mit dem Rücken zu ihr, also wandte sie sich an mich und nahm meine Hände in ihre. Sie waren warm und weich. Liebevoll wie die der Mutter, die sie jahrelang für Holly und mich gewesen war. Sie war da gewesen, als meine erste Beziehung in die Brüche gegangen war und hatte mich mit Eiscreme und Taschentüchern versorgt. Sie hatte sich um mich gekümmert, als mich die Grippe so schlimm erwischt hatte, dass ich kaum das Bett verlassen konnte, und mir geduldig Medikamente und Hühnersuppe eingeflößt. Sie hatte mich in den Arm genommen und mir Mut gemacht, als ich bei meinen ersten Fahrstunden völlig versagte, weil ich zu große Angst gehabt hatte.

  Es gab so viele Momente, in denen Stella an meiner Seite gewesen war und mich unterstützt hatte. Schuldete ich es dieser Frau nicht, ihr keinen weiteren Kummer zu bereiten? Sie hatte wegen meines Hasses auf Keith schon lange genug gelitten. Ich hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich ihm die Schuld am Unfall gab, und er war sieben Jahre lang fort gewesen. Und jetzt setzte ich noch eins drauf und sorgte dafür, dass sich die ganze Stadt das Maul über uns und damit auch über sie zerriss?

  »Callie …« Sie drückte meine Finger, als würde sie mich stumm anflehen, ihr das nicht anzutun. Es Keith nicht anzutun, der zurückgekommen war, um sich hier ein Leben aufzubauen. Es Holly nicht anzutun, die nichts mit alledem zu tun hatte und trotzdem darunter leiden würde.

 

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