Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us

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Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us Page 36

by Iosivoni, Bianca


  Ich betrat seine Wohnung und drehte mich noch im Flur zu ihm um. Mein Puls raste und ich knetete nervös meine Finger, trotzdem sprach ich die Worte aus, auch wenn meine Stimme beinahe dabei versagte. »Du bist damals gar nicht mehr gefahren, nicht wahr? Dad wollte, dass du anhältst, damit ihr die Plätze tauschen könnt. Dann ist er weitergefahren.«

  Ich beobachtete ihn. Keith erwiderte nichts darauf, aber er stritt meine Vermutungen auch nicht ab.

  An der Unfallstelle hatten die vielen Puzzlestücke begonnen, sich zu einem Gesamtbild zusammenzufügen, und nach dem Gespräch mit Stella und Holly war es so gut wie vollständig. Es war kein schönes Bild. Um ehrlich zu sein war es sogar ziemlich hässlich und stellte meine Erinnerungen an meinen Vater in einem völlig neuen Licht dar. Vielleicht würde ich niemals verstehen, was an jenem Tag passiert war, und warum er sich ans Steuer gesetzt hatte, obwohl er um die Nebenwirkungen der Medikamente wusste. Aber ich konnte aufhören, Keith dafür zu bestrafen. Und ich konnte vergeben. Nicht Keith, denn ihm hatte ich bereits verziehen, sondern Dad. Dafür, was er getan hatte. Dafür, dass er uns verlassen hatte.

  »Es gab nie ein Reh auf der Fahrbahn, oder?«, flüsterte ich. »Dad ist allein von der Straße abgekommen. Ich erinnere mich daran, dass er müde aussah. Wahrscheinlich die Nebenwirkungen der …«

  »Es war meine Schuld«, fiel Keith mir ins Wort.

  Zum ersten Mal seit ich seine Wohnung betreten hatte, sah er mich direkt an. In seinem Gesicht lagen so viel Schmerz und Schuldgefühle, dass ich instinktiv die Hand ausstrecken und all das vertreiben wollte. Aber ich tat es nicht. Ich musste hören, was er zu sagen hatte, und er musste es aussprechen. Für sich. Für uns beide.

  »Als du bei Mom und Holly im Garten warst, bin ich zu ihm gegangen. Ich habe ihn dabei erwischt, wie er irgendwelche Tabletten eingenommen hat. Ich hätte mir nichts weiter dabei gedacht, aber es waren so viele und er hat die Verpackung so schnell weggeräumt. Dann hat er gesagt, dass alles in Ordnung wäre und ich schon mal vorgehen sollte.« Keith schnaubte abfällig. »Ich wusste, dass irgendwas nicht stimmt, aber ich habe nicht nachgehakt. Ich habe nichts unternommen, sondern bin mit euch in den Wagen gestiegen.«

  »Keith, tu das nicht …«, wisperte ich und machte einen Schritt auf ihn zu.

  Störrisch schüttelte er den Kopf und wich mir aus. »Ich hätte es verhindern können. Hätte ich bloß den Mund aufgemacht und etwas gesagt, wäre es nie zu diesem dämlichen Fahrunterricht gekommen und er könnte noch leben. Verstehst du das? Er könnte jetzt noch hier sein und zusammen mit euch diesen Sommer verbringen, wenn ich nur etwas gesagt hätte.«

  Diesmal ließ ich nicht zu, dass er sich meiner Berührung entzog. Ich packte seinen Arm und zwang ihn dazu, mich anzusehen. »Vielleicht hättest du es verhindern können, vielleicht auch nicht. Hast du eine Ahnung, wie oft ich die gleichen Gedanken hatte? Wie oft ich mir gewünscht habe, ich hätte Dad niemals zu der Fahrstunde überredet, weil er dann noch am Leben sein könnte? Aber wir werden nie wissen, was hätte sein können. Vielleicht wäre er einkaufen gefahren und dabei verunglückt. Ohne uns. Ohne dass du ihn aus dem Wagen zerren konntest.«

  Keith starrte mich an. Gleichzeitig bildete sich eine tiefe Falte zwischen seinen Brauen. »Du erinnerst dich wieder?«

  »Ein paar Bruchstücke hier und da. Dass du Dad rausgeholt hast, war nur geraten, weil ich die Polizeiakte und den Bericht aus dem Krankenhaus gelesen habe.«

  »Woher …?« Er hob abwehrend die Hand. »Ich will es gar nicht wissen.«

  Was vermutlich auch besser so war. Ich würde Braden die Akte noch heute zurückgeben, damit er keinen Ärger bekam. Ich musste die Details kein zweites und drittes Mal lesen. Ich kannte die Wahrheit. Nach all dieser Zeit kannte ich endlich die Wahrheit.

  »Er … er hat noch gelebt, als ich aus dem Wagen geklettert bin«, murmelte Keith und starrte einen Punkt an der Wand hinter mir an. »Sein Gesicht war voller Blut und er hat mir gesagt, ich soll dich zuerst rausholen. Er konnte sich nicht bewegen, aber er hat darauf bestanden, dass ich dich in Sicherheit bringe. Du warst bewusstlos und für einen kurzen Moment dachte ich, du wärst tot.«

  Mein Herz wurde schwer für den Jungen, der er damals gewesen war und der das alles hatte miterleben müssen. Instinktiv griff ich nach seiner Hand.

  »Danke«, flüsterte ich. »Die ganze Zeit über habe ich dich so sehr gehasst. Dabei hast du mir mit ziemlicher Sicherheit das Leben gerettet.«

  Er schüttelte den Kopf. »Nicht ich. Dein Dad hat dich gerettet.«

  Hätte ich nicht bereits gewusst, wie unglaublich viel ich für Keith empfand, wäre es mir spätestens jetzt klar geworden. Ich drückte seine Finger und schenkte ihm ein zittriges Lächeln.

  »Es tut mir so leid, dass ich dir all die Jahre die Schuld daran gegeben habe …« Worte konnten nichts von alledem ungeschehen machen, aber ich musste sie aussprechen. Er musste wissen, wie sehr ich es bereute.

  »Muss es nicht. Ich habe dir nie die Wahrheit gesagt und bin damals freiwillig gegangen.«

  »Warum?«

  Er seufzte tief und verflocht seine Finger mit meinen. »Weil ich mich schuldig gefühlt habe? Weil ich ihn nicht retten konnte? Weil ich wusste, wie sehr ihr ihn alle geliebt habt und ich nicht wollte, dass ihr ihn auf diese Weise in Erinnerung behaltet?«

  Als jemanden, der Geheimnisse vor seiner Familie hatte. Jemand, der Medikamente missbrauchte, möglicherweise sogar in eine Abhängigkeit geraten war und nicht merkte, welche schrecklichen Nebenwirkungen das mit sich brachte. All diese Vorwürfe hatte ich Dad in Gedanken bereits gemacht. Es war unverantwortlich von ihm gewesen, unter dem Einfluss von Benzodiazepinen mit uns Auto zu fahren und er hatte den höchsten Preis dafür bezahlt. Aber ich konnte ihn nicht dafür hassen. Ich hatte schon zu viele Jahre damit verschwendet, jemanden zu hassen, der mir wichtig war. Ich wollte nicht länger an einer Vergangenheit festhalten, die nie mehr zurückkehren würde.

  »Das ändert nichts, oder?« Keith sah auf mich hinunter, die Stirn gerunzelt und etwas Fragendes, fast schon Bitteres lag in seinem Blick. »Zwischen uns, meine ich.«

  »Nein, das ändert nichts«, bestätigte ich und zog an seiner Hand. Dann, ohne Vorwarnung, stellte ich mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn.

  Es war ein sanfter, ein fragender Kuss. So viel war zwischen uns vorgefallen, damals wie heute, dass ich nicht wusste, ob ein Neuanfang für uns überhaupt möglich war. Ob Keith es wollte. Aber ich würde es mir niemals verzeihen, wenn ich es nicht wenigstens versuchte. Ich hatte schon so viel geschafft, so viel überwunden und durchgestanden und Keith war stets ein Teil davon gewesen. Nicht immer der Schönste, wenn er mir Dinge ins Gesicht sagte, von denen sich außer ihm niemand traute, sie auszusprechen. Selbst wenn er mich jetzt von sich stoßen sollte, war ich mir einer Sache völlig sicher: Ich wollte ihn weiter in meinem Leben haben. Sieben Jahre ohne ihn waren lang genug gewesen und wir hatten ja gesehen, wohin das geführt hatte.

  Ich wusste nicht, was ich erwartet, was ich erhofft und befürchtet hatte, aber nichts davon trat ein. Im ersten Moment reagierte Keith überhaupt nicht, fast so, als wäre er zu überrascht davon, dass ich ihn nach diesem Gespräch, nach all diesen neuen Wahrheiten küsste.

  Doch dann legte Keith seine Hand an meine Wange und begann den Kuss zu erwidern. Fest. Fordernd. Einnehmend. Er schien herausfinden zu wollen, wie viel ich zu geben bereit war. Wie bei unserem allerersten Kuss biss er in meine Unterlippe und entlockte mir ein Keuchen. Seine Zunge drang in meinen Mund und forderte meine heraus.

  Statt zurückzuweichen, wie ich es bis vor Kurzem noch getan hätte, schlang ich nun die Arme um seinen Hals und gab ihm alles von mir. Von dem Mädchen, das ich früher gewesen war. Von der Frau, die ich heute war und die weiß Gott genug Fehler und Probleme hatte.

  Und Keith nahm alles davon, legte den Arm um mich und drückte mich so fest an sich, als würde er mich nie mehr loslassen wollen. Bestimmt würde es noch mehr als genug Situationen geben, in denen ich mich mit Händen und Füßen gegen ihn wehrte, in denen wir stritten und so ehrlich
zueinander waren, dass es wehtat. Doch ganz egal, was die Zukunft noch bringen mochte, all das Schreckliche und all das Schöne unserer Vergangenheit hatten uns zusammengeschweißt und zu den Menschen gemacht, die wir heute waren.

  Als er den Kopf hob, atmeten wir beide schwer. Unbewusst leckte ich mir über die Lippen, die noch immer nach ihm schmeckten. Sofort folgte sein Blick meiner Zunge und verdunkelte sich. Ich lächelte, berauscht von diesem Glücksgefühl und dem Wissen, dass ich allein diese Wirkung auf Keith hatte.

  »Ich liebe dich.« Die Worte kamen mir leichter über die Lippen, als ich es je für möglich gehalten hätte. Weil sie die Wahrheit waren.

  »Wie war das?« Keith hob den Kopf und sah mit einer Mischung aus Erstaunen und Faszination auf mich hinunter. »Sag das noch mal.«

  »Du hast mich schon richtig verstanden«, wiederholte ich den Satz, den er mir damals entgegengeschleudert hatte. Wie konnte das nur ein paar Tage her sein, wenn es sich wie ein halbes Leben anfühlte?

  Er zog mich wieder an sich, während seine Augen vor Freude funkelten. »Vielleicht muss ich es noch einmal hören, um es wirklich glauben zu können.«

  Wir wurden beide ernst. Wie auf Kommando verdoppelte sich mein Herzschlag und ein Hauch von Angst schoss durch meine Adern. Ich ignorierte das Gefühl, konzentrierte mich nur auf Keith und sprach die Worte erneut aus.

  »Ich liebe dich. Ich glaube, ich habe dich schon damals geliebt und nie damit aufgehört, ganz egal wie sehr ich dich gehasst habe.«

  Keith betrachtete mich so ernst und prüfend, als versuchte er den Wahrheitsgehalt meiner Worte in meinem Gesicht zu ergründen. Dann verzogen sich seine Lippen zu einem breiten Lächeln.

  »Das wurde aber auch Zeit«, murmelte er und drückte mir einen festen Kuss auf den Mund.

  Epilog

  Eine Woche später war ich wieder genau dort, wo dieser Sommer begonnen hatte. Nicht in einem Flugzeug, das mich zurück nach Hause brachte, sondern mit Marvin Gaye und Meghan Trainor im Ohr. Die Musik schallte durch unseren Garten und ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, als die vertrauten Klänge ertönten. Ja, vertraut, denn in den letzten Wochen hatte ich die Musik, die Parker mir auf meinen iPod gepackt hatte, nicht automatisch mit Missachtung gestraft, sondern wirklich angehört. Und siehe da, mein bester Freund hatte recht behalten. Ich hatte zu Adele und Ed Sheeran geweint, hatte mit Holly zu Meghan Trainor und Sia getanzt und mich selbst in so vielen neuen Liedern wiedergefunden, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Außerdem hatten sie mir so viel Inspiration geliefert, dass ich in jeder freien Sekunde am Klavier saß oder neue Texte in mein Notizbuch kritzelte. Natürlich liebte ich meine Oldies noch immer, aber ich verschloss mich nicht länger vor etwas Neuem.

  Seit wir die Wahrheit herausgefunden hatten, hatte ich mehr Hochs und Tiefs erlebt als jemals zuvor. Ich war mir ziemlich sicher, alle Trauerphasen innerhalb kürzester Zeit durchlaufen zu haben. Die Weigerung, es zu akzeptieren. Dann die Wut und Schuldzuweisung, dicht gefolgt von so vielen Erinnerungen, dass sie in Lach- und Heulkrämpfen geendet hatten. Und zuletzt die Akzeptanz. Nicht nur der Tatsache, dass mein Vater fort war und nie mehr zurückkommen würde, sondern auch, dass er mir immer fehlen, dass es immer einen Fleck in meinem Herzen geben würde, der wehtun würde, wenn ich an ihn dachte. Aber inzwischen waren da nicht mehr nur Schmerz und Wut, sondern auch gute Momente. Erinnerungen an Gelächter und Diskussionen, an Umarmungen, an Lob und den Stolz und die Liebe in seinen Augen, wann immer er uns ansah. Daran wollte ich mich erinnern, wann immer ich an Dad dachte.

  Keith war die ganze Zeit über an meiner Seite gewesen. Hatte mich festgehalten und getröstet, wenn mich wieder eine alte Erinnerung überkam, mir gut zugeredet oder auch nur mit mir geschwiegen. Im Gegenzug hatte ich ihm noch zweimal die Schuldgefühle austreiben müssen. Vermutlich nicht zum letzten Mal. Wir befanden uns alle in einem Heilungsprozess, aber während Dads Tod uns damals auseinandergerissen hatte, brachte die Wahrheit unsere Familie nun näher zusammen.

  »Da bist du ja.« Stella gesellte sich mit zwei Sektgläsern zu mir, nur war das eine, welches sie mir reichte, mit Orangensaft gefüllt. »Entschuldige«, murmelte sie, als ich sie halb belustigt, halb ungläubig ansah. »Für mich seid ihr immer noch die kleinen Mädchen, als die ich euch kennengelernt habe. Das wird sich niemals ändern.« Wehmut schwang in ihrer Stimme mit.

  Ich lächelte, während ich Holly betrachtete. Umgeben von all ihren Freunden versuchte sie, mit Dartpfeilen ihre Reiseziele auf einer riesigen Weltkarte zu treffen, die wir zwischen zwei Baumstämmen aufgehängt hatten.

  »Schon gut.« Ich nippte an meinem Orangensaft. »Aber du wirst dich daran gewöhnen müssen, dass Holly und ich jetzt erwachsen sind. Alkohol miteingeschlossen«, fügte ich hinzu und hob das Glas.

  Sie stieß mit mir an, und ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. »Ich weiß.« Sie seufzte leise. »Da gibt es noch einiges, an das ich mich gewöhnen muss.«

  Wir wussten beide, wovon sie sprach, doch in ihrer Aussage lag kein Vorwurf. Nur der Wehmut einer Mutter, die sich damit abzufinden versuchte, dass all ihre Kinder erwachsen geworden waren.

  Wortlos schlang ich die Arme um sie und vergrub mein Gesicht an ihrem Hals. Ihr warmer Duft hatte mich bei meiner Ankunft willkommen geheißen, doch jetzt machte er mir noch etwas anderes deutlich. Ich war nicht nur zu Hause. Ich war angekommen.

  »Danke … Mom.«

  Stella schnappte nach Luft, erwiderte jedoch nichts darauf. Stattdessen umarmte sie mich fester und drückte mir einen Kuss ins Haar. Als ich mich von ihr löste, konnte ich Tränen in ihren Augen schimmern sehen.

  Ich griff nach ihren Händen. »Lass uns Holly ihr Geschenk geben.«

  Zusammen gingen wir zu ihr hinüber, und als wir zwischen all den lachenden Freundinnen ihre Aufmerksamkeit für einen Moment für uns gewinnen konnten, zog ich einen unscheinbaren Umschlag aus meiner Handtasche hervor.

  »Was ist das?« Ihre Hände zitterten ein wenig, als sie den Umschlag öffnete und die Karte hervorzog. »Oh mein Gott!«

  Stella legte ihr den Arm um die Schultern. »Das, meine Liebe, ist ein Abschiedsgeschenk von Callie und Keith, Katelyn und mir.«

  Ich lächelte, als ich Hollys erstauntes Gesicht sah. Ihre blauen Augen waren kugelrund vor Überraschung und leuchteten vor Freude.

  »Wir haben zusammengelegt, damit du neben all deinen Wandertouren und dem Backpacking auch ein langes Wochenende ausspannen kannst.«

  Ich deutete auf den Umschlag, der einen Gutschein für ein Wellnesswochenende in einer Hotelkette enthielt, die diverse Häuser in ganz Europa hatte. So konnte Holly es sich aussuchen, wann und wo sie einchecken und sich für ein paar Tage verwöhnen lassen wollte.

  »Nicht ganz uneigennützig«, kam es von Katelyn, die sich auf Hollys andere Seite gestellt hatte. »Da gibt es neben den ganzen Massagen und dem super gesunden Essen nämlich auch kostenloses WLAN, das du gefälligst nutzen sollst. Ich will alles wissen.«

  »Wir auch!«, riefen Stella und ich gleichzeitig.

  Holly nickte lachend und umarmte erst ihre Mom, dann ihre beste Freundin. »Ihr seid unmöglich. Und die Besten! Ich würde euch alle einpacken und in meinem Rucksack mitnehmen, wenn ich könnte.«

  Als sie zu mir kam, war ich schneller und zog sie meinerseits in eine so feste Umarmung, dass sie gespielt röchelte, als würde sie keine Luft mehr bekommen. Doch dann legte auch sie die Arme um mich.

  »Ich werde dich so sehr vermissen!«

  »Noch bin ich ja nicht weg. Außerdem wirst du so oft von mir hören, dass du mich gar nicht vermissen kannst«, protestierte Holly mit einem Grinsen in der Stimme und tätschelte mir liebevoll den Rücken. Doch auch sie klammerte sich an mich, als wollte sie mich nie wieder loslassen. Ich drückte ihr einen Kuss auf die Wange, dann lösten wir uns voneinander. Hastig wischte Holly sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln und lachte über ihre sentimentale Reaktion.

  »Danke.«

  Ich sah ihr lächelnd nach, als sie sich wieder unter ihre Freunde mischte und kurz darauf
mit Braden im Haus verschwand.

  Mit meinem halb vollen Glas Orangensaft in der Hand schlenderte ich durch den Garten, konnte Keith aber nirgendwo finden. Er war am Anfang der Feier noch in meiner Nähe gewesen, doch dann irgendwann verschwunden. Inzwischen war es Nacht geworden und während der Garten von den Lampions beleuchtet wurde, war es im Haus vollkommen dunkel. Die Musik, das Gelächter und die Stimmen waren hier drinnen nur noch ein blasses Echo und wurden erst wieder lauter, als ich das Fenster öffnete, das auf das Verandadach hinausführte.

  Das schabende Geräusch sorgte dafür, dass Keith zusammenzuckte und seine Zigarette hastig ausdrückte. Als er mich erkannte, entspannten sich seine Schultern und er seufzte tief. »Scheiße, ich dachte, du wärst Mom.«

  »Eines Tages wird sie es herausfinden und dir die Hölle heißmachen«, prophezeite ich ihm. »Und ich kann es kaum erwarten.«

  »Falls du nicht vorher alle Packungen wegwirfst«, neckte er mich und streckte die Hand nach mir aus.

  »Genau.« Ich setzte mich neben ihn an den Rand des Daches und ließ die Beine herabbaumeln.

  Unter uns ging Hollys Abschiedsparty weiter, aber hier oben waren wir ganz für uns. Als würden wir für einen Moment die Zeit anhalten, während die Welt sich vor unseren Augen weiterdrehte.

  Mit einem leisen Seufzen lehnte ich den Kopf an Keiths Schulter und er legte seinen Arm um mich.

  »Was jetzt?«, fragte er leise.

  Er musste es nicht erst aussprechen, damit ich wusste, was er meinte. Da unten hatte sich fast die ganze Stadt versammelt. Lauter Menschen, die über uns urteilen würden, nicht nur, weil wir Stiefgeschwister waren, sondern weil Keith für immer der Junge bleiben würde, der in den Augen aller Schuld am Unfalltod seines Stiefvaters hatte. So wie ich für immer das Mädchen sein würde, das ihren Vater durch eben diesen Jungen verloren hatte. In den letzten Wochen waren wir uns nähergekommen als je zuvor, aber wir hatten uns nie offiziell als Paar präsentiert.

 

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