Hastig schlug ich die Akte wieder auf und überflog die Berichte aus dem Krankenhaus. Sie beschrieben meine und Keiths Verfassung, den Schweregrad unserer Verletzungen, mögliche psychische Auswirkungen und den weiteren Therapieverlauf bis zur Entlassung. Nichts davon war neu für mich, außer vielleicht die Tatsache, dass Keith schwerer verletzt gewesen war, als ich gedacht hatte und er auf eigenen Wunsch aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Vermutlich unter Stellas Protest, aber ihm zuliebe hatte sie ihn da rausgeholt. Das hatte ich nicht gewusst. Jahrelang hatte ich geglaubt, Keith hätte nur ein paar Kratzer abbekommen und wäre dann einfach gegangen.
Ich blätterte weiter und keuchte auf, als ich Dads Namen auf dem Papier las. Er war bereits tot gewesen, als die Ersthelfer hier angekommen waren. Jegliche Wiederbelebungsversuche waren erfolglos geblieben. Die Todesursache war nicht ganz klar. Eine Rauchvergiftung könnte Schuld daran gewesen sein, oder aber die inneren Verletzungen, die durch den Aufprall verursacht worden waren. Nirgendwo stand etwas von Brandverletzungen, also musste ihn jemand aus dem Auto gezerrt haben, oder nicht? Keith oder die Rettungskräfte?
Meine Gedanken glichen einem Strudel, der immer größer, immer gewaltiger wurde, bis er alles in sich aufgesogen hatte. Ich musste mich beruhigen. Ich mochte noch keine richtige Ärztin sein, aber ich hatte lange genug studiert, um zu wissen, dass ich kurz vor einer Panikattacke stand. Weiße Punkte begannen vor meinen Augen zu tanzen, während ein seltsam rasselndes Geräusch an meine Ohren drang. Es dauerte einige Sekunden, bis mir klar wurde, dass das mein eigenes Japsen war, da ich keine Luft mehr bekam.
Ich ließ mich gegen den Baumstamm sinken und versuchte, in den Bauch zu atmen. Langsam. Tief. Bis ich ganz allmählich wieder ruhiger wurde. Meine Muskeln begannen sich wieder zu entspannen und ich rutschte an der Rinde hinab zu Boden. Die Fotos und Papiere lagen verteilt um mich herum, weil ich die Akte irgendwann fallen gelassen hatte. Ich starrte darauf, während ich die Puzzleteile in meinem Kopf zusammenzusetzen versuchte, damit sie ein ganzes Bild ergaben.
Fahr rechts ran, Keith. Dads erschöpfte Stimme hallte wie ein Echo des Traums in meinen Gedanken wider. Halt hier an und lass uns die Plätze tauschen.
Jemand hatte Dad aus dem Wagen herausgeholt, nur deswegen war er nicht in dem Wrack verbrannt. Aber selbst dann war es zu spät für ihn gewesen. Wenn es Keith gewesen war, hatten weder die Polizei noch die Rettungskräfte gesehen, wer am Steuer gesessen hatte. Aber ich wusste es doch noch, oder nicht? Keith war gefahren. Ich hatte es den Beamten sogar selbst gesagt, während ich mit verbundenem Kopf und Schmerzmitteln im Blut in diesem Krankenhausbett gelegen hatte.
Aber was, wenn ich falsch gelegen hatte? Was, wenn die verdammte Gehirnerschütterung dafür gesorgt hatte, dass ich wichtige Details von kurz vor dem Unfall vergaß?
Halt hier an und lass uns die Plätze tauschen.
Was war wirklich passiert? Ich hob den Bericht aus dem Krankenhaus auf und versuchte einen Sinn in den ganzen Fachbegriffen zu finden. Wieder und wieder überflog ich die Informationen, bis ich an einem Wort hängen blieb: Benzodiazepine. Ich erkannte es, weil ich mich beim Lernen für meine Biochemie-Prüfung auch damit herumschlagen musste. Polycyclische organisch-chemische Verbindungen. Einige davon wurden zu medizinischen Zwecken als Sedativa eingesetzt. Aber was hatte das in diesem Bericht zu suchen? Warum hatte man in Dads Blut Spuren davon gefunden?
Ich versuchte mich krampfhaft zurückzuerinnern, aber bis auf die wenigen Bruchstücke, die in meinen Träumen aufgetaucht waren, blieb alles im Dunkeln. Ich wusste, dass Keith mich festgehalten hatte. Das hatte er selbst mehr oder weniger bestätigt. Und wenn dieser Traum eine Erinnerung gewesen war, dann war die Wahrscheinlichkeit ziemlich hoch, dass es auch die anderen waren.
Dad ist komisch drauf.
Langsamer, Keith!
Fahr rechts ran … lass uns die Plätze tauschen …
Benzodiazepine.
Das Pulsieren in meinen Schläfen nahm zu, bis ich das Gefühl hatte, dass mir gleich der Kopf platzen würde. Aber es ergab Sinn, oder nicht? Einen schrecklichen Sinn, den ich einfach nicht wahrhaben wollte. Wenn Dad etwas eingenommen hatte, das diesen Wirkstoff enthielt, Diazepam oder Alprazolam etwa, und dann den Platz mit Keith getauscht hatte und selbst gefahren war …
Ich schüttelte den Kopf. Nein. So etwas Unverantwortliches würde er niemals tun. Er war selbst Arzt gewesen, verdammt noch mal. Er wusste um die bewusstseinsverändernde Wirkung dieser Mittel, außerdem waren sie verschreibungspflichtig und nicht einfach im Supermarkt zu kaufen. Aber Dad war Arzt gewesen … Wenn jemand an diese Medikamente kommen könnte, dann er. Aber warum? Wieso hätte er so etwas tun sollen?
Die Puzzlestücke in meinem Kopf drehten sich, bis sie alle richtig zueinander lagen, aber ich weigerte mich, sie zusammenzusetzen. Weil das Bild, das dadurch entstand und die daraus resultierenden Konsequenzen noch viel schlimmer waren als alles, was ich je zu wissen geglaubt hatte.
Ich sammelte alle Fotos und Papiere ein, stopfte sie wieder in die Mappe und kämpfte mich auf die Beine. Schwindel erfasste mich und drohte mich wieder zu Boden zu schicken, aber ich stützte mich am Baumstamm ab und wartete, bis der Anfall vorbei war. Kein Frühstück, kein Wasser, die Mittagshitze und dann noch all diese neuen Informationen … Kein Wunder, dass mein Körper Alarm schlug.
Als ich sicher war, wieder gerade stehen zu können, machte ich mich an den Aufstieg. Langsam und konzentriert, auch wenn es mit der Akte in der Hand gar nicht so leicht war, sich an Wurzeln festzuhalten und hochzuziehen. Eine gefühlte Ewigkeit und einige Kratzer später stand ich wieder auf der Straße. Diesmal war kein Braden da, der zufällig vorbeikam und mich nach Hause fuhr. Ich musste selbst dafür sorgen, sicher heimzukommen.
Ich warf die Akte auf den Rücksitz von Hollys Wagen und stieg wieder ein. Irgendwo musste meine Schwester doch etwas zu trinken im Auto haben … Ich durchsuchte die Seitenfächer, den Fußraum beim Beifahrersitz und tastete nach hinten. Nichts. Im Handschuhfach fand ich ein Pfefferminzbonbon, packte es aus und schob es mir in den Mund. Es schmeckte widerlich, aber es war besser als nichts. Ich brauchte einen klaren Kopf, um nicht selbst auch noch einen Unfall zu bauen, während ich heimfuhr.
Als ich zu Hause ankam, war ich allein. Seufzend legte ich die Polizeiakte auf dem Klavier ab und ließ mich auf die Bank davor fallen. Von Holly war nichts zu sehen oder zu hören und Stellas Wagen stand nicht in der Einfahrt, also war sie wohl noch bei David, mit dem sie gestern Abend ausgegangen war.
Gedankenverloren ließ ich meine Finger über die Tasten gleiten. Die Melodie begann ruhig, fast schon zurückhaltend, als müssten sich meine Hände erst wieder daran erinnern, wie man richtig Klavier spielte. Seit jener Nacht, als ich Keith geholfen hatte, hatte ich keinen Ton mehr gespielt. Jetzt schwebten die Klänge durch das Haus, und je mehr Zeit verging, desto intensiver wurden sie. Lauter. Wütender. Ich hatte mein Notizbuch nicht zur Hand, also nutzte ich das Klavier, um meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Um sie aus mir herauszuschneiden, sie fortzuspülen, ihnen irgendeine Form zu verleihen, damit ich sie verbannen konnte, statt sie weiter mit mir herumzuschleppen.
Ich wusste nicht, wie lange ich hier saß, mit geschlossenen Augen, während meine Finger wie von selbst über die Tasten flogen. Ich dachte nicht länger nach, verlor mich ganz in der zornigen, herzzerreißenden Melodie, bis nichts mehr von mir übrig war bis auf diese Musik.
Irgendwann fand ich einen Abschluss in einigen bittersüßen Noten, die in der Luft verklangen wie ein hauchzarter Duft, der schon bald nicht mehr wahrzunehmen war. Ich öffnete die Augen und starrte auf meine Hände hinab. Mein Herz pochte in einem schnellen, gleichmäßigen Rhythmus. Es tat noch immer weh, aber etwas hatte sich verändert. Als hätte ich tatsächlich einen Teil des Tumults in meinem Inneren in diese Melodie legen und loslassen können.
»Das war wunderschön.«
Ich drehte mich zu der vertrauten Stimme um. Stella saß auf der Armlehne eines Sofas und betrachtete mich mit feucht schimmernden Augen. Ich war so vertieft gewesen, dass ich nich
t bemerkt hatte, wie sie nach Hause gekommen war.
Sie seufzte tief. »Ich werde nie begreifen, warum du aufgehört hast zu spielen. Du hast so viel Talent.«
Ich wusste genau, wann und weshalb ich aufgehört hatte. Mit einem gebrochenen Handgelenk spielte es sich nun mal nicht besonders gut Klavier. Aber das war nur eine Ausrede gewesen.
»Ich wollte etwas Richtiges lernen. Wie Dad. Wie du«, flüsterte ich so leise, dass ich nicht mal sicher war, dass Stella mich gehört hatte.
Aber das hatte sie, denn sie stand auf und kam jetzt zu mir herüber.
»Du hättest alles werden können, was du willst, Callie …« In einer mütterlichen Geste legte sie mir die Hand auf die Schulter. »Dachtest du etwa … Dachtest du, du müsstest wegen deinem Vater Medizin studieren? Oder meinetwegen?«
Ich hatte es nie vor mir selbst zugegeben, hatte es mir nie eingestehen wollen, weil ich zu entschlossen gewesen war, es durchzuziehen und meine Ziele zu erreichen. Völlig egal, ob es mir Spaß machte und ich Erfüllung in diesem Job finden würde oder nicht. Erst als Keith mir meine wahren Beweggründe vor die Füße geworfen hatte, war mir bewusstgeworden, was ich da eigentlich tat. Ich hatte mich nicht nur an meine Wut und meinen Hass Keith gegenüber geklammert. Ich hatte mich an die Vergangenheit in all ihren Facetten geklammert und alles getan, um sie mit in die Gegenwart zu nehmen.
»Dad hat das nicht so gesehen«, murmelte ich. Es war eine unserer letzten Diskussionen gewesen, bevor er gestorben war. Er hatte Holly und mich immer unterstützt, aber nachdem ich einmal den Wunsch geäußert hatte, Musik schreiben zu wollen, hatte er mich beiseitegenommen und mir erklärt, wie schwierig dieses Business war und dass ich sehr viel Zeit und Energie hineinstecken müsste, um eine Chance zu haben. Vielleicht hatte ich den Traum bereits in jenem Moment aufgegeben, vielleicht erst nach dem Unfall. Im Grunde spielte es keine Rolle. »Wie kann ich an mich glauben, wenn er es nicht getan hat?«
Stella legte die Arme um mich und drückte mich an sich, dann setzte sie sich neben mich auf die Bank. »Du weißt, dass er es nicht so gemeint hat, oder?« Als sie die Antwort darauf in meinen Augen sah, seufzte sie. »Oh, Liebes … Ein Vater oder eine Mutter zu sein ist schwierig. Vom Moment der Geburt an hast du Angst um dein Kind und möchtest es vor allem Bösen auf der Welt beschützen. Gleichzeitig möchtest du es aber auch unterstützen und dazu ermutigen, all seine Träume zu verwirklichen. Ich bin sicher, dass dein Vater damit nicht sagen wollte, dass er nicht an dich und dein Talent glaubt. Er hat sich um dich gesorgt und versucht, dich zu beschützen. Aber denk niemals, er hätte kein Vertrauen in dich gehabt, denn das hatte er. Er war so stolz auf Holly und dich, dass er fast nur von euch gesprochen hat. Sogar bei unserem ersten Date damals.«
Ich lächelte, gleichzeitig schnürte sich mir die Kehle zu. »Warum hat er es dann getan?«, brachte ich hervor. »Wenn er so stolz auf uns war, so glücklich mit uns, warum hat er dann Medikamente geschluckt?«
Im ersten Moment wirkte Stella überrascht, geradezu verwirrt, dann fiel ihr Blick auf die braune Aktenmappe auf dem Klavier … und sie verstand.
»Du hast davon gewusst, oder?«, flüsterte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Er hat es auch vor mir geheim gehalten. Ich bin sicher, er wollte nicht, dass wir uns Sorgen machen.« Behutsam strich sie mir eine Haarsträhne hinters Ohr. »Ich habe es erst nach dem Unfall herausgefunden. Als du und Keith im Krankenhaus wart und ich Holly zu ihrer Freundin gebracht hatte, bin ich hier zusammengebrochen.« Sie lachte, aber es lag keine Freude darin. Nur Trauer und eine unterschwellige Bitterkeit. »Ich wusste nicht, was ich tun sollte, war völlig außer mir. Ich bin durch die Zimmer gestürmt, habe ein riesiges Chaos veranstaltet und dann habe ich sie gefunden. Lauter leere Verpackungen in seinem Büro. Ich war mir sicher, dass es dafür eine gute Erklärung geben musste, dass er niemals Medikamente missbrauchen würde und habe weitergesucht, weil ich es nicht wahrhaben wollte. Dein Vater litt unter Schlafstörungen und Angstzuständen, Liebes. Er hat es für sich behalten, hat es so gut überspielt, wie er konnte, sodass nicht mal ich etwas davon mitbekommen habe. Für mich war es normal, dass er so lange gearbeitet hat und morgens so früh schon wieder aufgestanden ist. Ich dachte immer … ich dachte, er braucht einfach nicht viel Schlaf.«
Diesmal war ich es, die sie in die Arme zog. Stella lachte und weinte gleichzeitig in meinen Armen, was nur dazu führte, dass ich sie fester an mich drückte. Ich wünschte, ich hätte tröstende Worte für sie gehabt. Irgendetwas, das ich sagen konnte, um den Schmerz zu lindern, aber dafür war mein eigener Schmerz noch zu frisch.
»Es ist okay«, wisperte sie und löste sich von mir. Mit den Fingerknöcheln wischte sie sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Er hatte Probleme, aber das bedeutet nicht, dass er uns weniger geliebt hat. Dein Vater war ein großartiger Mann, Callie, und er hat so fest an euch geglaubt, dass ich mir wünsche, Holly und du tut das, was das Richtige für euch ist. Denn genau das hätte er gewollt. Dass ihr all eure Träume verwirklicht.« Sie griff nach meinen Händen und drückte sie sanft.
»Was hat das zu bedeuten …?«
Ich drehte mich um und sah Holly im Durchgang zum Wohnzimmer stehen. Ihr Blick wanderte zwischen Stella und mir hin und her. Sekundenlang, als würde sie genau wie ich zuvor die Puzzleteile eines Bildes zusammensetzen, das sie niemals hätte sehen sollen. Ihre Tasche fiel zu Boden und sie schlug sich die Hand vor den Mund. Tränen schimmerten in ihren Augen.
»Er war es, oder …? Dad saß damals am Steuer, nicht wahr?«, flüsterte sie erstickt.
Am liebsten hätte ich ihr die Wahrheit vorenthalten, um nicht diesen Schmerz in ihrem Gesicht zu sehen, aber sie musste es wissen. Wir mussten uns alle der Wahrheit stellen. Also nickte ich stumm.
»Oh Gott …« Holly fiel auf die Knie. »Sag, dass das nicht wahr ist, Callie. Sag, dass er nicht … dass er nicht Medikamente geschluckt und …«
Ich sprang auf und eilte an ihre Seite. Sie wehrte sich gegen meine Umarmung, kämpfte gegen mich an, als müsste sie ein Ziel für ihren Schmerz und ihr Entsetzen finden. Für ihren Zorn. Ihre Finger krallten sich in meine Arme, versuchten mich wegzuschieben, doch irgendwann gab sie auf. Sie sackte in sich zusammen und ich drückte sie nur noch fester an mich, während wir beide auf dem Boden saßen.
»Wovon redest du da?« Auch Stella war aufgesprungen und wirkte plötzlich leichenblass.
Die zwei so zu sehen zerriss mir das Herz, von dem ich am Friedhof noch geglaubt hatte, es wieder zusammensetzen zu können. Ich blinzelte gegen meine eigenen Tränen an – und erzählte es. Alles, was ich erfahren, was ich mir selbst zusammengereimt und was meine Albträume mir die ganze Zeit über deutlich hatten machen wollen. Ich sprach die Worte nicht für mich und auch nicht für Dad aus, sondern für die beiden. Für Keith.
»Dad saß am Steuer, als der Wagen verunglückt ist.« Meine Stimme klang heiser und fremd, aber ich zwang mich dazu, weiter zu reden. »Er und Keith haben die Plätze getauscht. Es gab nie ein Reh oder irgendetwas anderes, das den Wagen dazu gebracht hat, von der Straße abzukommen. Nur …«
Nur Dad.
Ich schloss die Augen, kniff die Lider zusammen in der Hoffnung, die Welt wäre eine andere, wenn ich sie wieder öffnete. Aber sie blieb dieselbe.
»Callie …«
Ich spürte eine Berührung an meiner Schulter und hob den Kopf. Stella hatte sich zu uns gekniet und schloss uns jetzt beide in eine Umarmung. So fest, als würde sie uns nicht nur trösten, sondern als bräuchte sie selbst den Halt.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis wir uns wieder voneinander lösten. Bis die Tränen wieder getrocknet waren. Ich sah den inneren Kampf in Hollys Blick. Sie wehrte sich gegen das gerade Gehörte, weigerte sich, es anzunehmen, aber früher oder später würde sie es tun. Es war die einzige Möglichkeit, wie wir weitermachen konnten. Wie wir diese Sache ein für alle Mal hinter uns lassen konnten.
Stella streichelte Holly, die sich an sie gelehnt hatte, tröstend über die Schulter. Als sich unsere Blicke trafen, lag ein zittriges Lächeln auf ihren Lippen
. Stumm legte sie ihre Hand an meine Wange.
»Fahr zu ihm.«
22
»Du hast gelogen.«
Keith starrte mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Und vielleicht hatte ich das auch, denn es waren die ersten Worte, die ich zu ihm sagte, nachdem er die Tür geöffnet hatte. In einem zerknitterten T-Shirt, tiefsitzenden Shorts und mit verwuschelten Haaren, die ich nur zu gern mit den Händen wieder in Ordnung gebracht hätte, wirkte Keith so, als wäre er gerade erst aufgestanden. Dabei war es bereits Nachmittag, und die tiefen Augenringe deuteten nicht auf viel Schlaf hin.
»Du hast gelogen«, wiederholte ich. »Du hast nicht nur mir, sondern auch der ganzen Welt etwas vorgemacht.«
Keith wandte den Blick ab und rieb sich über das Gesicht. »Ich habe keine Ahnung, wovon du da redest.«
»Kann ich reinkommen?« Mein Herz hämmerte bei dieser Frage mehr als in dem Moment, in dem ich an seine Wohnungstür geklopft hatte. Oder als er mir geöffnet hatte. Denn diese Frage war es, die alles entscheiden würde. Ich hatte mich ihm gegenüber furchtbar verhalten, hatte ihn von mir gestoßen, obwohl er recht gehabt hatte. Aber die Wahrheit tat weh, das wusste ich jetzt. Sie zu leugnen oder zu verdrängen, war wie eine kurze Atempause, aber sie brachte keinen Frieden.
Sekundenlang sah er mich nur an, betrachtete mich in meiner abgewetzten Erscheinung mit der kurzen Jeans, dem grauen Tanktop und der lila karierten Bluse, die ich offen darüber trug. Sein Blick wanderte über die Kratzer an meinen Armen und Beinen, als ich den Abhang hinuntergerannt und mich wieder hochgekämpft hatte. Zum Schluss musterte er mein Gesicht. Ich musste nicht in einen Spiegel sehen, um zu wissen, welchen Anblick ich gerade abgab. Rot geränderte Augen, verschmiertes Mascara. Es gab Schlimmeres, und Keith hatte mich bereits in ganz anderen Situationen gesehen.
Wortlos machte er einen Schritt zur Seite. Erleichterung brach über mir herein und machte es mir für einen Moment unmöglich, mich zu bewegen. Ich konnte Keith nur anstarren, während sich Dankbarkeit in mir regte. Mit dieser simplen Geste hatte er etwas getan, wozu ich jahrelang nicht in der Lage gewesen war: Er gab mir eine zweite Chance.
Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us Page 35