Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us

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Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us Page 34

by Iosivoni, Bianca


  Als ich den Grabstein erreichte, den ich das letzte Mal vor sieben Jahren gesehen hatte, hatte ich das Gefühl, kaum noch atmen zu können. Ich musste nur den eingravierten Namen lesen und mir verschwamm die Sicht vor Augen, noch bevor ich das Geburts- und Sterbedatum lesen konnte.

  »Hallo, Dad«, wisperte ich. »Entschuldige, dass ich dich so lange nicht besucht habe.«

  Ich betrachtete den schlichten Grabstein. Er sah nicht mehr so neu aus wie damals. Die Zeit hatte ebenso ihre Spuren hinterlassen wie Wind und Wetter, was nicht weiter ungewöhnlich war. Das Ungewöhnliche waren die frischen Blumen vor dem Grab. Sie leuchteten in strahlendem Rot. Dads Lieblingsfarbe.

  Stella, schoss es mir sofort durch den Kopf. Wahrscheinlich kam sie regelmäßig hierher und brachte Dad Blumen mit. Und ich war mit leeren Händen gekommen. Verärgert über mich selbst, wischte ich mir über die Augen und atmete tief ein. Inzwischen hatte sich eine drückende Wärme in die feuchte Luft gemischt, was das Gewicht auf meiner Brust nur noch verstärkte.

  Bisher hatte ich es immer lächerlich gefunden, wenn Leute im Fernsehen vor irgendwelchen Gräbern standen und tatsächlich anfingen, mit den Verstorbenen zu reden. Als ob sie uns hören und irgendwelche Ratschläge geben könnten. Das konnten sie nicht. Tot war tot. Und nach einer Weile war nichts mehr von ihnen übrig außer Erde. Das da in diesem Grab war nicht mehr mein Dad. Trotzdem kam mir die Stille um mich herum unerträglich vor. Ich war allein auf dem Friedhof. Allein, bis auf ein paar zwitschernde Vögel in den Bäumen.

  »Ich wünschte, ich wäre früher hergekommen«, brachte ich leise hervor und zwang mich dazu, den Namen im Stein wieder anzusehen. Mich den Tatsachen zu stellen. »Ich wünschte, ich wäre überhaupt jemals hergekommen. Den Preis für die Tochter des Jahres kann ich mir wohl abschminken.«

  Ein warmer Windhauch strich über mein Gesicht und kündigte einen weiteren sommerlich heißen Tag an.

  »Letzte Nacht habe ich von dir geträumt … wie eigentlich fast jede Nacht, seit ich wieder in der Stadt bin.« Ich schloss die Augen und schnaubte leise, weil das nicht die ganze Wahrheit war. »Und seit Keith zurück ist. Wieder mal hat er mein Leben völlig auf den Kopf gestellt, aber das ist sicher nichts Neues für dich, oder? Ich glaube, du warst der Einzige, der damals gemerkt hat, wie ich für ihn geschwärmt habe.« Ich lachte lautlos und wischte mir über die Wangen.

  Dad hatte mich immer mit diesem nachsichtigen, gütigen Blick betrachtet, wenn wir von meinem Stiefbruder sprachen. Früher hatte ich es nie bemerkt, aber nun, da so viele Erinnerungen wieder an die Oberfläche kamen, war ich mir sicher, dass er es geahnt hatte. Und er hatte mich ernst genommen, hatte sich nie lustig über mich gemacht oder mich beiseitegenommen, um mir zu sagen, es wäre nur eine Phase oder dergleichen. Dad war immer für mich da gewesen. Und ich? Ich hatte es nicht über mich gebracht, sein Grab auch nur ein einziges Mal zu besuchen.

  »All die Jahre habe ich Keith die Schuld daran gegeben, was dir zugestoßen ist, dabei war ich diejenige, die dir ständig damit in den Ohren gelegen hat, ihm Fahrunterricht zu geben. Ich wollte so sehr etwas für ihn tun und mit ihm unternehmen, dass ich …« Meine Stimme brach. »Es tut mir so leid, Dad«, flüsterte ich. »Das wollte ich nicht. Wenn ich gewusst hätte, was passieren würde …«

  Meine Knie gaben nach und ich sank zu Boden. Die kurzen Grashalme kitzelten an meiner Haut, aber das nahm ich nur am Rande wahr. Mein Blick war auf den Grabstein geheftet, auch wenn meine Sicht immer wieder verschwamm, bis ich die Inschrift kaum noch lesen konnte.

  »Ich würde alles dafür geben, es rückgängig machen zu können. Du fehlst mir so sehr, Dad …«

  Ich grub die Finger in die feuchte Erde, weil ich irgendeinen Halt brauchte. Heiße Tränen tropften auf meine Hände, aber es war mir egal. Ich wehrte mich nicht länger gegen den Schmerz. Wer auch immer behauptet hatte, die Zeit würde alle Wunden heilen, war ein verdammter Lügner. Manche Wunden heilten nie. Und vielleicht sollten sie das auch nicht. Vielleicht brauchten wir den Schmerz, um uns daran zu erinnern, wie wichtig uns die Menschen gewesen waren, die wir verloren hatten.

  Warum hatte es so lange gedauert, bis ich hierhergekommen war? Warum hatte ich geglaubt, alles zu verdrängen und zu vergessen wäre der richtige Weg gewesen? Ich hatte nicht nur Keith aus meinem Gedächtnis verbannt, sondern auch meinen Vater. All die schönen und die traurigen Erinnerungen. Jeden Moment, in dem er mich in den Arm genommen hatte, um mich zu loben, mich zu trösten, mich zu beruhigen oder mir nach einem Streit zu sagen, dass er mich lieb hatte. Und ich hatte all das weggeworfen, weil ich zu große Angst davor gehabt hatte, mich damit auseinanderzusetzen. Den Schmerz zuzulassen. Mom zu verlieren hatte mir das Herz gebrochen, aber Dad nur wenige Jahre später ebenfalls beerdigen zu müssen? Das hatte ich nicht ausgehalten. Ich wusste nicht, wie das gehen sollte. Und es war so viel einfacher gewesen, alles zu vergessen und zu vergraben … Bis mit Keiths Rückkehr so viele verschüttete Erinnerungen an die Oberfläche gekommen waren, dass ich einsehen musste, dass ich ihnen nicht entkommen konnte. Und es vielleicht auch nicht wollte. Nicht mehr.

  Dad hatte Keith wie seinen eigenen Sohn geliebt. Ich hatte es gesehen in der Art, wie er sich darum bemüht hatte, sein Vertrauen zu gewinnen. Wie er sich ärgerte, wenn Keith Mist gebaut oder Probleme in der Schule hatte. Und wie er ihm auf die Schulter klopfte, wenn er stolz auf ihn war. Vielleicht wäre Dad tatsächlich von mir enttäuscht, wenn er heute hier wäre, aber er wäre verdammt stolz auf Keith und Holly. Darauf, dass die beide ihre Träume verwirklichten. Und auf Stella, dass sie ihr Leben weiterlebte und glücklich war. Wie hatten sie loslassen und weitermachen können, während ich mich so sehr an die Vergangenheit geklammert hatte, dass ich mich im Laufe der Zeit selbst verloren hatte?

  Keith hatte recht. Ich studierte nur Medizin, weil ich dadurch das Gefühl hatte, etwas zu tun, das meinen Vater stolz gemacht hätte. Ich hörte die Lieder, die Mom und er geliebt hatten, weil sie mir dadurch näher zu sein schienen, obwohl sie mich schon lange verlassen hatten. Und ich konnte mich auf keine ernsthafte Beziehung einlassen, weil ich zu große Angst davor hatte, wieder jemanden zu verlieren, der mir die Welt bedeutete.

  »Ich liebe ihn, Dad …« Halb lachend, halb schluchzend wischte ich mir über die Wangen. Es auszusprechen hatte etwas Befreiendes, als würde jemand all das Gewicht von mir nehmen, das bis zu diesem Zeitpunkt auf meinen Schultern und meiner Brust gelegen hatte. »Kannst du das glauben? Wobei … vielleicht hast du es schon immer gewusst. Ich wünschte nur, du wärst hier und könntest mir sagen, was ich tun soll. Ich wünschte, du wärst da gewesen …«

  Bei all den großen und kleinen Ereignissen. Dem Tag, an dem ich die Highschool abgeschlossen hatte. An dem ich endlich meinen Führerschein gemacht hatte. Beim gemeinsamen Familiendinner, lachend und scherzend, wie er es früher immer getan hatte. Es gab so viel, was er verpasst hatte. Nicht nur in meinem, sondern auch in Hollys Leben – und in Keiths. Ich hatte mir nie erlaubt, darüber nachzudenken, doch jetzt spürte ich umso deutlicher, wie sehr mein Vater mir fehlte. Und es würde noch so viele Dinge geben, bei denen er nicht dabei sein würde. Er würde Holly nicht vor ihrer großen Reise verabschieden können, würde keine von uns jemals zum Altar führen und nie seine Enkelkinder kennenlernen.

  Ein Teil von mir war wütend. Wütend auf ihn, weil er all das versäumen würde, weil er nicht da war, wenn ich ihn brauchte. Wütend auf das Schicksal und den Tod, die ihn viel zu früh aus dem Leben gerissen hatte. Wütend auf Keith und auf mich selbst. Es tat noch immer weh und ich wusste, dass es für immer wehtun würde. Aber auf einmal war da auch etwas anderes, das zuvor nicht da gewesen war. Erleichterung. Ein Funke Hoffnung. Als könnte ich einen Teil meines Zorns und meines Schmerzes hier zurücklassen, weil ich endlich den Mut aufgebracht hatte, hierherzukommen und mir all die Dinge einzugestehen, die ich jahrelang unterdrückt hatte.

  Mittlerweile hatte sich ein unangenehmes Pochen in meinen Schläfen festgesetzt. Meine Augen brannten, meine Wimpern waren vor Tränen und Mascara ganz verklebt. Und ich hatte nicht mal daran gedacht, ein Taschentuch mit
zunehmen. Ich war ohne Frühstück, ohne einen Kaffee zu trinken und ohne nachzudenken aus dem Haus gegangen, hatte mich in Hollys Wagen gesetzt und war hierhergefahren. Und jetzt schien es, als würden mein Leben und meine gesamte Gefühlswelt in Scherben um mich herum verteilt sein und es lag an mir, all das wieder zusammenzusetzen. Richtig diesmal. Ohne all diese Wut in mir und ohne zu verdrängen.

  Ich atmete tief durch und machte mich an die Arbeit.

  Die Sonne wanderte weiter, stieg höher, während ich noch immer vor dem Grab meines Vaters saß. Vielleicht war es lächerlich, vielleicht war es dumm, aber ich erzählte ihm von allem, was er verpasst hatte. Und sieben Jahre sorgten für eine ziemlich lange Story.

  »Da bist du ja.«

  Die tiefe Stimme hinter mir ließ mich zusammenzucken. Hastig sprang ich auf die Beine und drehte mich um. Braden stand nur wenige Schritte von mir entfernt im Gras und hielt mir ein Taschentuch entgegen, als hätte er genau gewusst, dass ich gerade dringend eins brauchte. Ich lächelte gequält, als er näherkam und es mir behutsam in die Hand drückte.

  »Danke«, brachte ich heiser hervor. »Woher wusstest du, dass ich hier bin?« Ich merkte nicht einmal, dass ich die Frage laut ausgesprochen hatte, bis Braden darauf antwortete.

  »Holly«, erwiderte er nur. »Nachdem du nicht ans Handy gegangen bist, hat sie sich Sorgen gemacht und mich gebeten, nach dir Ausschau zu halten. Außerdem wollte ich dir das hier geben.« Er hielt mir eine schlichte braune Aktenmappe hin, die mir bis eben nicht aufgefallen war. »Um ehrlich zu sein hatte ich mich schon gefragt, wann du mich darum bitten würdest.«

  Ich streckte die Hand danach aus, hielt jedoch inne, während meine Finger noch darüber schwebten. »Darfst du das überhaupt? Oder kriegst du meinetwegen Ärger?«

  »Nicht, wenn ich sie wieder zurückbringe, bevor jemand bemerkt, dass sie fehlt.« Als ich nicht darauf reagierte, seufzte er tief und schüttelte den Kopf, als könnte er selbst nicht fassen, was er als Nächstes zugeben würde. »Sagen wir, ich tue es nicht nur für dich, sondern auch für Holly.«

  »Du magst sie wirklich, was?«

  Er nickte knapp.

  Das reichte mir. Ich nahm die Akte, öffnete sie aber nicht sofort.

  »Sieh es dir in Ruhe an«, riet Braden, als würde er mein Zögern spüren. »Ich habe ein paar Kontakte spielen lassen, um an die Berichte aus dem Krankenhaus zu kommen. Du findest sie ebenfalls da drin.«

  Ich drückte die Aktenmappe so fest an meine Brust, als wäre sie etwas Kostbares, das ich beschützen musste. Vielleicht war aber auch ich diejenige, die beschützt werden musste. Vor der Wahrheit, ganz egal, wie sie aussehen würde.

  »Wie kann ich mich je dafür revanchieren?«

  Braden lächelte. »Ich hab so das Gefühl, dass du eines Tages ein gutes Wort für mich bei deiner kleinen Schwester einlegen musst. Oder sie davon abhalten wirst, meine Leiche zu verscharren.«

  Ich starrte Braden mit hochgezogenen Brauen an, dann tat ich etwas, das ich nie für möglich gehalten hätte. Mitten auf diesem Friedhof lachte ich leise auf. Und es fühlte sich gut an. Befreiend. Als hätte jemand eine Last von mir genommen, von der ich nicht einmal gewusst hatte, dass ich sie trug, weil sie mich schon so lange begleitet hatte. Doch jetzt, da sie fort war, wurde mir leichter ums Herz.

  »Einverstanden.« Erleichtert schlug ich in seine Hand ein und schüttelte sie.

  Als ich Anfang des Sommers zurückgekommen war, hatte ich dies ohne irgendwelche Erwartungen getan. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, neben meinen Erinnerungen auch einen guten Freund in meiner Heimatstadt zu finden. In den letzten Wochen waren all die Dinge, die mich von hier fortgetrieben hatten, immer weiter in den Hintergrund gerückt, bis all das hervortreten konnte, was mich hier verwurzelte. All die Menschen, Dinge und Erinnerungen, die diesen Ort zu meinem Zuhause machten. Auch wenn ich schreckliche Erlebnisse damit verband, waren in den letzten anderthalb Monaten unendlich viele schöne hinzugekommen, die ich niemals vergessen würde. Genauso wenig wie ich je vergessen würde, was Braden für mich getan hatte.

  21

  Ich öffnete die Aktenmappe nicht auf dem Friedhof. Stattdessen sah ich Braden nach, als er ging, und blieb noch eine Weile bei Dad. Egal wie lächerlich es mir zuvor vorgekommen war, einmal damit angefangen, konnte ich nicht aufhören, mit ihm zu reden. Ihm von meinem Leben zu erzählen, meinen Gefühlen und allem, was er verpasst hatte.

  Erst als ich fast keine Stimme mehr hatte, dafür aber einen unbeschreiblichen Durst und völlig erledigt war, verabschiedete ich mich mit dem Versprechen, diesmal nicht so lange zu warten, bis ich wiederkam.

  Ich verließ den Friedhof nicht, wie ich hergekommen war. Angst und Anspannung waren aus mir gewichen. Jetzt hatte ich Kopfschmerzen von all den Tränen und fühlte mich erschöpft, aber auch wesentlich leichter. Ich legte die Akte auf den Beifahrersitz und startete den Motor.

  Eigentlich hatte ich vorgehabt, nach Hause zu fahren, doch mein Unterbewusstsein schien andere Pläne zu haben. Als ich erkannte, welche Route ich gewählt hatte, drehte sich mir kurzzeitig der Magen um. Für den Bruchteil einer Sekunde vermischte sich der Traum von letzter Nacht mit der Gegenwart und ich war wieder das dreizehnjährige Mädchen auf der Rückbank, das nicht die geringste Ahnung hatte, was gleich passieren würde.

  Ich hielt den Wagen am Straßenrand, stieg aber nicht aus. Die Sonne stand inzwischen hoch und strahlte vom wolkenlosen Himmel auf die Welt hinunter. Seit ich das letzte Mal hier gewesen war, hatte sich nichts verändert. Nicht die Bäume, nicht die geteerte Fahrbahn, nicht einmal der dumpfe Schmerz in meiner Brust. Doch jetzt kämpfte ich nicht länger dagegen an. Ich atmete tief durch und griff nach der Polizeiakte. Meine Finger zitterten, als ich sie aufschlug.

  Zuerst konnte ich mit den vielen Details nichts anfangen. Der Bericht enthielt Informationen zum Straßenverlauf, zur Oberflächenbeschaffenheit, Verkehrszeichen, den Licht- und Wetterverhältnissen. Es gab Kontrollkästchen für alles Mögliche, an das ich als Laie niemals gedacht hätte. Anscheinend war das Wetter gut gewesen und die Fahrbahn ohne nennenswerte Schäden, die einen solchen Unfall hätten verursachen können. Die Strecke ging geradeaus und es gab keinen ersichtlichen Grund, warum wir von der Straße abgekommen waren. Kein entgegenkommendes Auto, keine von Regen oder Eis rutschige Fahrbahn, kein aufgeplatzter Reifen. Nichts. Nur ein verdammtes Reh, das plötzlich vor uns aufgetaucht war. Nicht, dass ich mich daran erinnern könnte, aber es stand im Polizeibericht, war sogar in der Zeichnung des Unfallhergangs festgehalten und außerdem auch das, was Stella mir später erzählt hatte.

  Übelkeit breitete sich in mir aus, als ich weiterblätterte und auf die Fotos stieß. Es waren Bilder der Straße, des Abhangs und des zerstörten Autos. Der Brand hatte es vollkommen verkohlt und auf dem Boden rings darum herum konnte ich Glassplitter und Metallteile erkennen – und Blut. Bei diesem Anblick drehte sich mir der Magen um und ich musste die Augen schließen, um mich zusammenzureißen und nicht von meinen Gefühlen überwältigen zu lassen. Ein paar Sekunden später sah ich wieder hin, betrachtete die Fotos der Unfallstelle und blätterte mit zitternden Händen weiter.

  Polizei und Rettungskräfte waren rund zehn Minuten nach dem Unfall eingetroffen. Ich erinnerte mich nicht an sie, aber ich wusste noch, wie Keith mich festgehalten hatte, als ich zu Dad rennen wollte. Wie ich geschrien und um mich geschlagen hatte, um von ihm loszukommen. Aber wie war ich überhaupt erst dorthin gekommen? Hatte mich der Aufprall aus dem Wagen geschleudert? War ich allein herausgeklettert? Oder hatte Keith mich rausgeholt?

  Das Hämmern in meinem Kopf wurde stärker, je angestrengter ich darüber nachdachte und mich daran zu erinnern versuchte. Warum hatte Keith sich selbst aus dem Wrack befreien können, aber Dad nicht?

  Meine Brust wurde eng. Blind tastete ich nach dem Griff und öffnete die Tür. Die Luft im Auto war stickig und nicht auszuhalten. Sobald ich ausgestiegen war, atmete ich tief ein und wieder aus. Ein und aus. Die drückende Mittagshitze half nicht gegen meine aufsteigende Panik. Seit dem ersten Albtraum hatte mich das ständige Gef�
�hl begleitet, dass irgendetwas nicht stimmte. Dass irgendetwas falsch war. Entweder an meinen Erinnerungen oder daran, wie der Unfall abgelaufen war. Oder eher daran, was alle behaupteten, wie er passiert sei. Regionale Zeitungen und Nachrichtensendungen hatten es damals als tragischen Unfall eingestuft, während unter den Bewohnern der Stadt die wildesten Gerüchte ausgebrochen waren. Stella hatte uns so gut sie konnte davor beschützt, aber ich hatte dennoch genug mitbekommen, um jeden einzelnen Tag in der Highschool zu hassen.

  Ich hasste die Blicke, die man mir zuwarf, dem Mädchen, das ihren Vater auf so tragische Weise verloren hatte. Aber noch mehr hasste ich das Getuschel. Die Gerüchte. Die quälenden Fragen, was geschehen war und ob es tatsächlich wahr war. Ob Keith die Schuld an dem Unfall trug.

  Energisch schob ich diese Erinnerungen beiseite, schaute nach links und rechts, dann überquerte ich die Straße. Ich hätte genauso gut schlafwandeln können, da ich so gut wie nichts um mich herum wahrnahm. Da waren nur noch mein Tunnelblick und dieses eine Ziel. Ich schlitterte den Abhang hinunter, stolperte und hielt mich an einem Baumstamm fest, als ich unten ankam. Nicht jener, gegen den wir damals geprallt waren, dafür war er zu jung und dünn. Die Akte fest gegen meine Brust gepresst, lief ich weiter, bis ich die Stelle erreicht hatte. Vor meinem inneren Auge füllte sie sich mit Rauch in der Luft und Glassplitter auf dem Boden. Keith hielt mich wieder fest und redete auf mich ein, aber ich verstand kaum etwas von dem, was er sagte. Ich sah nur Dad in diesem brennenden Wagen und hätte alles dafür getan, zu ihm zu gelangen. Irgendwann ließ Keith mich los und rannte selbst zum Auto.

  Moment mal. Ich blinzelte überrascht. Wo kam das auf einmal her? War es damals wirklich so abgelaufen oder ging meine Fantasie gerade mit mir durch?

 

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