Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us

Home > Other > Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us > Page 33
Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us Page 33

by Iosivoni, Bianca


  »Bullshit«, fiel er mir ins Wort. »Du tust nur das, was du am besten kannst. Du läufst weg.«

  »Wie bitte? Ich laufe weg?« Fassungslos starrte ich ihn an. Dann fiel jede Form von Zurückhaltung von mir ab. Mit einem Mal stand ich direkt vor Keith und bohrte meinen Zeigefinger so hart in seine Brust, dass ein scharfer Schmerz durch meine Knöchel schoss. »Wer ist denn damals abgehauen, ohne ein Wort zu sagen? Wer hat sich bis vor ein paar Wochen nie wieder blicken lassen? Wenn jemand weggelaufen ist, dann bist du das.«

  Er schüttelte den Kopf und wirkte dabei fast so störrisch wie der Teenager, an den ich mich wieder viel zu gut erinnern konnte. »Das war etwas anderes.«

  »Klar. Damals ist auch nur mein Vater gestorben und ich lag mit einer Gehirnerschütterung und einer verfickten Amnesie im Krankenhaus. Kein Grund, zu bleiben oder mir irgendeine Erklärung zu geben.«

  Wie sehr hatte ich mir damals gewünscht, dass er mich in den Arm nahm. Dass er mich so fest an sich drückte, bis ich vergaß, was geschehen war. Ich hatte ihn gleichzeitig gehasst und geliebt, aber am meisten hatte ich mir seine Nähe gewünscht. Die Nähe des einzigen Menschen, der beim Unfall dabei gewesen war. Der wusste, was passiert und wie Dad ums Leben gekommen war. Der einzige Mensch, der mir dabei hätte helfen können, es zu begreifen und irgendwie damit abzuschließen.

  Aber Keith hatte mir nichts davon gegeben. Kein tröstendes Wort. Keine Umarmung. Gar nichts. Nur die Schuld in seinen Augen, bevor er sich umgedreht hatte und genauso aus meinem Leben verschwunden war wie mein Vater.

  »Callie …« Er hob die Hand, als wollte er sie an meine Wange legen.

  »Nein.« Ich stieß sie beiseite und wich vor ihm zurück. »Du begreifst es wirklich nicht, oder? An diesem Tag habe ich nicht nur Dad verloren, sondern auch dich. Und jetzt wagst du es wirklich, hier zu stehen und zu behaupten, ich wäre weggelaufen? Wie kannst du nur? Wie kannst du morgens überhaupt in den Spiegel schauen?«

  Er zuckte zusammen, als hätte ich ihn geschlagen. Zunächst schien es, als wollte er etwas darauf erwidern, als wollte er sich verteidigen und sein Verhalten erklären, aber dann schloss er den Mund wieder und schwieg. Ein Muskel trat in seinem Kiefer hervor und seine Hände ballten sich zu Fäusten, aber er gab keinen Ton von sich.

  Natürlich nicht. Was hatte ich auch anderes erwartet?

  »Das ist alles, was du dazu zu sagen hast?« Ein beißender Zynismus schlich sich in meine Stimme. In den letzten Wochen hatte ich jeden Gedanken an den Unfall und jeden neuen Albtraum beiseitegeschoben, bis mich beides wieder eingeholt und aus meiner Seifenblase gerissen hatte. Es gab keine Sicherheit, keine regenbogenfarbenen Wattewolken und keine rosarote Brille. Nur Schmerz und Hass und ein anderes Gefühl, das so viel tiefer ging und so sehr wehtat, dass ich kaum Luft bekam. Wenn das die Liebe war, von der Keith glaubte, sie zu empfinden, dann wollte ich sie nicht. Ich hatte schon genug Schmerz in meinem Leben durchgestanden, da musste ich keinen weiteren hinzufügen.

  Kopfschüttelnd drehte ich mich weg, bereit, ihn stehen zu lassen und mich in meinem Zimmer einzuschließen, bis der Morgen kam. Natürlich machte Keith es mir nicht so leicht. Er hatte es mir nie leichtgemacht.

  Bevor ich mich auch nur einen Schritt von ihm entfernen konnte, packte er mein Handgelenk und hielt mich fest.

  »Du hast keine Ahnung, was damals wirklich passiert ist«, brachte er mühsam beherrscht hervor.

  »Natürlich nicht. Du hast mir ja nie die Wahrheit erzählt.«

  Fluchend ließ er mich los und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Darum geht es doch gar nicht. Deswegen bin ich nicht hergekommen.«

  Ich wusste, warum er hier war. Diese drei Worte waren wie ein verdammter Ohrwurm, den ich nicht mehr loswurde, seit er sie ausgesprochen hatte. Aber ich würde einen Teufel tun und zulassen, dass er sie noch einmal sagte. Allein beim Gedanken daran brach ich in Panik aus.

  »Ich will nicht darüber reden.«

  Keith lachte. Er lachte! Tief und höhnisch und so kalt, dass sich unweigerlich alles in mir zusammenzog.

  »Ach nein? Gut, dann lass uns über etwas anderes reden«, schleuderte er mir entgegen. »Wie wär’s mit dem College? Denkst du, ich weiß nicht, warum du nicht gern über dein Studium sprichst? Warum du von allen Studiengängen dieser Welt ausgerechnet Medizin gewählt hast? Oder warum du dich durchquälst, obwohl du jede einzelne Sekunde davon hasst?«

  »Was soll das?«, flüsterte ich. »Wieso tust du das?«

  »Weil es niemand sonst tut. Sie alle schauen dir dabei zu, wie du dich abrackerst und lassen sich von deinem Lächeln beschwichtigen, dass alles in Ordnung ist. Aber ich weiß, dass es nicht so ist. Ich habe dich gesehen, Callie. Ich weiß, wie du aussiehst, wenn du für etwas brennst, so wie für die Musik. Wenn du dich für etwas begeisterst, selbst wenn es nur die Möbel sind, die wir in der Werkstatt herstellen, oder wenn du deiner besten Freundin ein Geburtstagsgeschenk machen kannst, das sie zu Tränen rührt. Und ich erkenne nichts davon, wenn es um dein Studium geht. Du machst dir selbst und der ganzen Welt etwas vor. Und das Schlimmste an der Sache? Du weißt es sogar, tust es aber trotzdem.«

  Übelkeit breitete sich in mir aus. Nicht auf die sanfte, langsame Weise, bei der sich die Leute eine Hand auf den Magen legten und hilflos murmelten, dass ihnen gerade schlecht wurde. Nein. Mein Magen krampfte sich zusammen und ich konnte den bitteren Geschmack von Galle bereits auf meiner Zunge fühlen. Ich schluckte hart und zwang mich dazu, ruhig zu atmen. Es gab keinen Grund, jetzt auszuflippen. Absolut keinen … Zum Teufel damit!

  »Du hast recht.« Mein Geständnis schien Keith zu überraschen, denn er starrte mich an, als könnte er seinen eigenen Ohren nicht trauen. »Ich hasse so gut wie jedes meiner Seminare und bei der Vorstellung, eines Tages als Ärztin zu arbeiten, die über Leben und Tod zu entscheiden hat, breche ich in Panik aus. Wolltest du das von mir hören? Bist du jetzt glücklich?«

  Mit jedem Wort war ich lauter geworden, als würde ich all das nicht nur Keith vor die Füße werfen, sondern auch mir selbst. Zwei Jahre Lügen. Zwei Jahre unterdrückte und aufgestaute Emotionen, die jetzt aus mir herausbrachen. Der letzte Riss in meinem Herzen hatte Wirkung gezeigt. Keith hatte es geschafft. Ich konnte nicht mehr. Konnte mich nicht mehr beherrschen und erst recht nicht mehr dieses angeschlagene bandagierte Etwas in meiner Brust zusammenhalten.

  »Warum tust du es dann?« Seine Stimme war weicher geworden, beinahe warm.

  Ich schüttelte den Kopf, unfähig dazu, noch etwas zu sagen, ohne dass ich erneut in Tränen ausbrach. Gott, ich hatte echt genug davon. Ich würde jederzeit einen Kater am Morgen einem Heulkrampf vorziehen. Da hatte man zuvor wenigstens eine lustige Nacht verbracht, statt eine zweite Sintflut auf die Welt loszulassen.

  »Callie …« Keith machte einen Schritt auf mich zu. »Lass uns in Ruhe darüber reden. Ich weiß, was Stella gesagt hat, aber sie irrt sich. Es ist mir scheißegal, was die Leute denken und mit wem ich es hier aufnehmen muss. Ich bin nicht wegen ihnen zurückgekommen, sondern wegen dir, Holly und Mom. Und die letzten Wochen mit dir waren, verdammt noch mal, die besten Wochen meines Lebens. Ich weiß, dass es dir genauso geht. Ich habe es gesehen. Du kannst dir noch so oft einreden, dass du nichts für mich empfindest, aber ich weiß, dass es nicht wahr ist.«

  »Ich bin auf seiner Seite«, ertönte eine allzu bekannte Stimme vom Flur her.

  »Holly!?« Ich starrte sie entgeistert an, wie sie in ihren Schlafsachen mit müden kleinen Augen da stand, die Hand auf der Brust, als würde sie vor Rührung gleich dahinschmelzen.

  »Was denn? In allen Büchern und Filmen bin ich auch immer auf der Seite des Kerls, der um seine Frau kämpft.« Sie kräuselte die Nase. Anscheinend war ihr gerade ein neuer Gedanke gekommen. »Außer der Kerl hat sich wie ein Arschloch verhalten. Hast du dich wie ein Arschloch verhalten?«, wandte sie sich an Keith.

  Der ließ mich keine Sekunde aus den Augen. »Das musst du schon deine Schwester fragen.«

  Sofort spürte ich Hollys Blick auf mir, nicht neugierig, sondern so hoffnungsvoll und bittend, dass
ich gar nicht anders konnte, als ihr die Wahrheit zu sagen.

  »Nicht mehr als sonst«, gab ich widerwillig zu.

  »Seht ihr?« Sie deutete mit dem Finger zwischen uns hin und her. »Dann bin ich Team Keith.«

  Wäre ich nicht so fertig mit den Nerven, hätte ich vielleicht über diese Bezeichnung lachen können. So reichte es gerade mal für ein gequältes Lächeln.

  »Bist du fertig oder willst du dir noch Popcorn holen und uns weiter zusehen?«

  Sie machte große Augen. »Darf ich? Ich vergebe auch Punkte für die besseren Argumente.«

  »Holly …«, kam es diesmal von Keith und mir gleichzeitig.

  Sie seufzte. »Ihr seid echte Spielverderber. Na gut, dann gehe ich eben wieder ins Bett. Diskutiert ruhig weiter. Aber ich bin immer noch für Team Keith!« Damit verschwand sie im Flur und kurz darauf hörten wir, wie ihre Zimmertür im ersten Stock auf- und wieder zuging.

  Schweigen legte sich über uns. Ich schloss die Augen und atmete tief durch, versuchte irgendwo die Kraft für die nächste Runde zu finden. Denn nach all den Anrufen und Nachrichten der letzten Tage glaubte ich nicht, dass Keith so schnell aufgeben würde. Ich wünschte nur, es würde nicht so wehtun. Schon im selben Raum mit ihm zu sein war wie ein Messer, das man mir immer wieder in die Brust bohrte.

  »Ich liebe dich.«

  Jeder Muskel in meinem Körper verkrampfte sich. Ich zwang mich dazu, die Augen aufzuschlagen und ihn anzusehen. Schlimmer als die Worte war die Ehrlichkeit, die in seinem Blick lag. Die Verzweiflung.

  »Ich weiß, dass du das nicht hören willst, aber ich werde es dir wieder und wieder sagen, bis du mir glaubst. Bis du deine ganzen verdammten Zweifel und Ängste beiseiteschiebst und dich darauf einlässt. Auf mich. Das zwischen uns ist echt und irgendwo tief in deinem Dickschädel weißt du das auch. Du musst es nur zulassen.«

  Ich schüttelte den Kopf. Zumindest glaubte ich, dass ich es tat, denn die Bewegung war so winzig, dass Keith sie vielleicht nicht mal wahrnahm. Zu mehr schien ich nicht in der Lage zu sein. Wo war die Kraft, die ich eben noch gesammelt hatte?

  Keith kam näher, bis er so dicht vor mir stand, dass ich kaum noch Luft holen konnte, ohne seinen Duft einzuatmen. Er schien auf eine Antwort von mir zu warten, auf irgendeine Reaktion. Als diese nicht kam, legte er seine Hand in meinen Nacken, zog mich an sich und presste seinen Mund auf meinen.

  Im ersten Moment war ich zu überrascht, um zu reagieren. Im zweiten erwiderte ich den Kuss so hungrig und selbstverständlich, als gäbe es keine andere Möglichkeit, darauf zu reagieren. Seine Wärme hüllte mich ein, als würde er eine Decke um mich schlingen, und für ein paar Sekunden erlaubte ich mir, mich in diesem Gefühl zu verlieren. In seiner Nähe. Seinem Geruch. Seinem Geschmack. Gott, ich hatte all das so vermisst. Sogar dieses selbstgefällige Lächeln, das mich regelmäßig in den Wahnsinn trieb. Ich wollte ihn selbst jetzt noch, obwohl es falsch war.

  Absolut falsch.

  Ich zog die Arme, die ich gerade um seinen Hals legen wollte, zurück und drückte mit den Händen gegen seine Brust. Keith stolperte einen Schritt zurück. Sein Blick war verklärt, seine Atmung ebenso abgehackt wie meine.

  »Nein«, brachte ich keuchend hervor. »Du hast keine Ahnung, was ich fühle. Du kennst mich nicht.«

  Ein Schatten legte sich über sein Gesicht und verhärtete seine Züge. »Ich glaube, mittlerweile kenne ich dich besser als du dich selbst, Callie.«

  Ich schüttelte den Kopf, weigerte mich, ihm weiter zuzuhören, also sagte ich das Einzige, von dem ich glaubte, es würde zu ihm durchdringen. »Halt dich von mir fern.«

  Mit hämmerndem Herzen wirbelte ich herum und schnappte mir meine Handtasche, bevor ich auf die Treppe zustürmte.

  »Denkst du, er hätte das für dich gewollt?«, rief Keith mir hinterher.

  Meine Füße blieben so abrupt stehen, dass ich fast vornüberfiel. Eine Eisschicht zog sich über meine Haut, drang immer tiefer, bis sie jedes Molekül in meinem Körper erfasst hatte. Langsam drehte ich mich zu Keith um, der mir in den Flur gefolgt war.

  »Wag es ja nicht, von ihm zu reden.« Meine Stimme war leise, aber die Schärfe darin nicht zu überhören. »Gerade du! Dazu hast du kein Recht!«

  »Vielleicht nicht«, gab Keith zu und kam wieder näher. »Aber wie es aussieht bin ich der Einzige, der sich traut, es dir ins Gesicht zu sagen.« Er blieb vor mir stehen und betrachtete mich mit einem Ausdruck, bei dem sich alles in mir zusammenzog. Mitgefühl. Und eine Entschlossenheit, die mir deutlich machte, dass er sich diesmal nicht zurückhalten würde, um mich zu schonen. »Glaubst du wirklich, er hätte gewollt, dass du dich in ein Studium stürzt, das du hasst, nur um dich ihm nahe zu fühlen? Dass du an der Vergangenheit festhältst, auch wenn es dich kaputt macht? Ich verrate dir was, Callie. Wenn er jetzt hier wäre und sehen könnte, wie du vor allem davonläufst, was dich auch nur im Entferntesten verletzen kann, wäre er enttäuscht.«

  Ich merkte nicht einmal, wie ich ausholte. Erst als meine Hand auf Keiths Wange traf und ein lautes Klatschen in meinen Ohren widerhallte, wurde mir bewusst, was ich gerade getan hatte. Meine Augen brannten mindestens ebenso sehr wie meine Finger von der Ohrfeige.

  Sekunden tickten vorbei, in denen sich keiner von uns rührte. Ich wusste nicht mal, ob ich überhaupt noch atmete, aber es musste so sein, schließlich pochte mein Herz noch immer gegen meine Rippen, als wollte es mich daran erinnern, dass es noch da war. Zersplittert und schmerzend, aber noch immer da.

  »Wir wissen beide, dass du dir nur etwas vormachst«, sagte Keith nach einer Weile rau. Sein Blick bohrte sich in meinen, als wollte er mich durch bloße Willenskraft dazu bringen, meine Meinung zu ändern. »Der einzige Unterschied zwischen uns ist, dass ich bereit bin, etwas zu riskieren, während du dich lieber irgendwo verkriechst und die Wahrheit verdrängst. Aber keine Sorge«, fügte er hinzu und trat mit erhobenen Händen zurück. »Ab jetzt werde ich mich von dir fernhalten.«

  Diesmal war er es, der ging, und ich tat nichts, um ihn aufzuhalten. Er marschierte an mir vorbei, ohne mich noch einmal anzusehen. Selbst als die Haustür hinter ihm ins Schloss gefallen war, bewegte ich mich nicht. Sein Duft hing noch immer in der Luft, aber von der Wärme war nichts mehr zu spüren.

  Ich hatte sie erfolgreich vertrieben.

  Genau wie Keith.

  20

  Ich fiel fast von der Rückbank, als Keith so abrupt bremste, dass das Auto einen Hopser machte. Mein Mobiltelefon glitt mir aus den Händen und landete irgendwo im Fußraum. Mist, verdammter. Ich war gerade dabei gewesen, Faye von unserem Fahrunterricht zu berichten. Ich löste den Sicherheitsgurt und ging auf dem Boden in die Hocke, um nach meinem Handy zu tasten, das unter den Sitz gerutscht war.

  »Mit Gefühl auf die Bremse treten«, erinnerte Dad Keith geduldig. Und dann, als hätte er Augen im Hinterkopf: »Schnall dich wieder an, Callie.«

  Ächzend setzte ich mich wieder hin, nachdem ich mein Handy gefunden hatte, und legte brav den Sicherheitsgurt an. Als ob auf dieser verlassenen Landstraße irgendetwas passieren könnte …

  Der Wagen tuckerte weiter und ich hatte Mühe, einen vollständigen Satz zu schreiben, weil ich mich ständig vertippte und die Autokorrektur meine Nachricht zu einem Porno machen wollte. Aber nach einigen Minuten hörten die ungewollten Sprünge auf und ich wagte es, einen Blick nach vorne zu werfen. Keith hatte die Hände in perfekter Haltung am Lenkrad. Im Rückspiegel sah ich seine dunklen Augen, die konzentriert auf die Straße gerichtet waren. Normalerweise erwischte er mich immer dabei, wenn ich ihn beobachtete, und dann wurde ich knallrot und sagte irgendwelches sinnlose Zeug. Aber jetzt war er zu sehr aufs Fahren konzentriert, also konnte ich ihn ganz in Ruhe betrachten. Ich lehnte mich sogar etwas nach vorne, um sein Profil besser sehen zu können.

  Das Kribbeln kehrte zurück und breitete sich wie ein Schwarm Bienen in meinem Bauch aus. Gerade so unterdrückte ich ein leises Seufzen, denn ich wollte Keith auf keinen Fall vom Fahren ablenken.

  »Langsamer«, mahnte Dad. Er streckte die linke Hand aus und legte sie
auf den Fahrersitz, direkt hinter Keiths Schulter, die andere streckte er aus, als rechnete er damit, jeden Moment das Steuer ergreifen und herumreißen zu müssen.

  Der Motor brummte störrisch und der Wagen ruckelte beim Fahren. Ich lehnte mich wieder zurück.

  »Den Fuß nur leicht auf das Gaspedal drücken«, sprach Dad weiter. Er wirkte irgendwie besorgt. Aber warum?

  Erst als ich nach draußen schaute, bemerkte ich, dass wir ziemlich schnell fuhren. Ich sah zurück zu Dad. Seine Stirn war gerunzelt und er wirkte schrecklich müde. War er schon beim Losfahren so müde gewesen?

  »Langsamer, Keith!«

  Ich zuckte unter dem harschen Befehl zusammen, als wäre er an mich gerichtet gewesen. Wow. Was war denn jetzt los? Dad ist komisch drauf, schrieb ich an Faye und löschte die zweite Hälfte sofort wieder, weil die blöde Autokorrektur kosmisch daraus gemacht hatte. Echt jetzt?

  »Okay, das reicht für heute.« Dads Stimme erfüllte das Wageninnere. Er versuchte ruhig zu klingen, aber ich spürte, wie angespannt er war. »Fahr rechts ran, Keith.«

  Das schmiedeeiserne Tor quietschte, als ich es öffnete, und schreckte ein paar Vögel auf, die kreischend davonflogen. Letzte Nacht hatte es stundenlang geregnet und selbst jetzt am frühen Morgen hing noch immer der Geruch von Regen in der Luft. Ich atmete ihn tief ein, inhalierte ihn, aber nicht einmal das konnte meinen rasenden Puls beruhigen. Nervös wischte ich mir die Hände an meiner kurzen Jeans ab und zwang mich dazu, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Der Friedhof sah noch genauso aus wie früher, nur dass inzwischen erschreckend viele neue Grabsteine hinzugekommen waren.

  Langsam ging ich weiter, vorbei an einer Engelsstatue, die auf mich herunterstarrte, als wollte sie mich fragen, was ich hier zu suchen hatte. Nun, mit dieser Frage waren wir schon zu zweit.

  Es dauerte nicht lange, bis ich den vorgegebenen Weg verließ und meine Stiefel im feuchten Gras versanken. Ich wünschte, ich könnte behaupten, dass ich mein Ziel mutig und energischen Schrittes ansteuerte, aber in Wirklichkeit machte ich wahrscheinlich eher den Eindruck einer verschreckten Katze. Vorsichtig tappte ich vorwärts, weil ich mich zu jedem Meter zwingen musste. Eigentlich sollte es leichter werden, je näher ich kam, oder nicht? Das wurde es aber nicht. Im Gegenteil.

 

‹ Prev