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Never Too Close

Page 30

by Moncomble, Morgane


  Mit flackerndem Blick tritt er auf mich zu. Er reißt sich zusammen, und das tut mir weh.

  »Sie hat dich weggeworfen und …«

  »Aber es ging dich verdammt nochmal nichts an!«

  Ich zittere, bestürzt von seinem Ton. Ich begreife, dass ich dieses Mal nicht mit einer einfachen Entschuldigung davonkomme. Mein Herz verkrampft sich und mein Selbstbewusstsein verlässt mich. Jetzt bin ich ganz allein. Obwohl es mir enorm schwerfällt, widerstehe ich dem starken Drang, davonzulaufen und mich heulend im Bett zu verkriechen.

  Es ist an der Zeit, mich zu erklären. Und dabei Zoé aus der Sache herauszulassen.

  »Ich weiß. Aber ich war zornig, okay? Sie wirft dich weg wie ein Stück Scheiße und ruft dich dann an, um dir zu sagen, dass es ihr jetzt doch leid tut, während du die ganze Zeit getrauert hast. Vielleicht verstehst du ja, dass ich nicht unbedingt ein Fan von ihr war.«

  Stumm ballt er die Fäuste, um seine Gefühle im Zaum zu halten. Trotz des unangenehmen Schauders, der mich überläuft, fahre ich fort:

  »Ja, es stimmt, ich habe statt dir geantwortet. Ich war völlig außer mir und wollte, dass sie endlich versteht, dass sie nicht alles entscheiden kann, ohne darüber nachzudenken, wie es dir damit geht. Später habe ich es bereut, aber es war nun mal geschehen.«

  Ich verstumme einen Moment und lasse ihn dieses Geständnis verdauen. Weil ich aber möchte, dass er meine Beweggründe versteht, füge ich hinzu:

  »Allerdings hat sie danach sieben lange Monate nicht ein einziges Mal angerufen … Hätte sie dich wirklich geliebt, glaubst du nicht, dass sie gekämpft hätte? Ich hätte bestimmt nicht nach einem Anruf aufgehört. Sie hat sich für den Weg des geringsten Widerstands entschieden …«

  »Ich verbiete dir das«, droht er mit wütendem Blick. »Was mit Lucie passiert, regle ich mit Lucie. Du bist nicht Lucie. Was dich betrifft, so hast du mich monatelang angelogen und komplett verarscht!«

  Mir fällt nichts mehr ein, was ich noch sagen könnte, um mich zu rechtfertigen. Warum versteht er meine Beweggründe nicht? Habe ich mich die ganze Zeit geirrt? Liege ich falsch, wenn ich denke, dass ich das Richtige getan habe? Loan geht um mich herum und direkt zu seinem Zimmer. Angesichts von so viel Gleichgültigkeit fühle ich mich wie versteinert. Fast automatisch folge ich ihm.

  »Bitte verzeih mir.«

  Er ignoriert mich und zieht Jacke und Hemd aus. Unwillkürlich wandert mein Blick zu seiner Verbrennung.

  »Und wie soll ich das anstellen?«, erwidert er giftig.

  »Versuch wenigstens, mich zu verstehen. Hättest du etwa nicht dasselbe getan?«

  »Alles, was recht ist, aber deinen Exfreund kann man nicht wirklich mit meiner Exfreundin vergleichen.«

  Ich bleibe so abrupt stehen, als hätte er mich geohrfeigt. Jetzt fühle ich mich nicht mehr schuldig. Ich will, dass er mir verzeiht, aber ich weigere mich zuzugeben, dass ich etwas falsch gemacht habe. Lucie verdient Loan nicht. Sie waren vier Jahre zusammen, aber das heißt nicht, dass sie ihr ganzes Leben lang zusammenbleiben müssten. Sie ist kein schlechter Mensch, sie ist einfach nicht die Richtige für ihn. Ich muss an die vielen Male denken, als sie mir absichtlich ihre Beziehung zu Loan unter die Nase gerieben hat, mal am Briefkasten, mal im Hausflur. Sie mochte mich nicht. Von der ersten Sekunde an hat sie nicht einmal versucht, mich zu mögen. Warum sollte ich mir Mühe geben?

  »Ich bereue es nicht.«

  Loan lacht so böse, dass es mir kalt den Rücken hinunterläuft.

  »Wie schön für dich, Violette. Ich freue mich, dass du nachts gut schläfst.«

  »Hör auf.«

  »Das alles ist deine Schuld. Von Anfang an.«

  Er spricht ruhig, so ruhig, dass mein Herz versucht, sich irgendwo in meiner Brust zu verstecken. Ich mag diesen Ton nicht. Ich mag diese Vorwürfe nicht. Und auch nicht die Wendung, die dieses Gespräch nimmt. Wir hätten uns eine Weile anschreien und dann zu anderen Dingen übergehen sollen. Nur, warum zittern dann meine Knie unter seinem traurigen Blick?

  »Sag so was nicht«, flehe ich ihn an. Meine Augen füllen sich mit Tränen.

  »Aber es stimmt«, beharrt er. »Deinetwegen hat Lucie mich verlassen.«

  Ich falle aus allen Wolken.

  »Was …?«

  »Warum bist du gekommen und hast mich um Mehl gebeten? Warum hast du an meiner Tür geklingelt?!«

  Ich kann ihn nicht deutlich genug sehen, um seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Tränen trüben meine Sicht und laufen mir über die Wangen. Zu bestürzt, um zu reagieren, wische ich sie nicht fort. Loan wendet sich von mir ab und streift durchs Zimmer wie ein Raubtier im Käfig.

  »Ich wusste von Anfang an, dass du gefährlich bist, aber ich ließ es geschehen, weil ich dachte, ich stünde darüber … Also ja«, schließt er und dreht sich mit hartem Gesicht wieder zu mir um. »Es ist deine Schuld, dass ich Mehl gekauft habe, es ist deine Schuld, dass ich dich so attraktiv fand, obwohl ich kein Recht dazu hatte, es ist deine Schuld, dass ich Lust hatte, Émilien zu verprügeln, und es ist auch deine Schuld, dass ich dich geküsst habe und dass Lucie mich verlassen hat!«

  Also wirklich … Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Meint er das ernst, oder hat er sich nur in Rage geredet? Entsetzt wische ich mir endlich die Tränen ab. Ich schniefe, Loan seufzt. Vermutlich weiß er, dass er zu weit gegangen ist.

  »Du bist grausam.«

  »Ich weiß …«

  Und das soll es gewesen sein? Ich habe einen Fehler gemacht, ich stehe im Mittelpunkt seiner sämtlichen Gefühlsprobleme, und das ist das Urteil?

  Ich will das, was wir haben, nicht verlieren. Ja, es hat ziemlich lange gedauert, bis ich erkannte, dass ich ihn liebe. Ja, vermutlich hasst er mich, weil ich seine Beziehung zu Lucie ruiniert habe. Aber ich habe nicht die geringste Lust, ihn gehen zu lassen. Ich will, dass er bei mir bleibt. Als mein bester Freund und mehr.

  »Seit du mich gebeten hast, dir diesen blödsinnigen Gefallen zu tun, läuft es nicht mehr zwischen uns«, fährt er fort und schüttelt weiter den Kopf.

  »Niemand hat dich gezwungen, anzunehmen …«

  »Aber natürlich musste ich annehmen«, schreit er plötzlich, worauf ich erneut in Tränen ausbreche. »Ich musste es tun, weil es um dich ging, Violette!«

  Darauf weiß ich nichts zu antworten. Eigentlich hatte ich ihm sagen wollen, dass ich ihn liebe, dass ich wieder Single bin und dass ich auf mehr hoffte … Und plötzlich geht alles in Flammen auf.

  »Es tut mir leid.«

  Langsam beruhigt sich seine Atmung ebenso wie die Wut in seinen Augen. Aber die Wunde, die er in meinem armen Herzen hinterlassen hat, schließt sich nicht. Im Gegenteil, jetzt gibt er mir endgültig den Rest:

  »Es ist aus.«

  Mir stockt der Atem. Ich bin kreidebleich.

  »Was …?«

  Nein. Nein, nein. Das ist unmöglich.

  »Du und ich, das hier. Die Küsse, die Zärtlichkeiten, die zweideutigen Scherze, Violan … Du weißt, dass ich dich vergöttere. Aber das, was passiert ist, kann ich nur schwer verdauen. Jedenfalls im Moment. Ich brauche Abstand. Also lass mich in Ruhe«, schließt er und wendet den Blick ab.

  Ich stehe vollkommen still. Der Himmel scheint über mir einzustürzen. Das war es also? Ist es wirklich vorbei? Er will nicht mehr mit mir reden, weil ich versucht habe, ihn zu schützen? Weil ich, ohne es zu wissen, ohne es auch nur zu wollen, für seine Trennung von Lucie verantwortlich gewesen sein soll? Loan dreht mir den Rücken zu, während ich ungläubig den Kopf schüttle.

  »Du bist ungerecht.«

  Er antwortet nicht. Niedergeschlagen starre ich seinen Rücken an. Schließlich wische ich mir ohne Rücksicht auf mein Aussehen die Augen und gehe zur Tür, um ihn allein zu lassen. Ich weiß nicht, ob das das Ende unserer Freundschaft bedeutet. Ich weiß auch nicht, wessen Schuld es ist. Aber eines ist sicher:

  »Seit diesem Tag im Aufzug sind wir mehr als nur Freunde«, sage ich, ohne ihn anzusehen. »Wir sind vielleicht kein Paar … aber wir sind mehr al
s nur Freunde. Aber gib mir nicht die Schuld dafür.«

  29

  Heute

  Loan

  Nur selten in meinem Leben habe ich mich derart schlecht gefühlt. So elend und schuldig.

  Kein Wunder, schließlich habe ich die ganze Nacht nicht geschlafen. Ich war viel zu aufgewühlt, aber auch zu angewidert von mir selbst für das, was ich meiner besten Freundin an den Kopf geworfen hatte.

  Aber ist sie überhaupt noch meine beste Freundin?

  »Seit diesem Tag im Aufzug sind wir mehr als nur Freunde.« Ich weiß, dass sie recht hat und dass Lucie mich auch deshalb verlassen hat. Schließlich war ich derjenige, der dieses verdammte Mehl gekauft hat. Und geküsst habe ich sie auch. Mich trifft die ganze Schuld in dieser Geschichte. Aber ich war so wütend, dass ich mich entlasten wollte, indem ich alles ihr in die Schuhe schob.

  Ich habe Dinge gesagt, die ich nicht wirklich gemeint habe, wie immer, wenn man wütend ist. Meine Worte waren schneller als meine Gedanken, und ich mache mir deswegen Vorwürfe, seit sie meine Zimmertür hinter sich geschlossen hat. Trotzdem bin ich immer noch viel zu wütend auf die ganze Welt – auf Violette, weil sie mich angelogen hat, auf Lucie, weil sie sich nicht mehr angestrengt hat und auf mich selbst, weil ich nicht weiß, was ich tun soll – um ihr nachzulaufen und mich zu entschuldigen.

  Am nächsten Abend sitzen Violette und Zoé im Wohnzimmer, als ich von der Arbeit komme. Keine von beiden blickt auf. Ich begreife schnell, dass ich mich auf gefährlichem Terrain bewege; weibliche Überzahl verpflichtet. Trotzdem versuche ich es mit einem höflichen »Hallo«. Lediglich Zoé antwortet mir mit einer Geste. Sie folgt mir bis in mein Zimmer, wo sie die Tür hinter uns schließt. Mit gerunzelter Stirn drehe ich mich zu ihr um. Sie wirkt irgendwie verunsichert – das ist mal was ganz Neues!

  »Loan, ich muss dir etwas sagen.«

  Ich verstehe, dass es um Violette geht. Unwillkürlich mache ich mir Sorgen.

  »Was ist?«

  Zoé verzieht das Gesicht und verschränkt defensiv die Arme vor der Brust.

  »Tja … also vielleicht habe ich einiges mit dieser Lucie-Sache zu tun.«

  Interessiert betrachte ich sie. Warum ist mir der Gedanke nicht schon früher gekommen?

  »Inwiefern?«

  »Ich war diejenige, die an diesem Tag drangegangen ist«, gibt sie zu. »So was ist nicht Violettes Art. Sie hätte es nie getan, wenn ich ihr nicht das Telefon in die Hand gedrückt und ihr gesagt hätte, sie solle Lucie nahelegen, sich zu verpissen. Gib ihr bitte nicht die Schuld daran.«

  Ich hätte es wissen müssen. Klar, dass Zoé dahintersteckte. Aber ändert das etwas? Violette ist schließlich kein Kind mehr. Außerdem hat sie mir sieben Monate lang die Wahrheit verschwiegen. Ich finde, ich habe das Recht, eine Weile sauer auf sie zu sein. Nur eine kleine Weile.

  »Okay. Danke, Zoé.«

  Sie scheint überrascht zu sein, nickt zufrieden, bleibt aber an der Tür stehen, als hätte sie etwas vergessen.

  »Loan, ich meine es ernst«, sagt sie. »Mach bitte keinen Scheiß.«

  Ich widerstehe dem Drang, ihr zu sagen, dass es dafür schon zu spät ist.

  Bereits nach vier Tagen bin ich die Situation mehr als leid.

  Ich meide sie, sie meidet mich. Wir streiten uns weder, noch werfen wir uns böse Blicke zu oder beleidigen uns. So ist es nicht zwischen ihr und mir. Wir tun einfach nur so, als existiere der andere nicht. Was meiner Meinung nach schlimmer ist. Ich höre ihre Stimme nur, wenn sie beim Essen mit Zoé spricht. Zum ersten Mal scheine ich nicht mehr Teil dieses seltsamen Zusammenlebens zu sein.

  Trotzdem erfahre ich durch mein Schweigen eine ganze Menge … Zum Beispiel, dass sie sich von Clément getrennt hat.

  Als ich das höre, muss ich mich zwingen, sie nicht anzuschauen. Mein Herz spielt verrückt und eine gewaltige Erleichterung macht sich in mir breit. Sie hat ihn endlich verlassen! Wann war das? Warum wusste ich nichts davon? Wie geht sie damit um?

  Trotzdem bin ich noch viel zu wütend, um sie danach zu fragen. Stattdessen gehen mir tausendundein Szenarien durch den Kopf: Was, wenn ich vor sieben Monaten selbst ans Telefon gegangen wäre, wenn Lucie sich entschuldigt hätte und wir wieder zusammengekommen wären … wie würde mein Leben heute aussehen? Hätte ich mich trotzdem in Violette verliebt? Lucie behauptet, sich verändert zu haben, und ruft mich seit Tagen immer wieder an. Ich gehe nicht dran, weil ich nicht weiß, was ich ihr sagen soll.

  Am Donnerstag treffe ich mich mit Ethan in der Sporthalle der Feuerwehr zum Training. Mein Freund ist bereits da und klettert am Seil. Ich zögere ein paar Sekunden, ehe ich tief durchatme und mein T-Shirt ausziehe. Mit nackter Brust und einem Kloß im Hals packe ich das nächste Seil und klettere mit Leichtigkeit. Ethan ist viel zu sehr auf sich selbst konzentriert, um mich anzusehen, was mein Selbstvertrauen stärkt. Schon bald achte ich nicht mehr auf eventuelle Blicke.

  Wir absolvieren das übliche Krafttraining, danach spielen wir Basketball. Auch Ethan zieht sein T-Shirt aus, bevor er endlich das Schweigen bricht:

  »Du lässt die Hüllen fallen, Millet?«

  Erleichtert über seinen Scherz lächle ich. Verdammt, ich liebe meine Freunde. Ich nehme ihm den Ball aus den Händen und antworte im gleichen Ton:

  »Na, beeindruckt?«

  »Und wie. Du bist echt heiß.«

  Ich schüttle den Kopf und wir fangen an, ernsthafter zu spielen. Nach einer Stunde sind wir total verschwitzt. Mit meinem T-Shirt wische ich mir die Stirn ab und checke gleichzeitig meine Nachrichten. Eine ist von Lucie, die mich fragt, warum ich ihr ausweiche. Ich seufze und antworte ihr, dass es nicht das ist, was sie denkt, sondern dass ich gerade wichtige Dinge zu tun habe. Ich hoffe, das verschafft mir Zeit, um herauszufinden, was ich tun soll.

  Ethan setzt sich zu mir auf die Tribüne. »Habe ich dir eigentlich schon erzählt, dass ich Zugtickets nach Poitiers gekauft habe? Ich fahre nächstes Wochenende zu meinen Eltern.«

  Ich blicke ihn mit kaum verhohlenem Neid an. Ich wünschte, ich hätte das Glück, meine Eltern sehen zu können. Ein normales Wochenende mit ihnen zu verbringen und über die Arbeit, meine Freundin, meine zu hohe Miete oder den nächsten Urlaub zu reden … Ich fürchte nur, dazu wird es nie kommen.

  »Toll«, antworte ich. »Fährst du allein?«

  »Nein, mit Ophélie. Ich möchte, dass sie meine Eltern kennenlernt«, gesteht er mit verlegenem Grinsen.

  Ich nicke gleichmütig.

  »Freut mich für dich, Kumpel.«

  Und das meine ich aufrichtig. Ethan lächelt vage und macht eine leichte Kopfbewegung in meine Richtung. Ich weiß jetzt schon, was er sagen will – Ethan ist sehr aufmerksam.

  »Du siehst übrigens ganz schön daneben aus.«

  »Weil ich es bin …«

  »Du darfst Onkel Ethan ruhig alles erzählen.«

  Ich seufze. Ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll. Schließlich sage ich ihm nur eines. Das Wichtigste. Das, was den Krieg ausgelöst hat.

  »Lucie ist zurückgekommen.«

  Ethan starrt mich ungläubig an, dann pfeift er kurz. Er kennt sie nicht sehr gut, aber er weiß, wer sie ist.

  »Ach ja.«

  »Ja.«

  »Du brauchst gar nichts zu sagen. Du weißt nicht, was du tun sollst, weil inzwischen Violette aufgetaucht ist, oder?«

  »Genau …«

  Ethan sagt lange nichts, als denke er angestrengt nach. Natürlich weiß er nicht alles. Er weiß weder, dass Lucie für Sicherheit in meiner turbulenten Vergangenheit steht, noch dass Violette und mich der Schmerz einer unglücklichen Kindheit verbindet. Und dass in meinem Kopf ein Riesenchaos herrscht.

  »Ich kann keine Entscheidung für dich treffen«, sagt Ethan schulterzuckend. »Aber eines kann ich dir sagen: Wenn du dir deiner Wahl ganz sicher sein willst, brauchst du dir nicht allzu viele Fragen zu stellen. Tatsächlich sind es nur drei.«

  Ich schaue ihn aufmerksam an. Ethans Ratschläge sind immer gut, daher höre ich ihm genau zu. Er
schaut mir in die Augen und zählt an den Fingern ab.

  »Erstens: An wen denkst du, wenn du aufwachst? Zweitens: Bei welcher von beiden kannst du du selbst sein? Und drittens, das Wichtigste: Welche ist diejenige, ohne die du nicht leben kannst?«

  Ich kann den Blick nicht von Ethan abwenden, der geheimnisvoll lächelt und aus seiner Wasserflasche trinkt. Ich bleibe stumm. Drei Fragen genügen also. Drei Fragen, die zu stellen ich mich fürchte.

  Was, wenn mir die Antwort nicht gefällt?

  30

  Heute

  Violette

  Die Woche nach unserem Streit ist nur schwer zu ertragen. Ich ignoriere ihn, wenn er den Raum betritt, und beiße mir fast die Zunge ab, um ihm bloß nicht zu sagen, wie super ihm seine neue Jeans steht … Wenn unsere Blicke sich versehentlich kreuzen, bin ich die Erste, die sich abwendet. Trotzdem bereue ich nicht, was ich neulich Abend zu ihm gesagt habe. Er hat meine Gefühle verletzt.

  Und jetzt warte ich darauf, dass er auf mich zugeht. Bisher allerdings vergebens.

  Manchmal befürchte ich, dass es nie dazu kommt.

  31

  Heute

  Loan

  In der Nacht, in der es passiert, schläft Zoé bei Jason.

  Ich esse allein am Wohnzimmertisch zu Abend, während Violette sich Videos anschaut. Weil sie mich nicht sieht, kann ich sie gut beobachten. Sie trägt ein weißes Tanktop zu roten Shorts und kuschelt sich an die rechte Armlehne des Sofas. Wieder einmal hat sie keinen BH an. Bedauernd wende ich den Blick ab und konzentriere mich frustriert auf meine Nudeln.

  Wie lange das wohl noch so weitergeht?

  Nachdem ich gespült habe, setze ich mich ans andere Ende der Couch. Unsere Blicke fixieren zwar den Bildschirm, aber ich würde die Hand dafür ins Feuer legen, dass Violette sich nicht im Geringsten auf das konzentriert, was vor ihr über den Fernseher flimmert. Ebenso wenig wie ich. Ich spüre ihre warme und starke Präsenz an meiner Seite. Diese Frau betört mich wie eine Sirene. Verlockend und gefährlich.

  Scheiße.

 

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