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[Ophelia Scale Serie 01] • Die Welt wird brennen

Page 15

by Kiefer, Lena


  Ich zog mich an der Mauer hoch und stemmte mich auf einen schmalen Vorsprung. Eng an den Felsen gepresst kam ich seitwärts voran, bis zu einer Spalte. Ich erspürte mit den Fingerspitzen die andere Seite und zog mich hinüber. Nun ging es senkrecht hinauf weiter. Meine Füße suchten in den schartigen Löchern der Mauer Halt, meine Hände fanden die sicheren Stellen wie im Schlaf. Seit meiner Ankunft kam ich fast jeden Tag her. Nicht nur wegen der Ruhe: Von oben konnte ich mir unauffällig ein Bild von den Sicherheitsvorkehrungen machen.

  Der Turm kam in Sicht, als ich um die Ecke kletterte. Jetzt musste ich nur noch eine schmale Bruchkante überwinden, die sich fünf Meter über einen Abgrund zog. Ich breitete die Arme aus und setzte die Füße voreinander wie einer der Seiltänzer, von denen Bilder im Theater am Pier hingen. Ein paar Farne wiegten sich zehn Meter unter mir im Wind. Zum Glück war ich schwindelfrei.

  Bevor ich jedoch den letzten Schritt machte, sah ich hoch – und stoppte abrupt. Mitten über dem Abgrund geriet ich gefährlich ins Wanken.

  Was soll das denn?

  Mein Aussichtsplatz war nicht verlassen wie sonst.

  Auf der Mauer saß jemand mit dem Rücken zu mir und sah auf die Stadt.

  16

  Wer kam außer mir hierher? Woher wusste er von diesem Platz? Und was zur Hölle sollte ich jetzt machen? Hallo sagen? Nein, auf keinen Fall. Ich würde einfach wieder verschwinden.

  Ich drehte mich schnell, zu schnell, schwankte und verlor das Gleichgewicht. Instinktiv schloss ich die Augen, bevor ich fiel.

  Aber nichts passierte. Kein Absturz, kein Aufprall. Stattdessen spürte ich einen Ruck und zwei fremde Hände, die mich an den Armen festhielten. Als ich die Augen öffnete, traf mich ein schockierter Blick. Nein, nicht schockiert. Eher amüsiert. Amüsiert?!

  »Was sollte das denn werden?«, fragte der Fremde mit tiefer Stimme und zog mich mit sanftem Druck zu sich. Ich brachte sicheren Fels unter meine Füße. »Übst du für irgendeine Show? Tod im Urwald oder so?«

  »Äh …« Ich war zu perplex für eine schlagfertige Antwort. Stattdessen starrte ich ihn an.

  Er war ein Stück größer und auch älter als ich, vielleicht drei oder vier Jahre – und hatte die schmale und trainierte Statur eines Menschen, der sich viel bewegte. Seine blaugrauen Augen funkelten immer noch belustigt. Die Haare hatten die Farbe von dunklem Honig, mit ein paar goldbraunen Strähnen, als wären sie von der Sonne ausgeblichen. Man konnte sehen, dass sie sich lockten, aber sie waren zu einem kurzen Zopf gebunden, der nachlässig einmal umgeschlagen war.

  »Soll ich mich mal drehen, damit du besser gucken kannst?«, fragte der Fremde.

  »Nein, danke«, antwortete ich, »das reicht schon.« Immerhin mehr als »äh«.

  »Wenn ich gewusst hätte, dass ich dich so aus dem Konzept bringe, hätte ich dich abstürzen lassen«, beteuerte er.

  »Haha. Brennst du immer so ein Feuerwerk an Gags ab?«

  »Nur, wenn ich witzig sein will.« Er zuckte entspannt mit den Schultern. Ich beschloss, ihn bis auf Weiteres Robin Hood zu nennen. Es passte zu dem roten Kapuzenpullover, den er zu einer dunklen Hose trug. »Und du?«, fragte er. »Bist du immer so leicht mit männlicher Anwesenheit zu beeindrucken?«

  »Nur, wenn sie unerwartet irgendwo auftaucht«, antwortete ich.

  »Verdammt. Und ich dachte, es läge an meiner beeindruckenden Ausstrahlung.« Er grinste und setzte sich wieder auf die Mauer. »Was machst du hier oben?« Mir fiel auf, dass er keine Blätter in den Haaren oder Schmutz an seiner Kleidung hatte. Unauffällig wischte ich mir die Spuren meiner Klettertour von der Jacke.

  »Na, ich trainiere für meine Show«, gab ich zurück und setzte mich neben ihn. Plötzlich hatte ich keine Lust mehr, sofort wieder zu verschwinden.

  »Dann würde ich beim nächsten Mal aber ein Netz spannen«, riet er mir. »Oder etwas anderes, das dich vor dem sicheren Tod bewahrt.«

  »Danke für den Tipp.« Ich ließ die Beine über die Kante hängen. Vor mir erstreckte sich das gesamte Tal, unter mir der Wald. Vögel zwitscherten, es roch nach Tannennadeln und feuchtem Holz. »Ich komme her, weil es der einzige Ort ist, an dem man wirklich allein sein kann.«

  »Tut mir leid. Ich wollte dir das nicht versauen.« In Robins Stimme war keine Spur von Spott zu hören. Ich hob die Schultern und grinste schief.

  »Das macht nichts. Du warst bestimmt auch nicht hier, um mich zu treffen.«

  »Wer weiß?« Wieder war da dieses Funkeln in seinem Blick. »Vielleicht wusste ich, dass du öfter hier bist, und habe meine Chance genutzt.«

  »Hm«, machte ich. »Du kommst mir nicht wie jemand vor, der Mädchen im Wald abfangen muss, weil er sich sonst nicht traut, sie anzusprechen.«

  »Touché.« Er sagte es, als wäre Französisch ihm vertraut. Aber sein Englisch war ebenso makellos. »Du bist eine von den Musterschülern, oder?«

  »Musterschüler?«

  »Die neuen Gardisten. Deine Kleidung verrät dich.«

  Ich sah an mir herunter, als wüsste ich nicht, was ich am Morgen angezogen hatte. Zum Training trugen wir hellgraue Hosen und Shirts mit einem breiten dunkelgrauen Streifen, dazu weiße Trainingsschuhe, alles mit dem Zeichen der Garde, die übliche Lilie, aber mit einem Schwert darunter. Selbst in Maraisville verheimlichte man, wozu wir wirklich hier waren.

  »Messerscharf erkannt«, nickte ich. »Und du? Deine Kleidung verrät dich überhaupt nicht.«

  »Ich? Ich bin funktionslos.«

  »Niemand in dieser Stadt ist funktionslos.«

  Er lachte. »Wie lange bist du schon hier, Stunt-Girl?«

  »23 Tage, Sir«, antwortete ich in militärischem Ton.

  »Und schon weißt du, dass es hier niemanden ohne Funktion gibt?«

  »Abgesehen von den Kindern«, witzelte ich, »aber wenn du nicht immer sehr gut gefrühstückt hast, bist du wohl keines.«

  »Es gibt Leute, die würden dir da widersprechen.« Wieder lachte er. In Verbindung mit seiner rauen Stimme klang das ziemlich sexy.

  »Also, was ist nun deine Aufgabe?«, fragte ich. »Ruinenbeauftragter? Stunt-Koordinator? Retter abstürzender Damen?«

  »Klingt alles gut«, sagte er, »aber das sind mehr ehrenamtliche Nebenjobs. Meine Familie gehört zu denen, die unten in der Altstadt ein bisschen was zu sagen haben.«

  »Dann ist einer aus deiner Familie ein hohes Tier?«, fragte ich. In Zone B lebten vor allem Funktionäre und Ressortleiter des Königs.

  »So könnte man das sagen.«

  »Hast du deswegen diese Sachen?« Neidisch deutete ich auf seinen roten Pullover, der aus weichem, feinem Material zu sein schien und völlig lilienfrei war. So etwas gab es nicht im normalen Sortiment.

  »Nein, die besorge ich mir selbst.« Er schob die Ärmel hoch. »Ich habe ein paar Kontakte, über die ich an Klamotten komme, die nicht jeder trägt.«

  »Du Glücklicher«, sagte ich. »Wir bekommen nur schwarze und graue Sachen, solange wir Anwärter sind.«

  »Ich könnte dir etwas besorgen«, sagte Robin leichthin, »du musst mir nur deine Größe sagen.«

  »Oh, ich bin sicher, als erfahrener Kenner des weiblichen Geschlechts kannst du die schätzen«, grinste ich.

  »Hey, ich habe nie gesagt, dass ich Kenner irgendeines Geschlechts bin«, wehrte er lachend ab. »Du hast gesagt, dass ich keine einsamen Mädchen abfangen müsse. Ich habe zugestimmt. Mehr nicht.«

  »Und ich habe nie gesagt, dass ich einsam bin«, gab ich zurück.

  »Das habe ich auch nicht vermutet.« Er sah mich auf eine Weise an, die meine scherzhafte Haltung sofort ins Wanken brachte. Es war verwirrend, wie schnell er das schaffte.

  Ich wich seinem Blick aus und sah ins Tal. Direkt vor uns lag die Festung des Königs. Es war eine moderne Konstruktion aus wabenförmigem Stahl und Glas, umschlossen von einem Ring alter Gebäude aus irgendeinem früheren Jahrhundert. Dann kamen die Sicherheitszonen, dahinter die Wohngebiete. An beiden Enden des Tals lagen die königlichen Produktionsstätten, eine Masse dunkelgrauer Quader mit großen Eingangstoren. Am See war schließlich das Militärgebiet. Wer in die Stadt wollte, musste daran vorbei.

  »Was mach
st du eigentlich hier oben?«, fragte ich, um das Schweigen zu beenden.

  »Das fragst du noch? In meiner Funktion als Retter abstürzender Damen bin ich immer zur Stelle, wenn ich gebraucht werde.« Er deutete eine Verbeugung an.

  »Du antwortest nicht gerne auf Fragen, oder?«

  Seine blaugrauen Augen erwiderten meinen Blick.

  »Mache ich diesen Eindruck?«

  »Da, schon wieder«, sagte ich.

  »Du bist ziemlich scharfsinnig. Hat man dir das schon gesagt?« Sein Lächeln war entwaffnend. Wahrscheinlich konnte er damit jeden zu allem überreden.

  »Nein, noch nie.« Ich schüttelte den Kopf. Das Spiel konnte man auch zu zweit spielen. »Wunderschön, liebreizend, witzig, ja. Aber scharfsinnig? Nein.«

  »Eine Schande. Dabei ist das sicher deine Superkraft.«

  »So wie es deine ist, Fragen auszuweichen?«

  »Das ist keine Superkraft, sondern eine Berufskrankheit«, parierte er. »Ich bin in diplomatischen Angelegenheiten unterwegs. Da lernt man, über jede Antwort genau nachzudenken.«

  »Diplomatische Angelegenheiten?« Er sah nicht aus wie ein Diplomat. Es sei denn, seine Aufgabe bestand darin, mit australischen Surfern zu verhandeln. »Bist du viel unterwegs?«

  »Sehr viel. Ich bin nur zwei bis drei Monate im Jahr hier.«

  »Also muss ich meinen Aussichtsplatz nicht oft mit dir teilen.«

  »Du scheinst es nicht zu bedauern. Das trifft mich. Spürst du denn nicht diese ganz besondere Verbindung zwischen uns?« Er griff sich ans Herz.

  »Doch, natürlich«, beteuerte ich ernst. »Aber wenn ich zwischen der Aussicht und dir wählen muss, dann –«

  »Nein, sag nichts. Du verletzt mich nur.« Robin gab seine schwülstige Haltung auf. »Aber freu dich nicht zu früh, Stunt-Girl. Du wirst selbst bald nicht mehr viel von dieser Aussicht haben.«

  »Ja, vielleicht.« Das klang fast, als wüsste er, dass die Anwärter in Wahrheit nichts mit der Garde zu tun hatten. Ich suchte unauffällig in seinem Gesicht nach Hinweisen, aber er sah ins Tal zur königlichen Festung.

  »Warst du schon drin?«, fragte er mich und nickte zu der funkelnden Glaskonstruktion, die sich als Teil der alten Festung darüber erhob. Das neue Bauwerk ragte wie ein spitzer Edelstein aus dem alten Mauerring heraus. Man nannte es nicht umsonst Juwel.

  Ich schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht.« Den König hatte ich auch noch nicht gesehen. Wir durften die Festung nicht ohne Begleitung betreten und er schien sie kaum zu verlassen.

  »Du hast nicht viel verpasst«, sagte Robin. »Das halbe Ding besteht aus Büros und Konferenzräumen. Es ist gähnend langweilig.«

  »Immerhin sind die Räumlichkeiten des Königs dort«, sagte ich. »Da würde ich schon gerne einen Blick hineinwerfen.«

  »Wieso? Willst du wissen, ob er sein Zimmer aufräumt?«

  »Zeig mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist«, erwiderte ich altklug. »Chinesische Weisheit.«

  »Eher die Weisheit von dem Typen mit seinem Möbelimperium, der mit Regalen reich geworden ist, bevor die gute alte Abkehr ihn arbeitslos gemacht hat.«

  Die gute alte Abkehr? Es klang nicht so, als hätte Robin ein Problem damit. Wie auch, er arbeitete für den König, da würde er kaum gegen ihn sein. Aber es war auch völlig egal, was er dachte. Ich vergaß meine Mission nicht, nur weil jemand schöne Augen und ein hübsches Lächeln hatte. Du hast die Stimme vergessen.

  »Bist du schon dort gewesen?«, fragte ich.

  »In den Räumen des Königs?«

  »Japp.«

  »Man kommt nur in die Räume des Königs, wenn man einen Grund dazu hat. Aber ich bin sicher, dass er regelmäßig aufräumt.« Robin setzte sich seitwärts und lehnte sich an die Mauer. Sonnenlicht fiel auf seine gerade Nase und die hohen Wangenknochen. »Kann ich dich was fragen?«

  »Kommt darauf an«, sagte ich.

  »Warum willst du zur Garde?«

  Ich hätte antworten können, dass es ihn nichts anging. Aber so etwas kam mir nicht einmal in den Sinn.

  »Ich habe im Frühjahr meinen Abschluss gemacht und hatte keine Pläne für danach.« Das war nicht gelogen. »Außerdem ist meine Beziehung zu Ende gegangen und … na ja. Ich musste mal raus.«

  »Verstehe«, sagte Robin. »Aber warum dann ausgerechnet das hier? Stören dich die ganzen Regeln nicht?«

  »Du meinst, dass ich immer um zehn zu Hause sein muss?«

  »Musst du?« Er hob belustigt eine Augenbraue.

  »Nein. Aber wenn ich nicht genug Schlaf kriege, bin ich nicht fit. Wenn ich nicht fit bin, lässt man mich Zusatzrunden laufen. Und wenn ich davon müde bin, versage ich bei allem anderen.«

  »Der Kreislauf des Lebens«, sagte Robin weise.

  »Eher ein Teufelskreis«, sagte ich. »Aber weil ich im Gegensatz zu dir auf Fragen antworte: Nein, die Regeln stören mich nicht. Nur die drei Jahre Clearing, die mir beim Ausscheiden winken. Oh, Entschuldigung, Gedächtniskorrektur nennen sie das ja.« Ich verdrehte die Augen.

  »Ich bin sicher, du wirst das zu verhindern wissen.«

  »Dein Wort in des Königs Ohr«, sagte ich. »Du hast da nicht zufällig etwas zu sagen?«

  »Nein, leider nicht«, grinste er. »Wenn mich allerdings jemand nach meiner Meinung fragen sollte, werde ich auf jeden Fall deine Stunt-Qualitäten erwähnen.«

  »Untersteh dich.« Ich lachte schon wieder.

  »Das ist keine meiner Stärken. Aber nur zur Sicherheit: Wo könnte ich dich finden, wenn man dich rauswirft und du dich nicht mehr an mich erinnerst?« Sein Blick wurde ernst. So ernst, dass ich ihm für eine Sekunde glaubte, er würde im Fall der Fälle vor meiner Tür auftauchen. Ich räusperte mich.

  »In Brighton«, sagte ich eine Sekunde zu spät.

  »Ah, Vale City«, seufzte Robin sehnsüchtig, und der Moment war vorbei. »Ich mochte den Pier. Da gab es dieses eine Kuppelding, dort konnte man auf dem Mond spazieren gehen.«

  »Du warst in Brighton?« Was für ein Zufall.

  »Es ist eine Weile her, zuletzt ein Jahr vor der Abkehr. Hat es sich verändert?«

  »Das weiß ich nicht, wir sind erst danach dorthin gezogen. Zu der Zeit war alles am Pier schon mit Brettern vernagelt.«

  »Echt? Was für ein unwürdiges Ende.«

  »Du sagst es.«

  Er schloss die Augen und hielt das Gesicht in die Sonne. Ich merkte, dass ich ihn anstarrte, und sah woanders hin.

  »Kann ich dich was fragen?«, wiederholte ich seinen Satz von vorhin.

  »Klar.« Er ließ die Augen zu.

  »Wieso wird jemand wie du Diplomat?«

  »Das war nicht meine Entscheidung. Eher so eine Art familiäre Verpflichtung.«

  »Das bedeutet, du würdest lieber etwas anderes machen?«

  »Die Frage hat sich nie gestellt.« Er zuckte nonchalant mit den Schultern.

  »Ja, aber –« Ich brach ab.

  »Was aber?« Er öffnete die Augen und lächelte. »Ich wirke nicht wie jemand, der für den König arbeitet?«

  Ich fühlte mich ertappt. »Na ja, du bist ziemlich jung, vielleicht 20 … 21 Jahre?«

  »22, um genau zu sein. Aber danke für das Kompliment. Ich habe mich wohl gut gehalten.«

  »Du wirkst jedenfalls eher locker, nicht wie ein Diplomat«, sagte ich. »Das sind doch Leute, die immer buckeln und tun müssen, was man ihnen sagt.«

  Ein langer und unergründlicher Blick traf mich.

  »Aber das ist nur so ein Eindruck«, schob ich schnell nach. »Du weißt schon, wegen deiner Kleidung und der Haare … Du siehst … ich meine, es sieht gut aus, das will ich damit nicht sagen, aber … das mit der Lockerheit war nur so dahingesagt, ich kenne dich ja gar nicht …« Ich schwafelte. Ich hatte seit Jahren nicht mehr geschwafelt.

  Robin hob die Schultern. »Freiheit ist ein Luxus, den sich nicht jeder leisten kann.«

  »Tut mir leid, ich wollte nicht …« Was? Ihm wehtun? Hatte ich das? Flog ich jetzt achtkantig aus dem Programm, weil ich einen Diplomaten beleidigt hatte? Hätte ich doch nur den Mund gehalten.

  »Hast du nicht«, antwortete er auf das, was ich gar nicht ausgesprochen ha
tte. Er lächelte auf eine Weise, die mich gleichzeitig beruhigte und traurig stimmte. »Aber wenn du so auf Freiheit stehst, dann bist du hier falsch.«

  »Wer sagt, dass ich darauf stehe?«

  »Du würdest mich nicht danach fragen, wenn es anders wäre.«

  Ich sah nach unten und schabte mit der Ferse am Felsen herum. »Freiheit kann vieles sein. Manchmal reicht es auch, etwas hinter sich zu lassen.«

  »Wie diese alte Beziehung?«

  »So alt ist sie noch gar nicht.« Ich schabte heftiger.

  »Warum hat sie geendet?«

  Ich spürte den altbekannten Kloß im Hals und antwortete nicht sofort.

  »Du musst es mir nicht erzählen«, sagte Robin sanft.

  »Doch, ich … es ist nur …« Ich schluckte. »Mein Freund ist beim Clearing gelandet.«

  »Oha. Das ist scheiße.« Es klang ernsthaft bestürzt.

  »Du sagst es.«

  Er berührte mich flüchtig am Arm. »Tut mir leid, dass ich gefragt habe. Ich dachte, es wäre etwas Harmloses. Zum Beispiel, dass du ihn mit deinen akrobatischen Selbstmordaktionen vertrieben hast.«

  Gegen meinen Willen musste ich lächeln.

  »Nein, das hat ihn nie gestört.«

  »Das ist gut. Es ist nicht einfach, jemanden zu finden, der einen versteht.« Robin lächelte schief. »Und, hat es geholfen, Brighton zu verlassen? Fühlst du dich jetzt freier?«

  »Keine Ahnung.« Ich erinnerte mich an seine Worte. »Vielleicht kann sich heutzutage niemand mehr den Luxus von Freiheit leisten.«

  »Du meinst, wegen der Abkehr?« Sein Tonfall war harmlos, aber ich war sofort auf der Hut. Robin war keiner meiner Freunde von ReVerse. Ich musste aufpassen, was ich sagte.

  »So habe ich das nicht gemeint«, wiegelte ich ab. »Ich meinte eher, dass man seine Ziele nicht mehr frei wählen kann. Sehr viel früher wollten die Menschen einfach nur überleben, später ging es dann um Geld, Macht oder Erfolg. Aber wonach soll man jetzt noch streben, wo wir doch alles haben?« Gar nicht schlecht, lobte ich mich selbst.

  »Ich weiß es nicht«, gab Robin zu und legte den Kopf schief. »Zufriedenheit? Glück? Etwas bewirken zu können?«

 

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