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[Ophelia Scale Serie 01] • Die Welt wird brennen

Page 31

by Kiefer, Lena


  »Endlich tauchst du auf«, hörte ich eine vertraut tiefe Stimme. »Ich dachte schon, ich müsste die ganze Nacht hier oben sitzen.«

  »Lucien?« Ich beeilte mich, nach oben zu kommen. »Bist du irre? Was, wenn das jemand mitkriegt?«

  »Ja, ich freue mich auch, dich zu sehen«, gab er zurück und stand auf. Ich lief auf ihn zu und warf mich in seine Arme. Als er sie um mich schlang, fiel eine riesige Last von mir ab. Einige Momente standen wir einfach da und ich vergrub mein Gesicht an seiner Schulter. Sein Körper war warm und seine Umarmung genau das, was ich gebraucht hatte. Ich freute mich so unendlich, ihn zu sehen.

  »Geht’s dir gut, Stunt-Girl?«, fragte er.

  »Jetzt ja«, murmelte ich in sein graues Shirt und ließ ihn los. Er hatte sich umgezogen und sah fast so aus wie immer. Etwas müder und besorgter, aber nicht mehr fremd. »Die letzten Tage waren … krass.«

  »Ich weiß.« Er strich mir über die Haare, dann setzte er sich auf die Decke, die er mitgebracht hatte. Die beiden Kissen sahen verdächtig nach denen aus, die sonst auf seiner Couch lagen. »Ich habe übrigens überprüft, ob uns hier jemand sehen kann. Wenn nicht gerade eine FlightUnit vorbeikommt, sind wir sicher.« Ich setzte mich zu ihm und er küsste mich sanft auf den Mund. »Tut mir leid, dass ich im Refugium so abweisend war. Es war nicht der richtige Moment, um das mit uns offiziell zu machen.«

  »Schon in Ordnung.« Ich lächelte. »Ich erwarte eh ein anständiges Abendessen, wenn du mich deiner Familie vorstellst.«

  Er lachte. »Ist notiert.«

  »Warum bist du so früh zurück? Hast du …?« Hatte er Ferro erwischt? War der Chef von ReVerse tot?

  »Nein, dazu war keine Zeit. Ich war kaum im richtigen Dorf angekommen, als man mich schon wieder abgeholt hat.« Lucien verdrehte die Augen. »Das ist Vorschrift. Steht im Protokoll für Attentate und andere Katastrophen.«

  »Nicht aus Mitgefühl, nehme ich an.«

  Er schnaubte und legte den Kopf in den Nacken. »Natürlich nicht. Es geht darum, die ›Gefahr eines führungslosen Landes zu minimieren‹. Sobald etwas passiert, das Leopolds Leben gefährdet, müssen Amelie und ich in Maraisville sein.« Er sah mich ernst an. »Du bist der Grund, dass es bloß ein Fehlalarm war. Ich weiß nicht, wie ich dir je dafür danken soll.«

  »Du könntest mich heiraten und zur Prinzessin machen«, scherzte ich.

  Er sah mich lange an, dann ließ er sich nach hinten sinken, bis er auf den Kissen lag. »Ja, vielleicht mache ich das sogar. Dafür ist Leopold sicher zu haben, eher als für eine eigene Ehe mit Stella Viklund.«

  »Ich habe sie kennengelernt.« Ich folgte Lucien und schmiegte mich in seine Arme. »Du hattest völlig recht, sie ist die Spaßbremse des Jahrhunderts.«

  »Sag ich doch.« Lucien schwieg kurz. »Bist du wirklich aus einem Fenster gesprungen und hast ›Eure Majestät‹ gebrüllt?«

  Ich lachte und vergrub meine Nase an seinem Hals. »Nicht ganz. Ich bin aus einem Fenster auf einen Balkon gesprungen und habe ›Leopold‹ gebrüllt. Aber ich bin froh, wenn das nicht in den Geschichtsbüchern landet.« Tief atmete ich Luciens Geruch ein.

  »Wenn du ihn mit seinem Titel angesprochen hättest, wäre er wahrscheinlich nicht lebend davongekommen.«

  »Ja, das hat er auch gesagt.«

  »Was genau ist passiert?«

  Ich stützte mich auf, um Lucien ansehen zu können. »Das weißt du besser als ich. Du warst doch heute bestimmt in hundert Besprechungen zu dem Thema.«

  »Erwischt«, gab er zu. »Aber ich will es von dir hören.«

  Ich erzählte ihm die Geschichte von Anfang bis Ende, von der Ankunft in der Villa über Montoyas Sohn und Leopolds Rettung bis zu unserer Abreise. Lucien hörte zu und stellte nur wenige Fragen. Als ich fertig war, runzelte er die Stirn.

  »Die haben dich mit Troy Rankin zusammengesteckt? Als Paar?«

  Mein Mund klappte auf, dann wieder zu.

  »Das ist das Erste, was dir dazu einfällt?«

  »Natürlich«, sagte er entrüstet. »Wie soll ich dich als zukünftige Prinzessin vorstellen, wenn alle Welt denkt, du wärst mit diesem Vollidioten verlobt?«

  »Ich wusste gar nicht, dass du ein Prinz bist.«

  »Streite dich nicht mit mir über Details«, murrte er. »Außerdem hast du damit angefangen.«

  Mit der Hand fuhr ich ihm durch die offenen Locken. »Du bist echt süß, wenn du so tust, als wärst du eifersüchtig.«

  »Nein, wenn ich so tun würde, dann würdest du es für echt halten.« Er hob den Zeigefinger. »Aber wenn ich es ernst meine, hältst du es für gespielt. Alter Schakal-Trick.«

  »Das verwirrt mich.«

  »So was hier hoffentlich nicht.« Er strich mir sanft über die Wange und küsste mich.

  »Nein, so was nicht.« Ich lächelte.

  Wir machten es uns auf unserem Lager bequem und ich kuschelte mich wieder an Lucien. Zufrieden schloss ich die Augen. Wir schwiegen und hörten nur das entfernte Geräusch einer TransUnit und die Schreie eines Vogels. Luciens Finger streichelten träge über meinen Rücken. Ich spürte seinen Herzschlag unter meiner Hand.

  Nie hätte ich gedacht, dass ich so bald nach Knox wieder etwas für jemanden empfinden könnte. Aber das tat ich. Ohne große Gegenwehr hatte Lucien de Marais sich in mein Herz geschlichen und dort breitgemacht. Nun war ich nicht nur Teil des Hofes und der Schakale, ich war auch ein Teil von ihm. Es fühlte sich richtig an, aber auch zerbrechlich. Noch hatte ich keine Lösung gefunden, wie ich dieses neue Leben bewahren konnte.

  »Hast du ständig Angst um Leopold?«, fragte ich irgendwann.

  »Nicht ständig. Ich vertraue den Sicherheitsvorkehrungen in der Festung. Aber wenn er nicht hier ist? Ja, sehr oft.«

  »Es ist bestimmt nicht einfach, er zu sein.«

  »Nein, sicher nicht.« Lucien verlagerte sein Gewicht. »Du hast ihn heute kennengelernt. Magst du ihn?«

  Ich nahm den Kopf von seiner Schulter. »Ob ich ihn mag?« Was war das denn für eine Frage? »Ich …« Gestern hätte ich die Frage verneint, aber heute lagen die Dinge anders. Die Abkehr war die richtige Entscheidung gewesen. Sogar das Clearing wurde in diesem Licht igendwie … verständlich, auch wenn ich den Gedanken angesichts von Knox’ Schicksal nicht wirklich annehmen konnte. »Ich weiß es nicht. Aber er ist ziemlich beeindruckend, das muss man ihm lassen. Und er flucht weniger als du.«

  »Bei seiner Erziehung haben meine Eltern sich mehr Mühe gegeben.« Lucien grinste. »Worum ging es, als ich reingeplatzt bin? Das sah ernst aus.«

  »Wir haben über den PointOut gesprochen.«

  Er pfiff durch die Zähne. »Alle Achtung. Wenn er jetzt schon mit dir darüber redet, vertraut er dir. Das ist mehr, als viele andere in der Festung von sich behaupten können.«

  »Oder er weiß, dass ich das alles wieder vergessen werde, wenn ich rausfliege«, gab ich zu bedenken.

  »Das wirst du nicht, vertrau mir.« Lucien küsste mich flüchtig auf die Stirn.

  »Ich hoffe es«, sagte ich nachdenklich. »Glaubst du, er hat recht?«

  »Womit?«

  »Dass es unklug wäre, wenn man der Bevölkerung vom PointOut erzählt.«

  Lucien hob die Schultern. »Wahrscheinlich schon. Leopold hat damals, nach dem Vorfall bei ArtificialResources in Südkorea, versucht, in unserer eigenen Firma das Thema zu diskutieren. Aber die Entwicklungsleiter bei AchillTechnologies fanden die Möglichkeit nur faszinierend und nicht gruselig.« Er seufzte. »Menschen sind in der Regel ziemlich arrogant, was künstliche Intelligenzen angeht. Keiner von denen hat verstanden, dass es nur Sekunden braucht, um uns zur Nummer zwei auf dem Planeten zu machen.«

  »4,3 Sekunden«, sagte ich.

  »Exakt.« Lucien nickte. »Sogar der Schakal, der damals in Asien war, hielt es für eine großartige Chance. Er hat meinem Vater dazu geraten, ebenfalls KI-Systeme von ExonSolutions einzusetzen.«

  »Und dein Vater hat darauf gehört«, stellte ich fest.

  »Der Typ war damals sein absoluter Liebling. Dad hat immer auf ihn gehört.«

  »Arbeitet er heute noch für euch?«

  Lucien schüttelte den Kopf. »Leopold hat
ihn kurz vor der Abkehr entlassen.«

  »Wegen seiner Ansichten?«

  »Nein, nicht nur. Es war vor allem wegen seiner Gefühle. Der Typ hatte etwas mit Amelie.«

  »Das ist ein Grund, rausgeworfen zu werden?« Ich machte Anstalten aufzustehen. »Dann sollte ich wohl packen.«

  Lucien machte »Pffft« und hielt mich zurück. »Sei nicht albern. Erstens ist das lange her und zweitens bin ich nicht sie. Ich darf alles.« Er grinste breit.

  »Hoffen wir es«, murmelte ich. Dann kam mir ein Gedanke und in meinem Kopf fielen mehrere Puzzleteile an ihren Platz. Ruckartig sah ich auf.

  »Der Agent, von dem du sprichst … könnte es sein, dass er hinter den Anschlägen auf die Schakale und Leopold steckt?« Dieser Mann, der mit Amelie zusammen gewesen war, musste Ferro sein. Deswegen machte er aus der Sache auch eine persönliche Angelegenheit. Es ging bei ReVerse also gar nicht nur um die Abkehr, sondern auch um Rache, Rache aus enttäuschter Liebe. Die älteste Geschichte der Welt.

  »Das kann nicht sein«, sagte Lucien. »Er ist vor fünf Jahren gestorben.«

  »Bist du sicher?« Es war gefährlich, ihn auf diese Spur zu bringen. Wenn man Ferro fasste und er über ReVerse auspackte, wären nicht nur meine Freunde, sondern auch ich geliefert. Aber wenn ich ihn unauffällig auf den Schirm der Schakale brachte, bewahrte ich Lucien vielleicht davor, noch einmal auf Ferro angesetzt zu werden, ohne seinen Gegner zu kennen. Ich musste es riskieren.

  »Du meinst …?« Lucien legte die Stirn in Falten und ich sah es dahinter arbeiten. Dann stand er auf und hielt mir die Hand hin. »Ich muss dein Terminal benutzen.«

  Eine alberne »Die Luft ist rein«-Szene und einige flinke Handbewegungen später tat sich in meinem Zimmer eine ganz neue Welt auf. Auf dem Terminal, das sonst außer Stundenplänen und Mitteilungen nichts zu bieten hatte, war das gesamte Archiv der königlichen Datenbank zu sehen.

  »Meinst du, ich könnte die Autorisierung einfach behalten, wenn du gehst?«, fragte ich halb im Scherz.

  »Klar«, sagte Lucien gönnerhaft. »Wenn du Besuch von ein paar Jungs in Schwarz haben willst, die dich als Verräterin festnehmen, ist das eine Spitzenidee.«

  Ich schluckte. »Na, dann vielleicht doch nicht.«

  »Du würdest wahrscheinlich eh daran verzweifeln. In dem Ding findet sich niemand zurecht.« Lucien wühlte sich durch die Datenmatrix, ein unübersichtliches Feld aus Kästchen und Linien. Genervt stöhnte er auf. »Soll ich dir was sagen? Ich vermisse es. Ich vermisse das ganze virtuelle Zeug und die automatischen Systeme, die man mit einem einzigen Gedanken bedienen konnte.«

  »Ja, ich auch. Aber am Ende verzichte ich lieber darauf, wenn ich dafür nicht von einer KI getötet werde.« Moment. Hatte ich das wirklich gerade gesagt? Waren wir hier bei Von der Revoluzzerin zur Königsgetreuen in 24 Stunden – ein Kurs von und mit Ophelia Scale? Irgendwie schon. Es hatte aber auch keiner ahnen können, dass Leopold den PointOut aus dem Hut zaubern würde.

  »Das ist mein Mädchen«, grinste Lucien und drückte mir einen schnellen Kuss auf die Wange. »Okay, hier haben wir es.« Er zog eine Datei aus dem Ordner und vergrößerte sie zum Vollbild.

  Es war eine alte Akte der Schakale mit dem Lilien-Logo des Marais-Konzerns und der Kennung des Agenten. Ein Bild öffnete sich und zeigte einen deutlich jüngeren Ferro mit kurzen Haaren.

  »Samuel Parcival Ferro«, las Lucien, »geboren 10. Oktober 2100 in Hererra City.« So hatte man Barcelona vor der Abkehr genannt. »Er war beim Militär und ist mit 20 dann zu den Schakalen gekommen. Cohen hat ihn persönlich ausgebildet.«

  »Cohen Phoenix?« Ich sah auf den Screen.

  »Genau der. Er kümmert sich nur selten selbst um Rekruten. Wenn er es bei Ferro getan hat, dann muss er vielversprechend gewesen sein.«

  »So wie du?«

  Lucien hob die Schultern. »Nein, bei mir konnte er das nicht wissen. Er war einfach neugierig, ob er aus einem 16-jährigen Adrenalinjunkie einen brauchbaren Agenten machen kann.«

  »Du wurdest schon mit 16 Jahren ausgebildet?« Schockiert sah ich ihn an.

  »Habe ich das nie erwähnt?«, antwortete er lapidar.

  »Nein, hast du nicht.«

  »Dann war es wohl nicht so wichtig.«

  »Aber –«

  »Ich kann nicht lange über dein Terminal auf die Daten zugreifen, ohne dass die Zentrale etwas merkt«, würgte Lucien mich ab. »Ich möchte nicht, dass du Ärger bekommst.«

  Widerwillig nickte ich, als er mich wieder einmal vertröstete, sobald ich Näheres über seine Tätigkeit als Schakal wissen wollte. Aber meine Angst vor Phoenix wuchs mit jedem Wort über ihn. Dass Leopold auf ihn hörte und Lucien ihm förmlich gehörte, machte den Chef der Schakale zu einem sehr mächtigen Mann.

  Ich richtete meinen Blick wieder auf den Screen. »Du hast gesagt, dass Ferro tot ist. Wie starb er?«

  »Davon steht hier ni–, ah, doch.« Lucien rief eine neue Datei auf. »Er ist Dufort bei einem Auftrag in die Quere gekommen.«

  Da ich wusste, dass Ferro noch lebte, las ich den Bericht genauer. Es ging um den Hinterhalt in einem andalusischen Dorf, in den Dufort geraten war. Ferro wurde nicht als der dafür Verantwortliche erwähnt. Aber es stand zwischen den Zeilen, dass man ihn verdächtigte.

  »Die haben sich nie leiden können«, sagte Lucien, der mitgelesen hatte. »Dufort hat mir erzählt, dass Ferro arrogant war und gefährliche Ansichten vertrat, die ihn auf die Seite unserer Gegner trieben. Deshalb musste Leopold ihn auch rauswerfen: Er hat Amelie damit angesteckt.«

  Ich konnte sie dafür nicht verurteilen. Ich hatte Ferro schließlich auch geglaubt. »Hast du ihn je kennengelernt?«

  »Wahrscheinlich schon, aber ich erinnere mich nicht an sein Gesicht.« Lucien schüttelte den Kopf. »Vor der Abkehr waren die Schakale allerdings auch völlig uninteressant für mich.«

  Wir vertieften uns wieder in die Dokumente.

  »Es gibt wirklich keinen Nachweis, dass er tot ist«, sagte Lucien und legte den Finger auf ein paar Zeilen. »Dufort schreibt nur, dass er eine Detonationskapsel in das Haus geschossen hat, in dem Ferro sich aufhielt. Er konnte aber nicht nachsehen, ob er wirklich tot ist.« Er runzelte die Stirn. »Verdammt. Es könnte sein, dass er überlebt hat.«

  Ich nickte mit dem Kopf, sagte aber nichts. Es war nicht klug, wenn ich zu eifrig wirkte.

  Lucien scrollte weiter. »Es würde zumindest Sinn ergeben, dass er hinter allem steckt. Er hat das entsprechende Wissen, ist auf Rache aus und nimmt das Ganze persönlich. Außerdem hat er einen Grund, andere Schakale anzugreifen – und gleich mehrere, Leopold tot sehen zu wollen. Wir werden das auf jeden Fall überprüfen.« Er nickte und loggte sich aus.

  Erleichtert atmete ich auf. Das bedeutete, er würde nun sicher nicht wieder als Köder in irgendeine menschenverlassene Gegend fahren müssen.

  »Wir wären ein ziemlich gutes Team, oder?«, sagte ich grinsend. »Stell dir das vor: Wir beide, wie wir die Bösen zur Strecke bringen …«

  Lucien lachte. »Vielleicht würde ich den Job dann sogar mögen.«

  »Garantiert würdest du das.« Vielleicht gab es diese Zukunft ja. Zumindest war sie heute aus dem Bereich des Unmöglichen in den des eventuell Machbaren gerückt.

  »Aber verrate mir eins«, sagte Lucien plötzlich. Mir stockte der Atem. »Woher hätte Ferro wissen können, dass Leopold in der Villa Mare sein würde?«

  »Puh, gute Frage.« Ich sah ihn an. »Vielleicht verfügt er über einen Informanten hier in der Stadt? Leopold hat mir heute den Auftrag erteilt, mich bei den Anwärtern umzuhören. Es könnte sein, dass der Tipp von dort kam.«

  »Glaubst du das auch?«

  Ich zuckte mit den Schultern und lehnte mich an die Wand. »Keine Ahnung. Die Tests waren extrem hart, und ich schätze, die Gesinnung der Anwärter wurde sehr genau unter die Lupe genommen. Aber es könnte sein, dass jemand durchgerutscht ist.« Ich spielte die Nummer richtig gut, fand ich. Aber ich hatte kein wirklich schlechtes Gewissen. Meine Information mochte das Attentat möglich gemacht haben, aber ich hatte Leopold gerettet, und nun, da ich so viel mehr über die Abkehr wusste, würde ich es doppelt wiedergutmachen.
Sofern ich damit davonkam.

  »Wie willst du vorgehen?«, fragte Lucien.

  »Ich werde abwarten und die Ohren offen halten. Wenn hier jemand für Ferro arbeitet, muss er irgendwann aus der Deckung.« Schon seit dem Gespräch mit Leopold hatte sich der Gedanke in meinem Kopf festgesetzt, dass es am besten wäre, wenn ich einen Verdächtigen präsentieren könnte. Aber wie, wenn ich keinen Unschuldigen zum Tode oder zu einem Clearing auf null verurteilen wollte? »Sag mal …« Ich sah Lucien an »Wenn es einer der Anwärter gewesen wäre, was würdet ihr dann mit ihm machen?«

  »Kommt darauf an.« Er zuckte mit den Schultern. »Bei eindeutigen Beweisen würde es wohl den üblichen, kompromisslosen Gang gehen. Aber wenn derjenige nur ein Handlanger gewesen ist, vielleicht sogar ausgenutzt wurde … es hängt von den Umständen ab. Wir wollen keine kleinen Fische fangen, sondern wissen, wer dahintersteckt. Warum fragst du?«

  »Nur so. Manche der Rekruten sind meine Freunde. Es ist mir unangenehm, sie auszuspionieren.« Ich lächelte schief und überspielte damit, dass Luciens Worte mich auf eine Idee gebracht hatten. Vielleicht gab es doch einen Ausweg aus diesem Dilemma.

  »Kann ich verstehen. Aber manchmal geht es nicht anders. Wenn du irgendetwas brauchst, sag Bescheid.« Lucien grinste. »Ich habe ganz gute Kontakte.«

  »Gut zu wissen«, sagte ich lachend, und dachte kurz nach. »Ein WrInk Access für die Zimmer der anderen wäre wahrscheinlich ein Anfang.« Damit kam ich in alle Wohneinheiten meiner Mitrekruten.

  Bisher hatte ich keine Ahnung, ob das nützlich sein würde. Aber es war naheliegend, dass ich danach fragte, wenn ich ermitteln sollte.

  »Ich kümmere mich darum. Aber erst morgen.« Lucien grinste und legte die Arme um meine Hüften. Seine Nase stieß sanft an meine.

  »Ich bin froh, dass du wieder da bist«, sagte ich leise.

  »Ich auch.«

  »Heißt das, du bleibst heute Nacht hier?«

  »Ich kann nicht.« Er verzog das Gesicht. »Ich muss um sieben Uhr zum Appell antreten, weil Phoenix die Ereignisse in der Villa Mare persönlich mit mir durchsprechen will.«

  »Ach, ich schreibe dir eine Entschuldigung.« Ich grinste und schob meine Hände unter sein Shirt. Zufrieden registrierte ich, wie Lucien darauf reagierte.

 

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