by Nikola Hotel
Sergius liebte klare Ansagen, so viel wusste ich. Ich hob also den Stuhl an. »Wenn du reinkommst, dann schlage ich dir den Schädel ein!«
»Isabeau?«
Das war nicht Sergius’ Stimme. Erleichtert ließ ich den Stuhl sinken. Für Sekunden kippelte er, dann stand er still. Meine Beine waren fast genauso wackelig. Hastig drehte ich den Schlüssel im Schloss und zog die Tür erleichtert auf.
Alexej sah erschöpft aus. Auf seiner Stirn hatten sich trotz der Kälte Schweißperlen gebildet, und er stützte sich mit einer Hand am Türrahmen ab. »Ich dachte schon, du wolltest uns draußen erfrieren lassen.«
Uns?
Ich wich zurück, als hinter ihm eine weitere Gestalt auftauchte. Die Gestalt, die ich schon am Fenster zu sehen geglaubt hatte.
Sergius hatte sein gewohnt überhebliches Grinsen aufgesetzt. »Hast du uns für Einbrecher gehalten?« Er schnalzte mit der Zunge. »Glaub mir, diese rostige Blechtür würde nicht wirklich jemanden aufhalten, der sich ernsthaft vorgenommen hat, dir einen Besuch abzustatten.«
In meinen Ohren klang das wie eine Drohung. Aber als ich Alexej einen Blick zuwarf, zuckte der nur mit den Schultern. Er humpelte durch die Tür, da erst sah ich, dass er verletzt war. Über seine linke Seite zogen sich dicht nebeneinander drei blutende Risse.
»Was ist passiert?« Ganz automatisch schoss mein Blick zu Sergius. Ihm würde ich alles zutrauen. Auch, dass er Alexej hinterrücks mit einem Messer attackierte.
Er habe schlicht nicht aufgepasst, murmelte Alexej über seine Schultern hinweg, während er in meinem winzigen Badezimmer verschwand. Ich hörte ihn eine der beiden Schranktüren öffnen und folgte ihm.
Da er mir den Rücken zukehrte, fiel mir als Erstes der Kolkrabe ins Auge, der zwischen seinen Schulterblättern tätowiert worden war. Die Flügel, die sich normalerweise weit ausbreiteten, hatten sich gekrümmt und bedeckten den Rabenkörper wie einen Mantel. Völlig gebannt davon, wie lebendig dieses Tattoo aussah, blinzelte ich und trat näher. Es war unmöglich, dass sich diese Tätowierung veränderte – und doch sahen mich zwei Vogelaugen unendlich traurig an, und aus dem klobigen Schnabel schien ein Schnarren zu kommen. Langsam hob ich die Hand, um den Kopf des Tieres zu berühren.
»Kann ich dir helfen?« Ich wusste nicht, ob ich zu Alexej sprach oder doch viel mehr zu dem Raben, der auf seiner Haut zu leben schien. Alexej drehte sich um, bevor meine Finger ihn berührten, und ich nahm ihm die Jodtinktur ab, die er aufgeschraubt hatte. Ich benetzte eine Kompresse mit der rotbraunen Flüssigkeit. Bevor ich die Wunde vorsichtig damit abtupfte, wischte ich das Blut darum herum mit einem sauberen Tuch ab.
Durch seine Zähne gab Alexej ein Zischen von sich, kaum dass ich ihn mit dem Jod berührte. Am liebsten hätte ich ihn gebeten, sich umzudrehen. Ich wollte unbedingt wissen, ob der Rabe das Brennen des Desinfektionsmittels ebenfalls gespürt hatte. Fast kam es mir vor, als würde mir das Tier die Gefühle offenbaren, die Alexej immer zu verbergen suchte. Als wäre es sein wahres Gesicht, wie das Bildnis des Dorian Gray, das alterte, während der echte Mann unverändert jung blieb. Bei diesem Gedanken stellten sich mir die Nackenhaare auf.
»Wobei hast du nicht aufgepasst?«, fragte ich nach, um meinen Schauer zu unterdrücken. »Und jetzt bitte keine Ausreden. Du musst mich wirklich nicht schonen.« Ich zwinkerte ihm zu, um ihn aufzumuntern, aber innerlich erstarrte ich jetzt schon bei der Vorstellung, in welcher Gefahr er schwebte, wenn er sich in seiner Rabengestalt befand.
»Ein Habichtweibchen. Sie hat auf ihrem Ansitz gelauert. Ich habe sie schon von Weitem gehört, aber nicht damit gerechnet, dass sie mich in der Dämmerung noch angreifen würde. Vielleicht bin ich ihrem Horst zu nahe gekommen, ich weiß es nicht.«
»Das muss bestimmt genäht werden.« Mit dem Kinn nickte ich zu der Wunde, die zwar aufgehört hatte zu bluten, aber mir dennoch zu tief erschien, um sie bloß mit einem Pflaster zu bedecken. Aber Alexej schüttelte den Kopf, deshalb nestelte ich seufzend mehrere sterile Klebestreifen aus ihrer Verpackung.
»Ich sollte vielleicht mal meinen Erste-Hilfe-Kurs auffrischen. Bei euch Raben weiß man nie, wer als Nächstes verwundet wird. Oder getötet.« Ich zuckte über meine eigenen Worte zusammen. Isa, du bist so eine Idiotin! Was für eine furchtbar dumme Bemerkung!
Alexej sagte keinen Ton.
»Es tut mir leid«, stammelte ich und klebte mit fahrigen Fingern die Stripes quer über die Wundränder, bevor ich die Stelle mit einem Verbandsmull abdeckte.
Unbeholfen wickelte sich Alexej ein breites Duschtuch um die Hüften. Aus einer Eingebung heraus nahm ich die blutbefleckte Kompresse und schob sie mir unauffällig in die Hosentasche. Als Sergius mich plötzlich durch die offene Badezimmertür ansprach, spürte ich, dass ich rot wurde. Dann nahm ich erleichtert wahr, dass er sich bei Alexejs Sachen bedient hatte. Glücklicherweise hatte ihm eine seiner Hosen gepasst und ich war nicht gezwungen, gleich mit zwei entblößten Männern in meinem Zimmer zu stehen, von denen der eine der Mann war, den ich liebte, und der andere derjenige, den ich fürchtete.
»Deine kleine Freundin sollte dir vielleicht erzählen, was genau mit Ferenc passiert ist. Das lässt die Attacke des Habichtweibchens in ganz anderem Licht erscheinen.« Sergius hatte die Arme über seiner nackten Brust verschränkt und knetete seine Oberarme, während sein Blick an mir herabglitt und an meiner Hand hängen blieb, die eben die Kompresse eingesteckt hatte. Mir wurde noch heißer, und ich nickte schnell.
»Sein Körper wurde von einem Wanderfalken abgeworfen«, sagte ich.
»Tatsächlich?« Alexej sah skeptisch aus.
»Und es war kein freier Wanderfalke«, fügte ich mit einem Seitenblick zu Sergius hinzu. »Es war ein abgetragener Falke. Ein Beizvogel. An seinen Füßen waren Lederriemen befestigt. Er hat mich mehrere Male umkreist, deshalb habe ich es gesehen.«
»Das kann auch bloßer Zufall gewesen sein. Jemand hat Ferenc getötet und sein …« Alexej stockte.
Wir wussten alle, dass dieser jemand Nikolaus’ Vater war. Der Vater seines besten Freundes. Alexej verzog keine Miene, und doch war ich mir hundertprozentig sicher, dass der Rabe auf seinem Rücken sich nun vor Schmerzen krümmte. Der Gedanke an Ferenc musste ihm eine Art körperlichen Schmerz verursachen, den ich nicht verstand und auch nicht nachvollziehen konnte. Es gab eine Verbindung zwischen den Raben, die mehr war als Freundschaft oder Empathie. Vielleicht sogar mehr als das, was uns beide verband, dachte ich in einem Anflug von Eifersucht.
»Der Falke hat Ferenc zufällig gefunden, als er schon tot war.« Die Art, wie Alexej nun die Lippen zusammenpresste, verriet mir, dass er nicht weiter darüber reden wollte. Und auch, dass er keine andere Erklärung gelten lassen würde.
»Das Habichtweibchen«, begann ich vorsichtig.
»… war definitiv kein Beizvogel«, unterbrach er mich. »Sie war frei. Und wild.« Er ignorierte Sergius’ Schnauben. »Es ist ein Zufall. Es muss ein Zufall sein.«
Sergius Blick traf den meinen. Und in diesem Sekundenbruchteil hatte ich das Gefühl, statt mit Alexej mit diesem gefährlichen und unberechenbaren Mann genau einer Meinung zu sein.
NACHTFRAGE
ALEXEJ
Isabeau schlief noch, während ich am Fenster auf den Morgen wartete, den Vorhang bis zum Anschlag zurückgezogen. Ich stand mitten in einem Gemälde von Caspar David Friedrich: karge Baumruinen umwabert vom Nebel. Ein milder Wind hatte die Schneedecke angeschmolzen, und von der Traufe tröpfelte es unmelodisch herab. Ich hörte die Geräusche überlaut, wie immer, wenn ich Schwierigkeiten hatte, mich wieder meinem menschlichen Körper anzupassen. Hörte das Rauschen in den Tannenwipfeln und das Knistern, wenn die entlaubten Zweige sich im Wind bewegten. Und ich spürte die Sehnsucht danach, mich abzustoßen. Meine Flügel nach hinten zu strecken und vom Boden abzuheben, um über den Wipfeln zu kreisen, in meiner Kehle ein heiseres »Kriii«.
Mein Magen knurrte, aber anstatt mich auf das Frühstück von Michala zu freuen, auf die Gespräche mit Marek und Lara, drängte es mich nach draußen. Ich wollte Ausschau halten nach Wild, nach einem verendeten Tier, aus dem ich Fleisch und Fettstücke herausreißen konnte. Schuldbewusst zog ich die S
chultern ein und schlüpfte zurück unter die Bettdecke. Das Gestell knarzte, als ich mich ausstreckte. Ich starrte an die Zimmerdecke, fuhr mit dem Blick die Risse in den Holzpaneelen nach und lauschte auf Isabeaus Atem. Meine Hand glitt unter die Decke und tastete nach meinem Verband. Die Stelle, in die der Habicht seine Füße geschlagen hatte, schmerzte kaum noch. Das war keine Wunde, die mich daran hindern würde zu fliegen. Das Einzige, was mich davon abhielt, waren Isabeau und der General. Der General, weil sie von mir verlangte, ein Mensch zu sein, und Isabeau, weil es sie wehmütig machte, wenn ich immer wieder verschwand. Wir sprachen selten darüber und wenn, dann überraschte sie mich mit ihrem ehrlichen Verständnis. Das änderte aber nichts daran, dass ich sie zurückließ.
»Worüber denkst du nach?« Isabeau hielt die Augen immer noch geschlossen. Sie rollte sich auf die Seite und schmiegte sich an mich, ihre Stimme war dabei nur ein Murmeln. Wir schwiegen beide so lange, dass ich schon dachte, sie wäre wieder eingenickt. »An Ferenc?«
»Auch«, antwortete ich ausweichend und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Ich wollte nicht zugeben, dass meine Gedanken davon beherrscht wurden, wie ich am schnellsten wieder verschwinden konnte. Auch wenn es mich innerlich hin- und herriss, war mir klar, dass sich mein Rabenwesen verstärkte. Ob es daran lag, dass die Bedrohung immer greifbarer wurde? Möglich. Es kam mir so vor, als wäre unser Schwarm eine Gruppe von Gegnern. Gleich den Antikörpern, die sich bildeten und vermehrten, sobald ein Virus sich ausbreitete.
Wassilij war der tödliche Virus in unserem Biotop. Und je stärker er uns bekämpfte, umso stärker klopfte mein Rabenherz und verdrängte das Menschliche in mir. Bereits jetzt nahm ich das Flattern meiner Lider wahr und unterdrückte dieses wohlige Ziehen, das meine Glieder erfasste, bevor ich mich verwandelte. Dieses Gefühl war einzigartig. Ein suchtvolles Gemisch aus Schmerz und Erregung, das in mir pochte wie das Tok-Tok eines Spechts. Hart, regelmäßig und ausdauernd. Es würde nicht lange dauern, bis meine Schale nachgab – sie schien ohnehin nur papierdünn zu sein.
»Sergius hat gesagt, du würdest nach Ungarn fliegen müssen. Stimmt das?« Isabeau sagte das leichthin, aber das schnelle Schlagen ihres Herzens, das ich an meinem Oberarm spürte, verriet mir ihre Anspannung. Es brauchte nicht viel, um ihre Angst zu wittern. Sie kroch mir beinahe aus jeder Pore entgegen.
»Es wäre mal eine nette Abwechslung«, gab ich zu.
»Heißt das, du würdest mich mitnehmen?«
Sie bemühte sich sichtlich, ihre Stimme nicht zu hoffnungsvoll klingen zu lassen. Trotzdem gab es mir einen Ruck. Die Vorstellung, mich gemeinsam mit Isabeau in einen Zug zu setzen und Ferencs Familie aufzusuchen, erschien mir geradezu absurd normal. Ich schüttelte den Kopf.
Sie ließ sich nicht anmerken, ob sie mein Nein getroffen hatte. »Das war übrigens eine ernst gemeinte Frage. Wirst du hinfliegen? Du hast mir gesagt, dass ihr alle aus … besonderen Familien kommt. Hat Ferencs Familie auch einen Raben in ihrem Wappen, oder ist das schlicht Zufall?« Sie sah nun alles andere als verschlafen aus, sondern konzentriert, wachsam.
Ich nickte langsam. »Einer seiner Vorfahren war ein berühmter Feldherr, der die Osmanen besiegt hat. In ihrem Wappen befindet sich ein Rabe mit einem Ring im Schnabel. Später trugen sie den Beinamen Corvinus, der auf diesem Raben im Wappen beruht. Hunyadi ist ein uraltes ungarisches Adelsgeschlecht.«
»Findest du es nicht seltsam, dass ihr alle irgendwelche Kriege gegen die Osmanen geführt habt?«
»Ehrlich gesagt überhaupt nicht.«
Als Isabeau ungläubig der Mund offen stand, reizte mich das zu einem Lachen. »Das Osmanische Reich ist bis zum Spätmittelalter so weit in unser heutiges Europa vorgerückt, dass sich Ungarn neben Österreich und Böhmen zu einem seiner größten Feinde herausbildete. Du weißt doch, dass wir alle erzkatholisch sind. Unsere Vorfahren haben an der Seite des Papstes gegen die Ausbreitung des Osmanischen Reichs gekämpft.«
Sie nickte nachdenklich. Über ihrer Oberlippe hatten sich Schweißperlen gebildet. »Deine Hitze ist unglaublich. Keine Ahnung, wie das dein Körper nur aushält.« Sie strampelte die Bettdecke von ihren Beinen. »Der Rabe in deinem Familienwappen hackt auf einen Schädel ein. Ich habe das im Internet gesehen. Ist das …?«
»… ein Türkenkopf, ja.«
»Also hat irgendein blutrünstiger Osmane euch für eure Taten verflucht«, improvisierte sie. »Ihr habt ihn in einer Schlacht endgültig geschlagen, und dafür müsst ihr nun als schwarz gefiederte Wesen durch die Geschichtsbücher flattern.«
»Du vergisst, dass niemand von uns in den Geschichtsbüchern steht. Es gibt allenfalls Legenden. Märchen. Sicher nichts Greifbares, was man interpretieren oder irgendwie auf die Realität übertragen könnte.«
»Legenden über sich in Raben verwandelnde Menschen?« Sie richtete sich im Bett auf und klopfte ihr Kissen auf, bevor sie sich gegen das Kopfende lehnte. »Davon musst du mir erzählen.«
»Das kann ich leider nicht«, gab ich zu. »Ich kann mich … nicht an ein einziges Märchen über Raben erinnern. Kein Märchen, keine Legenden, keine Überlieferungen. Aus mir unerfindlichen Gründen habe ich das wohl verdrängt.« Ich beugte mich zu ihr und ließ meine Lippen sanft an ihrer Schläfe entlangwandern. Als könnte ein Kuss diese Lüge irgendwie abmildern. »Und der General war nun wahrlich die Letzte, die mich auf diese Spur bringen wollte.«
»Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sie das alles vor dir geheim halten wollte. Dass sie niemals versucht hat, dir etwas davon zu erzählen. Sie muss dich doch im Grunde regelrecht belauert haben. Jedes kleinste Anzeichen muss sie direkt in Panik versetzt haben.«
»Du vergisst, dass sich diese Vorzeichen bei mir erst sehr spät zeigten. Sie muss gedacht haben, dass ich schon über den Berg wäre. Nicht alle haben sich so früh verwandelt wie Jaro.« Bei der Erwähnung seines Namens fing Isabeau an zu lächeln, was mir einerseits gefiel, andererseits aber auch ein mulmiges Gefühl verursachte. »Du magst ihn wirklich gerne«, stellte ich fest.
»Sehr.« Sie nickte. »Er ist wie ein kleiner Bruder für mich. Nur dass er viel netter ist als mein Bruder Timo.«
»Mmh.« Meine Stimme war mehr ein Brummen.
»Aber um noch einmal auf die Märchen zurückzukommen: Ich sollte dich darauf aufmerksam machen, dass die Verwandlung in einen Raben immer eine Art Bestrafung gewesen ist. Also bei den Gebrüdern Grimm zum Beispiel. Nicht dass ich dich damit irgendwie beunruhigen möchte.« Sie grinste breit und rutschte in ihrem Kissen nach unten, sodass die beiden Zipfel wie übergroße Ohren ihr Gesicht einrahmten. »Da ich euch alle … also fast alle für absolut anständig halte, müssen eure Vorfahren etwas wirklich Blödes angestellt haben.«
»Und was schwebt dir da so vor?«, fragte ich amüsiert.
»Ich habe keine Ahnung. Aber bestimmt war es irgendwie frevelhaft. Wie du schon sagtest, stammt ihr alle nicht nur aus adeligen Familien, sondern auch aus christlichen. Äußerst christlichen, also katholischen Familien.« Sie verdrehte die Augen. »Und dass die Kirche sich oftmals sehr wenig christlich verhalten hat, müssen wir bestimmt nicht diskutieren.«
»Und was sollen wir, also unsere Vorfahren, deiner Meinung nach getan haben?«
»Verrat, Raub, Mord, Totschlag, such dir was aus.«
Sie sagte es mit einem Augenzwinkern, und doch war das ein ganz neuer Aspekt, denn bisher hatte ich es vermieden, mich als Täter zu sehen. Nein, wenn ich ehrlich war, hatte ich es vor allem vermieden, mich als Opfer zu sehen. Aber wer wusste schon, ob unsere Vorfahren – die Männer, auf die sich unser Rabenwesen gründete – einen moralischen Kompass in der Brust gehabt hatten? Ich wusste es nicht. Aber es war auch nichts, worüber ich ernsthaft nachdenken wollte, solange Isabeau so warm und bettschwer in meinen Armen lag. Meine Hand glitt über ihr Nachthemd, das ein wenig verschwitzt an ihr klebte. Mein Mund suchte ihren, und als ihre Zunge meine berührte, vergaß ich sofort alles, was Ferenc und meinen Schwarm betraf. Ich schob ihr Nachthemd nach oben und ließ meinen Mund zwischen ihren Brüsten nach oben wandern. Sie winkelte ein Bein an und schlang es um meine Mitte. Im nächsten Augenblick drückte sie mich zurück in das Kissen und setzte sich rittlings au
f meinen Bauch. Das Haar fiel ihr ins Gesicht, und im bläulichen Licht des Sonnenaufgangs war alles an Isabeau dunkel, schwer und verlockend. Mit beiden Händen umfasste ich ihre Hüften. Als sie sich vorbeugte, streiften ihre Brustspitzen meinen Oberkörper.
»Alexej?«, flüsterte sie.
Mir war weiß Gott nicht nach reden zumute. »Halt den Mund«, sagte ich wenig liebevoll und biss ihr dafür umso zärtlicher in die Oberlippe. Sie beantwortete meine Reaktion mit einem Kichern. Ihre Hand tastete nach meinem Schaft und fuhr daran herab, brachte ihn zum Pulsieren. »Was wäre …«, sie küsste mich und legte dann ihre Lippen an mein Ohr, sodass mich eine Gänsehaut überlief, »… wenn wir ein Baby bekommen würden.« Ihre Stimme war nur mehr ein Hauch, sodass ich glaubte, mich verhört zu haben. Außerdem war es fast unmöglich, klar zu denken, wenn man gleichzeitig von einem Gefühl feuchter Hitze umfangen wurde. In meinem Kopf war nur Platz für dieses süße Ziehen, alles andere verschwamm zu konturlosen Wortfetzen. Baby? Hatte sie etwas von einem Baby gesagt? Ich küsste sie schnell, fast fahrig. Mein Unterleib bewegte sich rhythmisch. Die Art, wie sie sich an mir rieb, zerbröselte meine Gedanken zu Staub.
»Würde es so werden wie du?«
Offenbar war ihr dieser Gedanke sehr wichtig, wenn sie ausgerechnet jetzt davon anfangen musste. Ich murmelte etwas Unverständliches.
»Wenn es ein Junge wäre, würde er sich in einen Raben verwandeln?«
»Wer?«, murmelte ich an ihren Hals. Gott, sie roch so unfassbar gut!
»Unser Baby.«
Erst jetzt begriff ich, wovon sie sprach. Und im selben Moment erstarrte ich.
SCHWARMBANDE
ISABEAU
Das war ein Fehler. Ein ganz blöder Fehler! Alexej versteifte sich. Mit einer Handbewegung wischte er sich das verschwitzte Haar aus der Stirn, dann schlang er die Arme um mich und rollte uns auf die Seite. Ich spürte, wie er sich von mir zurückzog, und ein Gefühl des Verlusts kroch mir bis in die Kehle hinauf.
»Vergiss meine Frage«, sagte ich hastig.