Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition)

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Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition) Page 3

by Nikola Hotel


  Doch Alexej hatte mir diesen Boden unter den Füßen weggezogen. Alles, was ihn betraf, sprach der Realität und der Wahrheit zuwider. Und darüber nachzudenken war, als würde ich immer wieder mit der Zunge gegen einen entzündeten Zahn stoßen. Es war lustvoll und schmerzhaft zugleich.

  Es musste eine natürliche Erklärung geben, denn etwas wie ein Fluch fühlte sich für mich einfach nur falsch an, hatte sogar etwas Lächerliches an sich. Und an den Raben war nichts, aber auch gar nichts Lächerliches. Im Gegenteil. Manche von ihnen empfand ich sogar als bedrohlich. Sergius zum Beispiel. Sobald er in meiner Nähe war, überlief mich ein Schauer, fingen meine Hände an zu schwitzen, und ich suchte unwillkürlich nach einem Fluchtweg. Dabei hatte er nach dem Verschwinden der Bluthunde nie wieder versucht, mich anzugreifen. Als wäre ihm mit einem Mal bewusst geworden, dass er genauso zum Schwarm gehörte wie alle anderen. Doch innerlich lauerte ich nur darauf, dass er wieder ausbrach.

  Das nächste Geräusch, das ertönte, war das Klingeln des Telefons. Schnell, bevor Lara oder Marek darauf aufmerksam werden konnten, warf ich mich über den Schreibtisch und riss den Hörer herunter.

  »Hallo?«

  »Du solltest diesen Vogel obduzieren lassen, auf das Ergebnis wäre ich echt gespannt.« Roman klang amüsiert. Wenn er aber extra wegen dieses Befundes anrief, musste das mehr zu bedeuten haben.

  »Ich habe ihn leider nicht mehr«, gestand ich.

  »Ist klar, das würde ich auch behaupten, wenn ich einen Mutanten gefunden hätte. Woran ist der Vogel denn gestorben?«

  Weshalb nur betonte er das so komisch? So langsam brachte mich seine ironische Art auf die Palme. »Ich weiß nicht, was das soll, Roman. Der Vogel ist von einem Wanderfalken erwischt worden. Irgendwas stimmt doch da nicht. Ich komm nur nicht drauf, was es ist.«

  Am anderen Ende der Leitung hörte ich Roman schnauben. »Was lernt ihr eigentlich an einer deutschen Uni? Ich bin entsetzt, ehrlich. Seit wann haben Vögel denn solche Erythrozyten? Ich weiß nicht, was du mir hier unterjubeln willst, aber Vogelblut ist das jedenfalls nicht!«

  »Ich finde die Form ja auch seltsam. Die roten Blutkörperchen sehen aus wie Tropfen –«

  »Das ist wohl das geringste Problem«, schnauzte Roman. »Als Studentin – in welchem Semester bist du noch mal? – solltest du eigentlich wissen, dass die Erythrozyten im Vogelblut einen Zellkern besitzen. Das Fehlen eines Zellkerns ist absolut einzigartig im ganzen Tierreich, und das findest du nur bei Säugetieren. Also erzähl mir nicht, das wäre Vogelblut, denn das ist definitiv das Blut eines Säugers.«

  Es fühlte sich an, als hätte mir Roman den Telefonhörer um die Ohren gehauen. Wie konnte ich so was nur vergessen? Und wieso war mir das nicht aufgefallen? Dieses Vogelblut war anders, weil es im Gegensatz zu allen anderen Vogelarten keinen Zellkern besaß. Und somit befand sich zumindest in den Erythrozyten auch keine nachweisbare DNA. Das bedeutete aber, dass Wassilji allein mit dem Blut keine großen Untersuchungen anstellen konnte. Er hatte jedoch viel mehr als das erbeutet. Doch was würde er tun, wenn er nicht die Antworten fand, die er brauchte? Würde er sich neues Material suchen? Menschliches? Keine Ahnung, warum Sergius sich so sicher gewesen war, dass Ferenc sich ohne Herz nicht zurückverwandeln würde, aber es klang in meinen Ohren durchaus plausibel.

  »Bis wann kannst du mir die Probe schicken?«

  Romans Frage brachte mich in einen Konflikt. Einerseits hoffte ich natürlich, dass er mehr herausfand als ich, andererseits konnte ich ihn unmöglich einweihen. Und wenn er die Probe einmal in den Händen hielt, dann würde er zwangsläufig Fragen stellen.

  »Also?« Er klang ungeduldig, wenn nicht sogar ziemlich mürrisch.

  »Ich glaube, das hat wenig Sinn«, druckste ich herum. »Ich habe keine Blutprobe mehr, nur diesen Objektträger, und das Blut ist schon eingetrocknet.«

  »Das ist mir egal. Ich will dieses Material auf meinem Tisch haben. Am besten heute noch. Schick es mir per Kurier an das Labor in der Nové Město.«

  Ich holte tief Luft, die ich dann nur langsam ausblies, während meine Gedanken rasten. »Okay. Aber du musst mir eines versprechen –«

  »Soll ich einen Blutschwur leisten?« Er lachte heiser, doch mich überlief bei dieser flapsigen Antwort gleich ein Schauer.

  »Versprich mir einfach, dass du das alles für dich behältst, ja? Und stell mir keine Fragen.«

  Er schnalzte mit der Zunge. »Vergiss es! Du schickst mir das Material, ich hole heraus, was geht, und du hörst auf, mir irgendwelche Märchen zu erzählen. Scheiße, ich hoffe, dass keine Genmanipulation dahintersteckt.« Er legte auf.

  HABICHTSGESANG

  ALEXEJ

  Wir sind ein Schwarm. Ein Schwarm. Ich sagte mir das immer wieder, während ich Orlík nad Vltavou hinter mir ließ, um zu den anderen zurückzukehren. Es passte mir zunehmend weniger, mich in der Gemeinschaft unterzuordnen, und doch war es unsere einzige Chance. Ferencs Körper hatte ich zurückgelassen, der General würde sich seiner annehmen. Außerdem war er zu schwer. Wie Sergius ihn so weit hatte tragen können, war mir ein Rätsel. Und mich ärgerte dieses Spiel, das er spielte. Sergius schien das alles nicht ernst zu nehmen. Weder das Leben im Schwarm noch den Tod. Er würde sich in jeden Kampf stürzen, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass er sterben könnte. Manchmal kam es mir sogar so vor, als suchte er danach, als sehnte er sich nach dem Tod. Und obwohl ich lange Zeit mit meinem Rabenwesen gehadert hatte, unterschied uns das voneinander. Ich war nicht lebensmüde, denn Isabeau hatte mir einen Grund gegeben zu kämpfen. Ich war kein bisschen lebensmüde.

  Unter mir lag die Moldau wie ein dunkelgrüner Tümpel, glanzlos und trüb, beinahe regungslos. Mit kräftigen Ruderschlägen trieb ich mich in die andere Richtung voran, verließ den Flusslauf und sah bald nur noch karge Felder und Fichtenwälder unter mir, deren Spitzen silbrig in den Himmel ragten. Ich vermied es, in Stadtnähe zu gelangen, und überflog die Otava, die sich wie eine Natter durch das Gelände schlängelte. Der Wald umfing mich mit schneegedämpften Geräuschen. An einer Stelle, wo sich die untergehende Sonne durch die dichten Zweige brach, hörte ich die stampfenden Geräusche eines Rothirschs. Aus seinen Nüstern dampfte der Atem, als er mit dem Vorderhuf die vereiste Schneedecke aufkratzte. Mein Auftauchen störte ihn nicht, er senkte den Kopf und schnaubte in den Schnee – sein Schatten zog sich dabei länger, als er selbst es war.

  Weit entfernt gickerte ein Habicht, als ich in einer kahlen Eichenkrone landete, um mich auszuruhen. Von meinem Schwarm war keine Spur zu sehen, deshalb stieß ich einen krächzenden Laut aus, der von den Bäumen zu mir zurückgeworfen wurde. Nebel zog auf und verschluckte alle Farben. »Kroak!«, krächzte ich und gab dann mehrmals hintereinander einen Lockruf von mir. Doch durch die milchweiße Nebelwand drang weder ein Laut zu mir, noch sah ich einen meiner Gefährten aufflattern. Ich stieß mich vom Baum ab und glitt in einem sanften Bogen zu Boden. Gemächlich stakste ich über den Schnee, der so hart gefroren war, dass die Samen der Fichten vom Wind darüber hinweggepustet wurden. Etwas flatterte auf. Ich reckte den Kopf und sprang mit einem Satz auf einen Ast. »Kraa?«

  Als Antwort wummerten Flügelschläge durch die Luft. In der nächsten Sekunde ließ ein Schrei mich zusammenzucken. Mit nach vorne gereckten Klauen schoss der Habicht zwischen zwei Bäumen auf mich zu. War ich seinem Horst so nahe gekommen? Überrascht schlug ich die Flügel nach hinten und brach zur Seite aus. Schwingen streiften mich. Mit einem Schrei stob ich durch die Luft, rettete mich im Slalom zwischen den Baumstämmen hindurch. Doch der Habicht gab nicht auf. Fast ohne Laut folgte er mir und griff mich erneut an. Ich sah seine scharfen Augen aufleuchten wie zwei Kupfermünzen. Seine Brust weitete sich kraftvoll und verzog die dunkelbraunen Tupfen seines Gefieders zu Halbmonden. In wenigen Augenblicken würde er mir seine Klauen in die Brust bohren wie einen Dolch. Ich krümmte meine Flügel und riss die Krallen nach vorn.

  In letzter Sekunde.

  Unsere Klauen verhakten sich. Mit einem Kreischen trudelten wir durch die Luft und taumelten dann zu Boden. Kristalle stoben durch die Luft, als ich mit dem Rücken über die Schneedecke rutschte. Der scharfe Schna
bel des Habichts bog sich in mein Sichtfeld. Und ehe ich auch nur einen Schrei ausstoßen konnte, spürte ich einen stechenden Schmerz in meinem Unterleib.

  Im Augenwinkel nahm ich einen Schatten wahr, der an uns vorbeihuschte. Krächzend glitt eine Silhouette durch den Nebel, was den Habicht irritierte. Für einen Wimpernschlag lockerte sich der Griff seiner Krallen, doch er ließ mich nicht gänzlich los.

  Sergius?

  Ich war mir fast sicher, seine Stimme erkannt zu haben. Krähend wand ich mich unter dem Dolchgriff des Habichts. Fester und fester bohrte er seine Füße in mein Fleisch. Er blinzelte nicht einmal, als er sich zu mir herabbeugte und mit dem Schnabel ein Büschel Federn aus mir herausrupfte. Mit einem Ächzen schlug ich die Flügel um mich und hackte nach ihm. Schwarzer Flaum wirbelte auf.

  Am Boden hatte ich keine Chance gegen diesen Raubvogel. Vermutlich ein Weibchen, denn das Tier war wesentlich schwerer als der letzte Habicht, mit dem ich unfreiwillig Kontakt gehabt hatte. Jede Zelle meines Körpers war ein Rabe, und ich wehrte mich mit der Zähigkeit eines jeden Rabenvogels. Wild flatterten wir ineinander verkeilt in die Höhe, nur um danach erneut zu Boden zu stürzen. Mir blieb die Luft weg, denn der Habicht presste sich mit vollem Gewicht auf meine Brust. Ich spürte die Kälte, als Blut aus meinem Gefieder troff. In der nächsten Sekunde traf mich ein Hieb, der mir beinahe die Sinne raubte. Erst als das Habichtweibchen aufschrie und in Panik von mir abließ, nahm ich wahr, dass es eine Faust gewesen war, die uns mit einem Schlag getrennt hatte. Ich fiel zurück in den Schnee.

  »Was bist du nur für ein Vollidiot!« Sergius richtete sich auf und sah dem Habicht nach, der kreischend davonstob. Nur langsam schien die Anspannung von ihm abzufallen, und er ließ die Arme hängen.

  Mühsam unterdrückte ich ein Krächzen und gab endlich dem Drang nach, mich zu verwandeln. Meine Beine sanken im Schnee ein, und Gänsehaut überlief mich, weil der Schnee meine bloße Haut traf. Ich biss die Zähne zusammen, als meine Hand an meine verletzte Seite fasste.

  Das verdammte Habichtweibchen hatte mich mit seinen Krallen beinahe aufgeschlitzt.

  »Man sollte meinen, du wüsstest, wann man als Mensch besser dran ist als ein Rabe.«

  »Es erschien mir irgendwie unfair«, sagte ich schwach, während über mir Sternchen zu tanzen begannen und ich nach der Hand griff, die Sergius mir hinhielt.

  Sobald ich auf eigenen Füßen stand, ließ er mich los und schüttelte stumm den Kopf, dann verzog sich sein Mund zu einem Grinsen. »Tut’s weh?«

  Es fühlte sich in etwa an, als hätte jemand mit einem Messer meine Bauchmuskeln zurechtgeschnitzt, aber das würde ich ihm gegenüber niemals zugeben. So groß war die Wunde auch wieder nicht, und ich versuchte Sergius’ Genugtuung, die ihm aus den Augen sprang, zu ignorieren. Warum nur hatte er überhaupt eingegriffen, wenn er doch so eine perverse Freude daran hatte, mich leiden zu sehen?

  Die beißende Kälte raubte mir fast den Atem »Eigentlich … habe ich mich gar nicht schlecht geschlagen, angesichts dessen, was für ein Gewicht dieses blutrünstige Biest auf die Waage brachte. Außerdem kam der Angriff aus dem Hinterhalt.«

  »Und es ist das erste Mal, dass dir ein Habicht begegnet ist.« Sergius Stimme troff vor Spott. »Anfänger. Sie saß schon über eine Stunde auf dem Ansitz. Du bist ihr wie ein reifer Apfel direkt vor die Füße gerollt.«

  »Nun«, gab ich nach, »du hättest mich auch warnen können.«

  Anstelle einer Antwort zuckte Sergius mit den Schultern. Mit keiner Regung verriet er mir, ob er ebenso fror wie ich. Es war schwer, Sergius zu durchschauen, weil er, wenn er wollte, seine Reaktionen auf das Perfekteste beherrschte.

  »Schaffst du es, zu ihr zu fliegen?« Er hob nicht mal eine Augenbraue an, und doch sah ich die Spur eines Zweifels in seinen grünen Augen, die ein wenig zu eng beieinanderstanden und das Einzige waren, was seinem jungenhaften Gesicht Tiefe verlieh. Ich wusste, dass er Isabeau meinte, auch wenn er ihren Namen nie nannte. Aus irgendeinem Grund hatte Isabeau eine unabänderliche Abneigung zu ihm gefasst. Ob es ihm genauso ging, wusste ich nicht, denn alles an ihm drückte Gleichgültigkeit aus, wenn nicht gar Langeweile.

  »Begleitest du mich?«, fragte ich.

  »Brauchst du einen Babysitter?«

  Ich musste lachen und zuckte zusammen, als sich bei der Erschütterung meine Seite schmerzhaft zusammenzog. »Eigentlich könnte ich eher einen Freund gebrauchen. Aber wenn dir an dem Job als Babysitter so viel liegt …« Ich ließ den Satz unbeendet. Ein Zittern überlief mich. Mittlerweile waren meine Füße so gut wie taub, und ich trat auf der Stelle.

  »Na gut.« Er nickte knapp, dann brach er im Bruchteil einer Sekunde in seinen Rabenkörper ein. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, stieß er die Flügel nach hinten und flog los. Ich hatte Mühe, ihm zu folgen. Erschöpft stolperte ich ein paar Schritte hinter ihm her, bis ich dachte, meine Beine würden eiszapfengleich zerbrechen. Als mein Gefieder mich umgab, plusterte ich es auf und genoss einen kurzen Moment die Wärme, die mich einhüllte. Sergius wartete nicht auf mich, sondern verschwand im Dickicht des Fichtenwaldes vor uns. Ab und an gab er ein kurzes Krächzen von sich, das ich beantwortete.

  JAGDKRALLEN

  ISABEAU

  Jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich hatte den Objektträger mit Ferencs Blutprobe an das Labor in Prag geschickt, und nun überkam mich Panik. Sollte Alexej herausfinden, dass ich ihnen auf diese Weise nachspionierte, würde er ganz sicher wenig Verständnis dafür aufbringen. Wahrscheinlicher war sogar, dass er mich erwürgte. Bisher hatte er jede medizinische Untersuchung abgelehnt, und seine Einstellung würde sich in den vergangenen Tagen, die er bei seiner Großmutter in Orlík verbracht hatte, vermutlich nicht geändert haben.

  Genmanipulation. Auf diese Idee war ich noch gar nicht gekommen und warf den Gedanken wie einen Ball hin und her, bevor ich ihn schließlich von mir schleuderte. Unsinn. Völlig unmöglich.

  Seufzend klappte ich den Deckel meines Laptops zu. Am liebsten hätte ich Timo um Rat gefragt, aber mein Bruder reagierte ebenfalls äußerst allergisch auf dieses Thema. Bei unserem letzten Telefongespräch hatte er mir an den Kopf geknallt, wie verrückt ich doch wäre. Und überhaupt hätten wir beide aufgrund der Paniksituation wohl eher Halluzinationen gehabt, als dass das, was er vor ein paar Wochen hier im Wald gesehen hätte, auch nur zu einem Bruchteil real gewesen sein könnte. Er hat mir ganz ernsthaft ausgerechnet, in welchem Winkel die Sonneneinstrahlung auf ihn eingewirkt haben muss, um diese Vision eines Mannes, der sich plötzlich in einen Raben verwandelt und davonfliegt, heraufzubeschwören. Aber wenn ich ganz ehrlich war – ich hätte auch nichts dagegen, meine Erlebnisse mit Sergius als Albtraum abzutun. Das würde vieles einfacher machen.

  Und vor allem wäre ich nicht gezwungen, Alexej weiterhin anzulügen. Für ihn war Sergius der Held, dem ich mein Leben verdankte. In gewisser Weise stimmte das sogar, hatte er mich doch davor bewahrt, von einem wilden Hunderudel zerfleischt zu werden. Ich brachte es einfach nicht fertig, Alexej zu sagen, was Sergius mir damals hatte antun wollen. Offiziell musste ich ihm dankbar sein. Doch in Wirklichkeit brach mir der Angstschweiß aus, sobald sich mir der blonde Mann mit dem jungenhaften Engelsgesicht auf einen Meter näherte.

  Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, viel früher, als ich das von zu Hause gewohnt war, und nun blätterte ich im gelben Licht meiner Schreibtischlampe in einem Buch über Falknerei, das ich mir von Marek ausgeliehen hatte und das mir hoffentlich erklären würde, weshalb ein Wanderfalke seine Beute im Flug abwerfen sollte. Hatte er Ferenc verloren? War ihm der Rabe zu schwer gewesen? Eigentlich gehörten Kolkraben nicht zu seiner typischen Beute, waren sie zum einen zu wehrhaft und zum anderen auch einfach zu schwer. Kleinere Krähen hingegen wurden von Falken sehr häufig gejagt. Zur Freude der Bauern, die sich regelmäßig darüber ärgerten, wenn sich ganze Schwärme auf ihren eingesäten Feldern niederließen.

  Im Schein der Lampe spiegelte sich mein Gesicht im Fenster wider, und ich lachte auf, als ich meinen erschrockenen Ausdruck darin sah. Wieso war ich so schreckhaft? Ich blies langsam die Luft aus den Backen und versuchte, mich wieder auf das Buch zu konzentrieren,
doch sofort schoss mein Blick wieder zum Fenster, das nur Zentimeter von meinem Kopf entfernt war. Inzwischen war es tiefschwarz da draußen. Als ich meinte, hinter mir einen seltsamen Schatten wahrzunehmen, riss ich den Kopf herum, aber in meinem Zimmer war alles normal. Der seltsame Schatten kam von meinem Parka, den ich auf das Schränkchen geknüllt hatte und der aussah wie ein Buckliger. Quasimodo auf meiner Kommode.

  Kopfschüttelnd wandte ich mich wieder dem Fenster zu und blickte direkt in eine weiße Fratze, die von draußen hereinstarrte.

  Mit einem Schrei riss ich die Gardine vor das Fenster und rettete mich hinter den Stuhl. Keuchend starrte ich den Türgriff an, dabei umklammerte ich die Stuhllehne mit beiden Händen, um ihn notfalls als Waffe gebrauchen zu können. Mein Herz raste, und meine Handflächen fingen an zu schwitzen. Ich war mir hundertprozentig sicher, dass ich gerade Sergius da draußen gesehen hatte. Die Schatten hatten sein engelsgleiches Gesicht mit Runzeln übersät wie das eines Hexers.

  Es klopfte an der Tür, und meine Atmung setzte aus. Das kann nicht wahr sein. Das kann um Himmels willen nicht wahr sein!

  »Verschwinde!« Verdammt, meine Stimme war so dünn wie Michalas Fleischbrühe, wenn sie sie am dritten Tag in Folge aufgegossen hatte. Ich schluckte und hypnotisierte die Tür. Sollte er sich dagegenwerfen oder sonst wie versuchen sie aufzubrechen, würde ich laut um Hilfe schreien. So laut, dass Marek das bis in sein Büro hören musste. Wie weit war es entfernt? Hundertfünfzig, vielleicht zweihundert Meter? Egal.

  In Zeitlupe senkte sich die Türklinke.

 

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