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Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition)

Page 5

by Nikola Hotel


  Plötzlich war mir kalt, und ich hangelte nach der Bettdecke, um sie mir bis zum Hals zu ziehen. Was war ich nur für eine Idiotin, jetzt davon anzufangen?

  »Das war eine ganz blöde Idee von mir, vergiss es einfach! Eigentlich war das auch nur eine rein hypothetische Frage, und so lange sind wir auch noch nicht zusammen. Können wir vielleicht einfach so tun, als hätte ich das Thema niemals angesprochen, ja? Bitte!«

  Ich fühlte mich entsetzlich, auch wenn Alexej alles andere als ungehalten aussah – eher verzweifelt. Doch verzweifelt war auch nicht wirklich besser als ungehalten, wenn ich es recht bedachte. Okay, Isa, mit diesem Thema hätte ich vermutlich jeden Mann der Welt in Panik versetzt. Aber nein, ich musste natürlich in einen Mann verliebt sein, der auch noch seine Freiheit über alles liebte. Der sie nicht nur liebte, sondern schlicht und einfach brauchte. Das konnte ich ihm nun wirklich nicht übel nehmen. Als Beinahe-Biologin sollte mir völlig klar sein, dass sich ein Rabe nicht freiwillig in Gefangenschaft begab. Und was würde eine Familie schon anderes bedeuten als ein Käfig? Tapfer versuchte ich, das Schamgefühl niederzukämpfen, das in mir rotierte wie ein Kreisel.

  »Ich weiß es nicht«, sagte Alexej. »Aber ich befürchte es.«

  Meine Gedanken waren so heiß gelaufen, dass mich Alexejs Antwort irritierte. »Was befürchtest du?«

  »Dass ein Kind – zumindest ein Sohn – dieses Blut von mir erben wird. Isabeau …«, er fasste nach meiner Hand, die sich um die Decke gekrampft hatte, »… es ist nicht so, dass ich mir kein Kind von dir wünschen würde. Ganz im Gegenteil«, bekräftigte er. »Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen. Auch wenn ich zugeben muss, dass das nicht gerade das ist, was meine Gedanken beherrscht.«

  Er lächelte zwar, aber ich bildete mir ein, dass es ein gezwungenes Lächeln war. Ich zog meine Hand fort. Sollte ich mich über seine Antwort freuen? Immerhin gab er zu, sich ein Kind zu wünschen. Und doch klang es in meinen Ohren wie eine Beschwichtigung. Als wäre die Möglichkeit, dass er sein Rabenblut vererbte, eine willkommene Ausrede.

  Alexej sprach schnell weiter. »Ich beneide Nikolaus um seine Familie. Aber vor allem beneide ich ihn darum, dass seine Kinder völlig normal aufwachsen können.«

  »Wenn du es normal nennen willst, dass Nikolaus’ Vater, ihr Großvater, ein Mörder ist.« Das kam viel zu scharf aus meinem Mund. Keine Ahnung, warum mich seine Worte so reizten, aber ich hatte das dringende Verlangen, ihm zu widersprechen.

  Alexej seufzte. Dann schwang er die Beine aus dem Bett und setzte sich auf die Bettkante. Als er sprach, richtete er den Blick von mir fort auf den Fußboden. »Aber sie werden nicht irgendwann damit leben müssen, kein Mensch zu sein.« Der Rabe auf seinem Rücken reckte den Schnabel und flatterte auf.

  »Ich finde, dass du ganz schön unfair zu dir bist, wenn du dich selbst nicht als Mensch wahrnimmst. Warum tust du das? Ich habe dich jedenfalls immer als einen gesehen.«

  »Weil du eine Romantikerin bist, die Fantasyromane liest.«

  »Okay.« Ich kniete mich hinter ihn und fasste ihn an den Schultern, fuhr über das Tattoo, um das aufgestellte Gefieder zu glätten und auch, um den Raben zu besänftigen. Meine Nase drückte ich in Alexejs Haar und genoss den Geruch seiner Haut und die vertraute Hitze, die sie ausstrahlte.

  »Vielleicht bin ich eine Romantikerin, aber ich bin auch Naturwissenschaftlerin. Und als Naturwissenschaftlerin sage ich dir, dass du garantiert menschlicher bist als Nikolaus’ Vater. Ganz egal, welche Gestalt du hast, dein Verhalten ist human.« Unter meinen Fingerspitzen regte sich Alexej nicht, aber der Rabe rieb seinen Schnabel an meinem Handballen, als suchte er Trost.

  Das war nicht real, das war nur meine Einbildung, redete ich mir ein. Meine Vorstellung von Alexejs Wesen, die sich mir in seinem Bildnis zeigte. Dieses Kribbeln, das ich spürte, hatte nichts damit zu tun. Und die Reaktion des Raben stand auch im genauen Gegensatz zu dem, was Alexej sagte.

  »Du solltest aufhören, mich zu idealisieren, Isabeau.« Er stand auf und sah mich direkt an. Sein Brustkorb spannte sich an, er holte tief Luft, so als hätte er vor zu springen. In einen Abgrund oder nur einen Satz ganz weit weg von mir.

  »Ich bin weniger menschlich, als du es gerne hättest. Und die Gedanken an mein Leben im Schwarm verschwinden nicht, wenn ich bei dir bin.«

  Das klang fast, als würde er immer nur an seinen Schwarm denken, wenn er bei mir war. Dass er in meinen Armen gar nicht glücklich war oder vielleicht doch etwas ganz anderes von uns erwartet hatte. In meiner Kehle bildete sich ein Kloß von der Größe eines Golfballs. Ich schluckte.

  »Das habe ich nie von dir verlangt«, erinnerte ich ihn. »Du brauchst keine Angst davor haben, dass ich dich jemals zwingen würde, hierzubleiben. Ich kann gut auf mich selbst aufpassen. Ich kann allein leben, kann ich wirklich. Aber es wäre so viel … Es wäre unendlich schöner, es mit dir zu tun.«

  Verflixt, warum nur konnte ich diesen Kloß nicht herunterschlucken? Ich schnappte nach dem nächstbesten Gegenstand auf meinem Schreibtisch und drehte ihn in den Händen, als wäre er das Interessanteste, was ich je in meinem Leben gesehen hatte. Dummerweise war ein Tacker in meiner Situation – barfuß, im Nachthemd und mit zerzausten Haaren und einer unendlichen Schwere in meiner Brust – auch nicht wirklich etwas, das mir half, meine Tränen wegzublinzeln. Dieses Gespräch nahm eine ganz falsche Wendung. Ich hatte Alexej nicht bedrängen wollen, und trotzdem steckten wir nun in der schönsten Grundsatzdiskussion. Mit einem Klappern fiel der Tacker zurück auf die Tischplatte. Das Geräusch ließ mich zusammenzucken, obwohl ich es erwartet hatte.

  Ich hoffte inständig, dass er jetzt nicht damit anfing, er würde mich nur unnötig in Gefahr bringen oder dass ich ohne ihn viel besser dran wäre. Bitte, lass ihn das nicht sagen! Nie!

  »Du wärst ganz sicher besser dran ohne mich.«

  Meine Haarsträhnen verdeckten den Blick auf Alexejs Gesicht, und ich erstarrte. Ich wagte nicht, ihn anzusehen. Einmal mehr fragte ich mich, ob er meine Gedanken lesen konnte. Ich trat zum Fenster und zog fröstelnd den Vorhang zu. Sergius hatte gesagt, dass meine Haustür niemanden aufhalten würde, der sich in den Kopf gesetzt hatte, hereinzukommen, und ich fühlte mich deswegen beobachtet und irgendwie verwundbar. Mit wild pochendem Herzen hypnotisierte ich ein paar Papiere auf dem Tisch, nur daran denkend, dass Alexejs nächster Satz vielleicht alles zerstören konnte.

  »Ich habe acht Jahre nur als Rabe gelebt und nie gewagt, es jemandem außer dir zu gestehen«, sagte er. »Deshalb bin ich nicht der Typ, der freiwillig verzichtet, Isabeau. Ich verzichte nicht auf dich! Du weißt, dass es schwierig wird, gefährlich. Aber ich verlasse mich darauf, dass du selbst entscheidest, wann es dir … zu viel wird.«

  »Oder dir«, gab ich zurück, weil ich nicht zugeben wollte, wie sehr mich seine Worte erleichterten.

  »Das wird nicht passieren.«

  Von meinem Brustkorb schien sich eine Zentnerlast zu lösen und plumpste mir direkt in den Magen. Er hatte es nicht getan. Er würde mich nie wie ein unmündiges Kind behandeln, das selber keine Entscheidungen treffen konnte. Er würde mich nicht einfach so verlassen.

  Das Aufblitzen seiner Zähne erinnerte mich daran, dass Alexej vor einigen Wochen damit einen Bluthund gebissen hatte. Wenn ich eins wusste, dann, dass Alexej nicht kampflos aufgab und dass er ebenfalls gefährlich werden konnte, wenn man ihn reizte. Ganz egal, welche Attacke sich Nikolaus’ Vater Wassilij noch einfallen ließe, die Raben würden sich wehren.

  »Vielleicht können wir das Thema Kinder einfach noch ein wenig aufschieben«, schlug er vor und nahm mich in den Arm. »Auch wenn es mehr als reizvoll ist, mir dich mit einem dicken Bauch vorzustellen.« Ich spürte sein Lächeln an meinem Mundwinkel und das Aufsteigen eines Lachens in meiner Kehle.

  »Wer weiß, was du für Gelüste entwickeln wirst. Dagegen ist meine Art der Ernährung sicher harmlos.«

  In Anbetracht dessen, dass ein paar Nüsse vermutlich noch der appetitlichste Teil seines letzten Abendessens gewesen waren, wollte ich gar nicht wissen, was den Rest ausgemacht hatte. Kurz blitzten Bilder von einem überfahrenen Reh vor meinen Augen auf und einem Schwarm Raben, der sic
h darauf niederließ. Klobige Schnäbel, die dicke Stücke aus dem halb verwesten Leib herausrissen.

  »Ich glaube nicht, dass ich da mithalten kann«, sagte ich vage, während ich ein Schaudern unterdrückte und Alexej zur Seite schob, um ein frisches T-Shirt aus meinem Schrank zu fischen. »Du wirst wohl nicht mit mir und Lara und Marek frühstücken?«

  Ganz entgegen meiner Erwartung nickte Alexej. »Versuch mal, mich daran zu hindern. Ich könnte schwören, dass ich Michalas Kaffee bis hier riechen kann.«

  Er sagte es, als wäre sein Geruchsinn genauso wie meiner. Aber das stimmte nicht. Ich wusste ganz genau, dass er ihn tatsächlich riechen konnte. Und nicht nur das. Wenn er gleich zu seinem Schwarm zurückkehrte, dann war ich wieder allein, und irgendwo dort im Wald lauerte der Tod auf ihn. Nur dass wir nicht wussten, in welcher Gestalt. Alexej konnte außer des Kaffees ganz sicher auch die Angst riechen, die mir im Nacken hochkroch.

  FICHTENGRÜN

  ALEXEJ

  »Das wird ein Festmahl.« Jaro pickte aufgeregt an der Rinde des Astes herum, auf dem er saß, und gab einen Laut von sich, der mehr an ein Schmatzen erinnerte als an ein Rabenkrächzen. »Wir werden uns so satt machen wie schon lange nicht mehr. Zumindest diejenigen von uns, die sich nicht zwischendurch von ihrer Oma mästen lassen.«

  Ich schnarrte und richtete mein Kopfgefieder auf, um streng auszusehen. »Wenn du mich um die Besuche beim General beneidest, hättest du es nur zu sagen brauchen. Ich bin sicher, sie hat noch ein Zimmer für dich frei. Bevorzugt in der Nähe der Kapelle, damit du rechtzeitig zur Morgenandacht dort erscheinen kannst.«

  Erschrocken hüpfte Jaro nach rechts und vergrößerte den Abstand zwischen uns. »Ist das dein Ernst?« Sein Rachen leuchtete in einem kräftigen Rosa auf, und er wirkte äußerst unschuldig dabei.

  »Natürlich nicht.« Ich schüttelte meine Flügel aus und hockte mich bequemer hin, bevor ich den Blick gedankenverloren über die noch jungen Fichten unter uns gleiten ließ, die so vom Schnee umhüllt waren, dass sie aussahen wie Skulpturen. Weiße Schachfiguren auf einem Spielbrett der Natur. »In Richtung Horní Planá?«, hakte ich nach.

  »Noch vor dem Stausee.« Nickend wippte Jaros Kopf auf und ab. »Ich habe ein Rabenweibchen dabei beobachtet, wie sie Stücke um Stücke in Sicherheit brachte. Wir sollten uns beeilen, bevor der nächste große Trupp darauf aufmerksam wird. Wenn wir Pech haben, dann hat schon einer der Altvögel aus dem Revier Wind von der Beute bekommen.«

  »Rotwild?«, mischte sich Milo ein, der unser Gespräch verfolgt und sich von den anderen abgesondert hatte. »Ich hatte schon lange kein saftiges Reh mehr. Wenn ich noch einen Tag länger an diesem dürren Karnickel picken muss, dann bekomme ich einen Schwächeanfall.« Sein Körper sah alles andere als abgemagert aus, und mein Mitleid mit ihm hielt sich in Grenzen.

  »Habt ihr Sergius’ Nachwuchs versorgt?«

  »Na hör mal«, mischte sich Jaro ein. »Wir haben ihm immer nur die besten Stücke gebracht. Milo kaut sie ihm vor, wenn die Mutter das Nest verlassen hat.«

  »Tatsächlich?« Ich gab ein Keckern von mir und ließ Milo auf diese Weise wissen, dass ich von seinen väterlichen Fähigkeiten tief beeindruckt war. »Nicht dass ich dir das nicht zugetraut hätte. Aber diese Hingabe habe ich nicht von dir erwartet.«

  In der nächsten Sekunde wippte nur noch der leere Ast an der Stelle, wo Milo sich festgekrallt hatte, und mit einem heiseren Aufschrei stürzte er sich auf mich und riss mich von meinem Sitzplatz herunter. Wild flatternd fielen wir beide herab. Mein albernes Keckern wurde mir zum Verhängnis, und ich landete hilflos unter ihm im Schnee. Sein volles Gewicht auf mir spürend, rollte ich einen Abhang hinunter. Jaro stieß sich ab und segelte gemächlich neben uns zu Boden, als unsere Rutschpartie beendet war und wir im Schnee stecken blieben. Prustend schüttelte ich die Flocken ab, die mir in Kopf- und Kehlgefieder hingen, und stakste zu einer Baumruine, während sich der schmächtige Jaro mit Milo balgte, der sicher doppelt so schwer war wie er selbst.

  Die Fichten warfen einen langen Schatten auf die Schneedecke, die wir mit unserer Rauferei aufgewühlt hatten. Es war an der Zeit, zum Fundort aufzubrechen, damit wir in der Dämmerung zu unserem Schlafplatz zurückkehren konnten.

  Mit einem lauten Ruf alarmierte ich die anderen, die meine Schreie wiederholten, bis schließlich der ganze Schwarm an unserem Treffpunkt eingetrudelt war. Jaro und Milo unterbrachen ihre Rauferei, doch András, Laszlo und Darius flatterten übereinander vor Aufregung. Gemeinsam mit Raban übernahm Arwed die Führung, und wir stiegen auf, bis wir weit über den Baumwipfeln segelten. Sergius gab laute Schreie von sich, als triebe er damit die Wolken vor sich her. Der Schwarm tollte durch die Luft, wir jagten uns, tauchten ab und stoben wieder nach oben. Unter uns bildeten die Felder einen Spiegel aus Silber, gesäumt von weiß gepuderten Baumspitzen. Die Gegend war nur wenig besiedelt, und ab und an kroch ein Auto als Farbtupfer über die graue Asphaltdecke, die teilweise vom Wald verdeckt wurde und sich doch unermüdlich durch die Natur fraß.

  Als wir das Waldstück erreichten, das an den Stausee grenzte, wurde ich aufmerksamer. Aus großer Höhe beobachtete ich den Weg, den Jaro einschlug. Er hatte gemeinsam mit Raban den Kadaver am Morgen entdeckt, sich aber nicht getraut, ihn näher in Augenschein zu nehmen. Ich überflog den Wald, der hier fast ausschließlich aus Fichten bestand, in einem Umkreis von mehreren Kilometern, bis ich sah, dass Raban in einem Geäst landete. Jaro hüpfte nur wenige Meter von ihm entfernt auf den Boden, die Flügel gewölbt wie ein Schirm, der ihm half, abzubremsen.

  »Kraaa!«, durchbrach ein lang gezogener Laut die Stille. Ein Rabenpaar flog auf und bewegte sich Seite an Seite über die Stelle hinweg, an der ich den Fleischberg ausmachte. Das mussten die Altvögel sein, die hier ihr Revier hatten. Vorsicht war geboten, denn selbst, wenn sie satt gefressen und zufrieden waren und ihr Interesse an der Beute abflaute, würden sie den Kadaver verteidigen und versuchen, uns zu vertreiben. Und der Kadaver war wahrlich zu verlockend: Aus einem Hügel von dunklem Rotwildhaar stach rot und weiß das sehnige Fleisch hervor, lilafarben schimmerten die Innereien durch die dünne Haut, an den Stellen, wo sie noch nicht zerbissen war. Doch irgendetwas ließ mich zaudern; weckte ein seltsames Gefühl, das mich mahnte, vorsichtig zu sein.

  Sergius und die anderen hatten sich auf die umliegenden Bäume verteilt. Hier an dieser Stelle lichtete sich der Wald und ließ tagsüber die Sonne auf einen Flecken scheinen, der deshalb nicht mehr von Schnee bedeckt war.

  Die Bauchdecke des Rehs war aufgerissen und angefressen worden, und das war eindeutig die Handschrift eines Wolfes. Der Kadaver lag grotesk verdreht auf der linken Flanke. An seinem Rumpf klebten grüne Fichtennadeln. Er sah frisch aus, und der Geruch, der mir entgegenwehte, lockte mich. Blinzelnd drehte ich den Kopf nach allen Seiten, die raue Rinde unter meinen Krallen gab mir halt. Noch heute Morgen hatte ich mit Isabeau zusammen gefrühstückt. Davon war ich nun himmelweit entfernt. Ein Tisch, Stühle, heißer Kaffee, der im Strahl in eine Tasse läuft, in meiner rechten Hand ein Messer, das sich seltsam fremd angefühlt hatte. Nur mit Mühe hatte ich meine Unruhe unterdrücken können und den Drang, vom Stuhl aufzuspringen.

  Das hier war mein Leben! Und es entsetzte mich, wie sehr ich es vermisst hatte, wie schwer es mir fiel, dem zu entsagen. Ich war ein Rabe, verdammt!

  Ich löste meinen Griff um den Zweig und stieß mich ab. Lautlos segelte ich den nächsten Baum an, den Kadaver immer im Blick. Im Augenwinkel nahm ich Jaro wahr, der unruhig von Zweig zu Zweig hüpfte und auf ein Startzeichen wartete. Doch es war noch zu früh. Wo war Sergius? Der unberechenbare Rabe war kampferprobt, er kannte weder Angst noch Skrupel, doch auch er wippte nur leicht ein Stück weiter auf seiner Baumkrone als Zeichen, das wir noch abwarten sollten. Dann schlug Sergius die Flügel nach hinten und stieg in den Himmel empor. So hoch, dass ich ihn selbst nur noch als Punkt erkennen konnte. Er hatte das Interesse verloren. Scheinbar. Doch mir war klar, dass er nur bluffte.

  Ein Rascheln ließ mich auffahren. Jaro hatte der Verlockung nachgegeben und sich der Stelle, an der die Beute lag, genähert. Mit nickendem Kopf trippelte er über den Boden, etwa zwanzig Meter v
on dem getöteten Reh entfernt. Zu nah für mein Empfinden. Viel zu nah. Und zu früh. Mein Herz begann schneller zu pochen. Weshalb wartete er nicht?

  Meine Augen nahmen jede noch so winzige Kleinigkeit meiner Umgebung auf. Hier einen späten Sonnenstrahl, der sich wie ein Pfeil durch tief hängende Zweige bohrte, dort einen Schatten, der in mein Sichtfeld geriet und doch nur von herabfallendem Schnee stammte. Ich lauschte auf den zarten Ruf einer Wachtel – pick-werwick, pick-werwick –, der sich mehrmals wiederholte und weit weg zu sein schien. Ein Eichelhäher gab zweimal ein »Tchää« von sich, doch nicht sein typisches Rätschen, das uns vor Gefahr warnen und durch Mark und Bein gehen würde. Erleichtert stieß ich den Atem aus. Alles war in Ordnung. Es gab keinen Grund, so nervös zu sein, beruhigte ich meine innere Stimme.

  Und doch – der Ort war einfach zu perfekt. Sollte ich eine Stelle aussuchen, um einen Köder auszulegen, dann würde ich genau diese hier wählen: eine freie Fläche ohne Spuren, nicht allzu weit von der Straße entfernt, im Rücken die dichten Fichtenwälder, die alles mit ihren Schneespitzen verbargen, die Laute dämpften und doch ein leises Ächzen von sich gaben, wenn ihnen die Schneelast zu schwer wurde. Alles Geräusche, durch die man den Feind überhörte. Seinen Atem, sein Räuspern, das leise Klingeln der Bells am Ständer eines Greifvogels – der kleinen Glöckchen, die dafür sorgten, dass der Falkner seinen Vogel nach erfolgreicher Beizjagd wiederfand.

  Ich schüttelte den Kopf, um diese Gedanken loszuwerden, aber sie hafteten an mir wie der Saft von Eibenbeeren. Klebrig und übel riechend. Ich stieß einen kurzen Pfeifton aus, der Jaro mahnen sollte, wachsamer zu sein. Ich hatte seinen Bruder nicht beschützen können, das würde sich bei ihm nicht wiederholen. Ich würde nicht zulassen, dass ihm etwas passierte.

  »Tschieh«, pfiff ich ihn zurück. Einmal. Zweimal.

  Endlich lenkte Jaro seine Aufmerksamkeit vom Kadaver weg und sprang mehrere Meter fort, bevor er sich aufschwang und zu mir flog.

 

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