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Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition)

Page 25

by Nikola Hotel


  »Ihre Rabenmutter hat sich wahrscheinlich in Panik davongemacht. Ich meine, stell dir das mal vor: Sie hudert ihren Nestling, und sobald er flügge wird, wächst aus ihm auf einmal ein Mensch! Sie muss sich zu Tode erschreckt haben. Und das Mädchen ist zu schnell gewachsen, deshalb ist es so mager«, sagte ich das Intelligenteste, was mir in den Sinn kam, und so blöd klang es tatsächlich nicht. »Wenn wir ihr Rabenalter mit ihrem wahrscheinlichen Menschenalter vergleichen, dann ist sie einfach zu schnell gewachsen.«

  Ich stand auf und holte tief Luft. Garantiert würden wir hier keine Minute länger sitzen und darauf warten, dass Alexej oder ein anderer des Schwarms von sich hören ließ. Vermutlich wussten sie noch gar nicht, dass sich der Jungvogel verwandelt hatte. Sie wussten nicht einmal, dass der Nestling ein Weibchen war. Ein Mädchen!

  »Wir werden sie finden«, sagte ich mit fester Stimme und stand auf. Ich faltete das Blatt zusammen und schob es mir in die Jeanstasche. »Wie spät ist es jetzt?«

  Lara warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Halb fünf. Es ist noch knapp drei Stunden hell.«

  Wir tauschten einen intensiven Blick, dann griff Lara nach ihrer Jacke, die über ihrem Stuhl hing. »Hol du Taschenlampen und den Verbandskasten, man weiß ja nie. Ich packe ein paar Decken und etwas zu essen und zu trinken ein.« Einen kurzen Moment hielt sie inne, dann murmelte sie ein »Wir schaffen das, irgendwie kriegen wir das hin«.

  Natürlich kriegen wir das hin, wollte ich ihr antworten, aber ich konnte es nicht. Im Gegensatz zu dem, was ich laut gesagt hatte, war ich gar nicht so sehr davon überzeugt, dass wir sie so ohne Weiteres finden würden.

  Nur wenige Minuten später hatten wir beide unsere Rucksäcke gepackt und in den Kofferraum des Suzukis geworfen. Lara hatte Marek informiert, für den Fall, dass Alexej inzwischen auftauchen würde. Wie immer verfluchte ich die Tatsache, dass Raben keine Handys dabeihatten. Das hätte mein Leben deutlich vereinfacht, dachte ich und schnitt mir selbst eine Grimasse.

  Ich knöpfte meinen Parka zu und wickelte mir hastig den Schal um den Hals. Mit weichen Knien kletterte ich auf den Beifahrersitz und hielt Lara das ausgedruckte Foto unter die Nase, auf der ich die Stelle der Fotofalle notiert hatte.

  »Gut«, sagte sie und ließ den Gurt einschnappen. »Fangen wir dort an.« Sie startete den Motor und warf einen Blick in den Rückspiegel, in dem die verkohlten Reste meiner Hütte zu sehen waren. Dann gab sie Gas.

  WALDATEM

  ISABEAU

  Jedes Flattern sorgte dafür, dass Lara und ich nervös herumfuhren. Wir gaben es beide nicht zu, aber ich wettete, dass sie genau solche Angst verspürte wie ich. Einerseits hoffte ich natürlich, das Mädchen schnellstmöglich zu finden, andererseits graute es mir davor, wie und wo wir sie finden würden. Das Bild von dem angefressenen Kadaver ging mir nicht aus dem Sinn, und auch, wenn es für einen Raben völlig natürlich war, sich so zu ernähren – die Vorstellung, dass sich ein Kind daran sättigte, verursachte mir Übelkeit.

  Mein Magen würde da garantiert nicht mitspielen, dachte ich, einen Schauder unterdrückend. Es erinnerte mich allerdings daran, wie Alexej im Wald die Kellerasseln verspeist hatte, als er sich nicht bewusst war, in welcher Gestalt er sich befunden hatte. Klar, da konnte man schon mal durcheinandergeraten.

  Ich biss die Zähne zusammen und stieg über den eisverkrusteten Bachlauf, der uns zur Stelle führte, an der die Fotofalle montiert war.

  »Ich werde Marek sagen, dass wir die SD-Karten gegen Wi-Fi-Karten austauschen. Es gibt auch Kameras mit einem eingebauten Mobilfunkmodul.«

  Seit wir aus dem Auto gestiegen waren, redete Lara davon, wie sich eine solche Überraschung, wie wir sie erlebt hatten, in Zukunft vermeiden lassen würde.

  »Sie schicken die Fotos dann sofort per MMS an das Handy. Das kostet natürlich Gebühren, aber man weiß auch, dass sich das Tier noch vor Kurzem an diesem Ort aufgehalten hat, und bekommt es nicht erst zwei Wochen später zu sehen.«

  »Lara«, seufzte ich. »Wir haben hier kaum Empfang. Es nützt dir nichts, selbst wenn du dieses bescheuerte Modul einbaust. Ich habe nicht einen einzigen Balken.« Auf dem Weg durch den Wald hatte ich immer wieder einen Kontrollblick auf mein Display geworfen, und hier war der Empfang gleich null.

  »Aber das ist nicht überall so«, widersprach sie mir. »Wir müssen eben testen, an welchen Plätzen so eine WLAN-Funktion sinnvoll ist.«

  »Wenn Marek dir das nicht vorher austreibt«, knurrte ich durch die Zähne, ohne dass Lara es hören konnte. Ich verstand ihre Nervosität nur zu gut, und normalerweise war ich diejenige von uns beiden, die unruhig und angespannt war, aber in den vergangenen Wochen hatte ich offenbar gelernt, besser damit umzugehen. Ich durfte auch nicht vergessen, dass Alexejs Enthüllung für Lara noch völlig neu war.

  »Ist das eigentlich normal, dass sie als Raben geboren werden und sich dann später in einen Menschen verwandeln? Gab es das schon?« Sie war vorausgeeilt, doch jetzt drehte sie sich zu mir um.

  Was sollte ich denn darauf sagen? Normal war nichts von alldem hier. »Alexej hat es jedenfalls noch nie erlebt«, ließ ich sie wissen. »Können wir jetzt vielleicht einfach weitersuchen? Wenn wir so laut sind, dann läuft es … also sie vielleicht noch weg und versteckt sich. Vergiss nicht, dass sie in ihrem ganzen Wesen ein Rabe ist. Sie wird furchtbar scheu sein.«

  »Aber sie ist doch noch ein Baby. Ihre Scheu wird sie erst noch lernen müssen.«

  Ich fand ganz und gar nicht, dass das Mädchen nach einem ›Baby‹ ausgesehen hatte. Eher nach einem Kind von sechs oder sieben Jahren. Natürlich konnte ich mich auch täuschen.

  Nach einer Viertelstunde sahen wir die Reste des Kadavers auf einer kleinen Freifläche von etwa zwanzig Quadratmetern. Ich wollte Lara schon fragen, wo sie die Fotofalle installiert hatte, da sagte sie plötzlich: »Bitte recht freundlich.«

  Ich hatte weder ein Schnipsen gehört noch das typische Klickgeräusch, das entstand, wenn eine Wildkamera den Infrarotfilter beiseiteschiebt, sodass das Infrarotlicht zur Nachtaufnahme genutzt werden kann. Es war schließlich noch genug Helligkeit vorhanden.

  »Danke«, sagte ich mit einem leicht vorwurfsvollen Unterton, weil Lara mich nicht vorgewarnt hatte. »Du kannst die ganze Serie behalten.«

  Sie grinste breit und deutete auf ein Kunststoffgehäuse, das sich etwa zwei Meter über dem Boden an einem Baum befand und mit leichtem Neigungswinkel direkt auf den Kadaver zu unseren Füßen zeigte. »Keine Sorge, ich habe den Sensor so eingestellt, dass er nach dem ersten Auslösen dreißig Minuten pausiert.«

  Mit einem Kopfschütteln wandte ich mich von der Kamera weg und nahm den Kadaver näher in Augenschein. Es war nicht mehr viel von ihm übrig, auch wenn die Kälte dafür sorgte, dass die Verwesung an der Luft nur sehr langsam voranschritt. Am Bauchraum war lediglich noch das Gerippe zu sehen, von den Beinen des Rehs war hingegen noch am meisten vorhanden. Ich vermied es, mir den Kopf anzusehen, weil mich der Anblick von toten Augen oder ausgepickten Augenhöhlen ekelte.

  Lara bückte sich und zeigte auf eine Stelle, an der der Schnee bereits weggeschmolzen war und worunter sich eine Spur im feuchten Boden abzeichnete. »Hier hat auf jeden Fall auch der Luchs weitergefressen.«

  »Kannst du Fußspuren sehen?«

  Beide warfen wir prüfende Blicke auf den Boden, bevor wir vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzten, damit wir keine Spuren zerstörten. Aber es waren bereits zu viele Wildtiere hier über diese Stelle gelaufen – die Spuren vermischten sich zu einem undefinierbaren Muster.

  »Nichts«, sagte Lara. »Es kommt einem so surreal vor, oder?«

  Da musste ich ihr vollkommen recht geben. Es kam mir mehr als surreal vor. So als wäre das Foto nur eine Aufnahme aus einem Horrorstreifen. Auch von den blassen Farben erinnerte es eher an »The Blair Witch Project« als an wissenschaftliche Fotoaufnahmen.

  »Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie wirklich hier gewesen sein soll«, gab ich zu.

  »Aber sie war da. Wir sind hier schließlich nicht bei der versteckten Kamera.« Einmal kurz lachte sie auf, dann warf sie ihren Kopf zurück und riss sich die Wollmütze herunter, die bisher ihr Haar gebändigt
hatte. »Isa, sag ehrlich: Wir sind hier doch nicht bei der versteckten Kamera, oder?«

  Unter anderen Umständen hätte mich der panische Unterton in ihrer Stimme zum Lachen gebracht. »Ich wünschte, wir wären es«, sagte ich. »Wo sollen wir jetzt suchen?«

  Lara richtete sich wieder auf. »Ich habe keine Ahnung. Es fällt mir auch schwer, mich in einen Raben hineinzuversetzen. Was hat sie wohl anschließend gemacht? Sie könnte sich verwandelt haben und wieder weggeflogen sein. Vielleicht zum Nest, das ist schließlich ihre einzige Anlaufstelle, ihr Zuhause.«

  Ihr Zuhause. Mich überlief eine Gänsehaut.

  Wenn wenigstens einer der Raben zu sehen wäre! Dann fiel mir ein, dass ich mit Jaro noch vor wenigen Wochen pfeifend kommuniziert hatte. Vielleicht erinnerte er sich daran. Ich legte Daumen und Zeigefinger zu einem Ring aneinander und steckte sie mir in den Mund, um meine typische Tonfolge zu pfeifen.

  »Wenn Jaro das hört, dann wird er ganz bestimmt kommen« sagte ich. »Wir könnten wirklich Hilfe gebrauchen.«

  Lara zog ihren Feldstecher aus der Jackentasche und hängte ihn sich um den Hals. »Ich habe noch keinen einzigen Kolkraben gesehen. Nicht mal eine Krähe. Kommt einem fast so vor, als hätten sie sich alle an einem Platz versammelt, nur eben nicht hier.«

  Oder der Schwarm hatte sie zu Hilfe gerufen. Ich wusste, dass Sergius sie anlocken konnte. Er hatte das bereits einmal getan, und es war naheliegend, dass sie sich der Augen von anderen Schwärmen bedienten. Jedenfalls sahen wir keine einzige Krähe auf dem Weg zum Nest und hörten auch nicht ihr Krächzen. Nicht einmal der Ruf eines Eichelhähers war zu vernehmen.

  In der Dämmerung schalteten wir die Taschenlampen ein. Auch in der Nähe des Nistplatzes fanden wir keine Spuren, und so langsam zweifelte ich wirklich an meinen eigenen Augen. Wenn Lara das Foto nicht ebenfalls so gedeutet hätte wie ich, würde ich langsam glauben, mir das alles nur eingebildet zu haben.

  »Wir sollten zum Auto zurückkehren und morgen weitersuchen«, sagte Lara. »Du liegst bestimmt richtig damit, dass sie nicht in Gefahr ist. Sie kann sich doch jederzeit wieder als Rabe fortbewegen.«

  Wenn sie weiß, wie sie die Verwandlung provozieren kann, schoss es mir durch den Sinn, aber ich sagte es nicht laut, um Lara nicht zu beunruhigen.

  Alexej hatte es zu Beginn nicht unter Kontrolle gehabt, und auch Jaro hatte mir davon erzählt. Wenn das Mädchen einsam bei dieser Witterung durch den Wald irrte, und sich nicht in ihr schützendes Gefieder retten konnte, dann hatten wir wirklich ein Problem.

  »Hallo?«, rief ich einer plötzlichen Eingebung nach. »Haaaallo?«

  Lara stieß einen Zischlaut aus. »Waren wir uns nicht einig, dass wir sie bestimmt verscheuchen, wenn wir rufen?«

  »Ich weiß es nicht«, raunte ich. »Aber mir macht die Dunkelheit Angst, vielleicht hat sie auch Angst und ist froh, eine Stimme zu hören.« Das war absolut idiotisch von mir, aber diese Angst war auch eine völlig neue Erfahrung für mich, denn vor dem nachtdunklen Wald hatte ich mich bisher noch nie gefürchtet.

  »So ein Quatsch«, sagte Lara. Trotzdem bemerkte ich, dass sie sich vermehrt umsah. Auch vermied sie es, genau wie ich, nahe an den Bäumen entlangzugehen, als befürchtete sie, dass sich etwas oder jemand dahinter verbergen könnte.

  Der Himmel zeigte sich in einem atemberaubenden Blauton, wie es ihn nur in der Dämmerung zu sehen gab, wenn sich die Zweige wie Scherenschnitte davor abzeichneten.

  »Lass uns auf den Weg zurückgehen«, sagte Lara jetzt drängender. Inzwischen waren wir ausschließlich auf unsere Taschenlampen angewiesen und auf den kegelförmigen Schein, den sie vor unsere Füße warfen.

  Ich zuckte zusammen, als ich ein sanftes Flattern hörte. Es war so zart, dass es vermutlich von einem Käuzchen stammte.

  »Hast du das gehört?«, fragte ich Lara.

  »Nein, was denn?« Ihre Bewegung, als sie sich blitzschnell um die eigene Achse drehte, um festzustellen, wovon ich sprach, machte mich erst recht nervös.

  »Dieses Flattern, meine ich.«

  »Hör auf, mir Angst zu machen!«, raunte sie. »Wir gehen jetzt sofort zum Auto. Das ist eine Dienstanweisung!«

  Ich unterdrückte ein Lachen, weil es sich bestimmt nach Hysterie anhören würde, und erschauerte, als ein Windhauch an mir vorbeiströmte. Überrascht wollte ich Luft holen, als mit einem Mal etwas von hinten gegen mich prallte. Ich gab einen gedämpften Aufschrei von mir und taumelte. Neben mir wurde Lara auf einmal wie von Geisterhand zurückgerissen. Ihr kurzer Hilferuf verstummte abrupt.

  NACHTRUF

  ISABEAU

  Der Strahl meiner Taschenlampe erfasste ein paar nackte Beine. Das waren genug Informationen für mich.

  »Lass sie sofort los. Meine Güte, Sergius, du hast mich fast zu Tode erschreckt.«

  Er gab ein blechernes Lachen von sich, dann gab er Lara frei, der er die Hand auf den Mund gepresst hatte.

  »Wer ist dieser Irre?!« Sie bückte sich nach ihrer Taschenlampe, die ihr aus der Hand gerutscht war, und richtete sie auf Sergius. Nur eine Sekunde, dann ließ sie den Strahl abrupt sinken. »Oh mein Gott.«

  »Sergius reicht«, raunte er. »Aber tu dir keinen Zwang an. Isa zeigt auch immer großes Interesse an meinem Körper, inzwischen bin ich daran gewöhnt.«

  Lara war offenbar sprachlos, ich war es nicht. »Idiot!«, schimpfte ich, dann musste ich doch lachen, weil ich einfach total erleichtert war, dass er es war und nicht irgendeine Horrorversion, die Wirklichkeit wurde. »Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, dich zu sehen«, entfuhr es mir.

  »Ach, wirklich?« Seine Überraschung machte mir erst bewusst, was ich da laut gesagt hatte, und ich wunderte mich über mich selbst. Seltsamerweise stimmte es, ich war sogar verdammt froh, ihn zu sehen. »Hat Alexej mit dir gesprochen?«

  Ich spürte eine Bewegung von ihm, und dann zog er mir die Taschenlampe einfach aus den Fingern und richtete sie direkt auf mein Gesicht. Ich hob die Hand vor Augen. »Kannst du bitte aufhören, mich zu blenden? Habt ihr den Jungvogel gefunden? War er im Nest? Es gibt da nämlich etwas, das du wissen solltest. Sergius, jetzt nimm endlich die Taschenlampe aus meinem Gesicht!«

  »Einen Moment noch«, sagte er. »Es ist schon so dunkel, und ich möchte den Ausdruck in deinem Gesicht nicht verpassen.«

  »Was für einen Ausdruck denn?« Ich hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte, aber ich war nicht blöd. Er war ganz offensichtlich wütend auf mich. Sehr, sehr wütend. Und doch hatte er sich so weit im Griff, dass er mich vor Lara nicht sofort angriff.

  »Der Gesichtsausdruck, wenn du mir gleich sagst, dass du meinen Nachwuchs einem verdammten Wichser geben willst, der es erst foltern und dann in kleine Scheibchen schneiden wird. Bitte, Isa, tu mir den Gefallen und lass es mich einmal aus deinem Mund hören. Den ganzen Tag habe ich mich schon darauf gefreut. Ich bin echt verdammt scharf drauf.«

  Seine Worte bohrten sich wie ein Stachel unter meine Haut. Ich hätte nie gedacht, dass er so reagieren würde. Natürlich war mir die Möglichkeit bewusst, dass er uns eine Abfuhr erteilen könnte, aber niemals hatte ich damit gerechnet, dass es ihn verletzte. Sorgte er sich wirklich um seinen Nachwuchs, oder war das nur so eine Ego-Sache? Ich konnte ihn einfach nicht durchschauen.

  Lara schaltete sich ein: »Diesen Plan könnt ihr nun sowieso vergessen. Isa, zeig ihm das Foto.«

  »Ja«, flüsterte ich und fischte in meiner Hosentasche danach. Jetzt, wo ich wusste, dass es ein Mädchen war, tat es mir unendlich leid. Hätte ich das vorher auch nur geahnt, nie wäre ich auf die Idee gekommen, Alexej zu überreden. Ich sollte mich bei Sergius entschuldigen, überlegte ich, während ich den Zettel in meiner Hand fast zerdrückte. Ich wollte mich bei ihm entschuldigen.

  Aber – da war immer noch die Tatsache, dass er sich nicht wie jemand benahm, der sich um dieses Wesen sorgte, auch wenn es ihm jetzt in den Kram passte, mich damit zu quälen. Das Ganze war doch wieder nur ein Spiel von ihm. Er gaukelte mir die Empörung nur vor.

  »Du hast natürlich recht«, sagte ich und schluckte. »Ich hätte daran denken müssen, wie entsetzlich das für dich sein muss, wo du doch so sehr an ihm hängst. Schließlich hast du dich
in den letzten Wochen aufopferungsvoll um den Nestling gekümmert.«

  Einen kurzen Moment schwieg er, dann sagte er: »Ironie steht dir nicht.«

  »Bist du sicher? Halt die Lampe doch noch etwas höher und schau mir genau in die Augen. Dann kannst du vielleicht erkennen, wie gut sie zu mir passt.«

  Natürlich kam er meiner Aufforderung nach und fasste mich jäh im Nacken, um mir den Strahl direkt in die Augen zu halten. Das helle Licht konnte ich keine Sekunde aushalten und schloss sie. Als er die Lampe wieder senkte, spürte ich seinen heißen Atem in meinem Gesicht.

  Ich hätte ihm sagen sollen, dass jetzt alles anders war, dass wir den Nestling nun keinesfalls mehr Wassilij geben konnten. Aber aus irgendeinem Grund wartete ich. Zwischen uns beide passte kaum noch ein Blatt Papier. Ihn so nah zu wissen, war wie ein Juckreiz, dem man nicht nachgab, auch wenn es einen noch so sehr drängte zu kratzen.

  Dann ließ er meinen Nacken unerwartet los, und ich atmete erleichtert auf. Erleichtert und gleichzeitig auch irgendwie enttäuscht. Doch woher dieses Gefühl des Bedauerns stammte, wusste ich nicht. »Hier«, sagte ich und hielt ihm den Zettel vor die Nase.

  »Was ist das?« Er nahm ihn und faltete ihn auseinander. Mit der flachen Hand schlug er das Blatt gegen den Baum, der uns am nächsten stand, und beleuchtete den Ausdruck.

  »Scheiße«, sagte er.

  »Mehr fällt dir dazu nicht ein?«, fragte Lara.

  »Verfluchte Scheiße, das ist ein Mädchen.« Er riss das Blatt herunter und faltete es grob zusammen. Dann packte er mich an meinem Parka und stopfte mir das Bild in die Jackentasche. »Habt ihr sie schon gefunden?«

  »Das ist ja das Problem«, sagte ich. »Wir sind seit drei Stunden unterwegs und haben noch nicht einmal die kleinste Spur von ihr entdeckt. Kannst du die anderen zu Hilfe holen?«

 

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