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002 - Free like the Wind

Page 22

by Kira Mohn


  Cayden

  Wenn ich mir eingebildet habe, Raes Ausbruch könne irgendwie dazu geführt haben, dass es ihr leichter fallen würde, über ihre Schwester zu sprechen, dann lag ich damit so falsch, wie ich selten falschliege.

  Gerade noch sah sie erschöpft aus, erschöpft und traurig, jetzt jedoch wird ihre Miene wieder hart – ich kann quasi dabei zuschauen, wie sie sich erneut verschließt.

  «Lass uns zurück zum Zeltplatz gehen», sagt sie, und erstmals kommt mir der Gedanke, dass da noch mehr ist. Etwas, das so groß ist, dass Rae nicht in der Lage ist, darüber zu reden.

  Was ist es?

  Ich will sie nicht noch einmal danach fragen, keine Ahnung, ob ich nicht eben schon einen Schritt zu weit gegangen bin.

  Die erste Bö war nur ein Vorbote. In den Baumwipfeln beginnt es zunehmend zu ächzen und zu knarren, und ein kalter Windstoß fährt mir unter die Jacke. Heute Nachmittag auf dem Rückweg vom Caledonia Lake hätte ich mir so eine Abkühlung gewünscht. Jetzt allerdings beginne ich bereits nach ein paar Minuten gedanklich durchzugehen, was ich alles an wärmenden Klamotten eingepackt habe. Nicht viel.

  Rae läuft vor mir, wenn der Pfad zu eng wird, um nebeneinanderzugehen. Genau wie ich hat sie die Arme vor der Brust verschränkt, immer wieder streift sie sich flatternde Strähnen aus dem Gesicht. Ihr Mund ist schmal, doch ich möchte wetten, dass nicht die plötzliche Kälte der Grund dafür ist.

  Ich würde gern irgendetwas sagen, um das Starre in ihrem Blick aufzulösen, doch mir fällt nichts ein. Nicht mal ein blöder Spruch.

  Bei unserem Platz angekommen, beginne ich als Erstes damit, die Heringe zu überprüfen und die Halteschnüre nachzuspannen. Rae beobachtet mich einen Moment dabei, bevor sie das Gleiche tut. Trotzdem knattert der Stoff beider Zelte bedenklich. Direkt am Fluss entfaltet der Wind eine noch stärkere Wucht, und ich beeile mich, als Nächstes den Kocher und alles andere sicher zu verstauen, das noch neben der Feuerstelle herumliegt.

  Als wir fertig sind, hat die Dämmerung bereits eingesetzt. Sowohl Rae als auch ich haben zum wiederholten Mal jeden einzelnen Klettverschluss und jeden Haken überprüft, bevor wir uns letztlich etwas förmlich gute Nacht wünschen und in unsere flatternden Zelte kriechen.

  Dass Leah Raes Schwester war, habe ich geahnt. Ich hätte darauf getippt, dass Rae die Ältere von beiden war, sich vielleicht immer um Leah gekümmert hat. Vielleicht war es ja trotzdem so. Vielleicht hat sie das Gefühl, sie hätte Leahs Tod irgendwie verhindern können, verhindern müssen. Ein Unfall? War Rae dabei? Hat sie es miterleben müssen, fällt es ihr deshalb so schwer, auch nur daran zu denken?

  Ich kann nicht aufhören, darüber nachzugrübeln, während der Sturm an meinem Zelt reißt, und ich hoffe, dass die Heringe halten. Obwohl dieses Ding angeblich einen hundertprozentigen Windschutz bietet, scheint es durch die mikroskopisch kleinen Öffnungen der Polyesterhaut hereinzublasen, und nachdem ich mir den Schlafsack zurechtgelegt habe, beschließe ich, heute Nacht zusätzlich ein Langarmshirt überzuziehen.

  Das Heulen des Sturms ist beeindruckend. Ich hätte diesen Steven vielleicht fragen sollen, ob wir uns mit unseren Zelten weiter in den Wald hinein zurückziehen dürfen, doch wer hat denn ahnen können, dass es so heftig werden würde? Offenbar nicht einmal Steven, sonst hätte er uns vermutlich gewarnt.

  Durch das Pfeifen und Brausen hindurch meine ich plötzlich einen Schrei zu hören und bin schon halb aus dem Schlafsack draußen, bevor ich richtig darüber nachgedacht habe, von wem der Schrei kam.

  Rae. Natürlich kam er von Rae.

  Es ist noch hell genug, um erkennen zu können, dass sie mit ihrem wild umherwirbelnden Zelt kämpft. Die Heringe haben sich auf einer Seite gelöst, die Außenhaut weht wie ein Segel im Wind, und auch eine Ecke des Innenzelts hat bereits abgehoben. Rae versucht gerade, eine der Halteleinen zu erwischen.

  «Vergiss es, Rae», rufe ich und greife nach ihrem Arm.

  Wieder dieses Herumfahren. Warum reagiert sie eigentlich immer so heftig, wenn man von hinten an sie herantritt? Immerhin versucht sie kein zweites Mal an diesem Tag, mich niederzuschlagen.

  «Das kannst du vergessen!», brülle ich sie an, um den Wind zu übertönen. «Darum kümmern wir uns morgen.»

  Als Nächstes rolle ich die Feuertonne so vorsichtig wie möglich auf den noch befestigten Rand der herumflatternden Außenhaut von Raes Zelt. Hoffentlich ist beides morgen früh noch da.

  «Schlafsack!», rufe ich Rae zu, die mich nur mit hochgezogenen Schultern anschaut, während ihr der Wind die Haare ins Gesicht peitscht.

  Ich versuche es kein zweites Mal, sondern zerre selbst erst Raes Schlafsack und dann, nachdem Rae mir das Ding abgenommen hat, den Rucksack aus ihrem Zelt heraus. Alles, was an Kleinteilen noch dadrin ist, werden wir morgen zusammensammeln. Sorgfältig verschließe ich den Reißverschluss zum Eingang wieder und werfe hastig Raes Tasche in mein Zelt hinein.

  «Na los!», brülle ich, weil Rae nur dasteht und keine Anstalten macht, ihrem Rucksack zu folgen.

  Endlich setzt sie sich in Bewegung, und erst als ich hinter ihr hergekrochen bin und alles zugezogen und verschlossen habe, was sich zuziehen und verschließen lässt, fällt mir auf, dass mir so dermaßen kalt ist, als hätte ich in Eiswasser gebadet. Dieser verdammte Sturm hat jeden Rest an Schlafsackwärme davongeweht, und Rae dürfte es ähnlich gehen. Ich taste nach der Campinglampe; trübes, gelbes Licht beleuchtet das Chaos hier drin.

  «Hätte ich gewusst, dass du heute Nacht noch vorbeischaust, hätte ich aufgeräumt», sage ich, während ich alles zur Seite räume, damit ich Raes Schlafsack ausbreiten kann.

  Noch immer pfeift und heult es draußen, doch wenigstens hier drin muss man nicht mehr brüllen, um sich verständlich zu machen.

  «Alles okay?», frage ich.

  «Ja, alles okay, ich hab mich nur … erschrocken.»

  «Sicher?» Irgendwie scheint mir der Ausdruck in Raes Gesicht nicht ganz zu ihrer Antwort zu passen.

  «Ja, klar, ich … ich hab mich nur etwas geratscht, glaube ich.»

  Langsam öffnet sie ihre linke Hand, die sie eben noch gegen ihre Brust gepresst hielt, und wir betrachten beide die blutige Wunde, die zum Vorschein gekommen ist.

  «Fuck», murmele ich. «Das sieht ja fies aus.»

  «Es tut gar nicht weh», behauptet Rae.

  Ich verursache neues Chaos um mich herum, als ich jetzt meinen Rucksack nach dem Sack mit dem Erste-Hilfe-Zeug durchwühle. Desinfektionsspray? Ist das nötig? Es blutet ziemlich heftig, aber ich möchte ungern ein Risiko eingehen. Nur wird es bestimmt brennen wie die Hölle, und Rae scheint mir gerade ohnehin etwas wackelig zu sein. Was ich im Übrigen verstehen kann. Sogar mir ist flau im Magen.

  «Diese blöde Leine ist einfach durch meine Finger gerutscht», redet Rae weiter, während Blut an ihrem Handgelenk heruntertropft.

  Zum ersten Mal, seit wir uns kennen, wirkt sie hilflos, und plötzlich entschlossen, ziehe ich das Desinfektionsmittel heraus. Einer unserer Töpfe muss herhalten, während ich Rae mit einer Wasserflasche das Blut abspüle. Danach trockne ich alles mit sterilen Tüchern und umfasse ihre unverletzte Hand, als ich zum Desinfektionsspray greife.

  Rae gibt keinen Ton von sich, aber meine Finger fühlen sich Sekunden später ziemlich durch die Mangel gedreht an. Noch einmal sterile Tücher, dann umwickele ich alles mit einer Mullbinde, so gut ich das eben hinbekomme.

  Für die Dauer dieser ganzen Aktion habe ich weder auf das Heulen des Windes geachtet noch bemerkt, dass mir inzwischen so kalt ist, dass meine Zähne kurz davor stehen, gegeneinanderzuschlagen.

  Ich überlege nur kurz, bevor ich Raes Schlafsack mit meinem durch die Reißverschlüsse miteinander verbinde. Körperwärme. In dieser Nacht dürften wir uns beide darüber freuen, und sowohl Rae als auch ich tragen so viele Kleiderschichten übereinander, dass sie das hoffentlich nicht missverstehen wird.

  «Okay?», frage ich trotzdem mit einer Handbewegung zum Doppelschlafsack hin.

  Als Antwort bewegt sich Rae in geduckter Haltung an mir vorbei und macht es sich auf einer Seite bequem. Ich lege mich daneben und schließe den letzten Reißverschluss.
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  Minuten verstreichen. Dankbar für die Wärme, die sich langsam auszubreiten beginnt, strecke ich einen Arm aus und lösche das Licht.

  Irgendwann beginnt es zu regnen. Die prasselnden Tropfen und der noch immer heulende Wind sind zu laut, um Raes Atmen zu hören. Ob sie schon eingeschlafen ist?

  Es ist Platz genug, um sich nicht berühren zu müssen, solange man kerzengerade auf dem Rücken liegt, und als das irgendwann unbequem wird, bewege ich mich trotzdem nicht. Eventuell wecke ich sie dann. Oder sie denkt, ich wolle mich an sie heranmachen. In dieser Hinsicht hat sie ja keine besonders hohe Meinung von mir. Na ja, vermutlich nicht nur in dieser Hinsicht.

  «Cayden?»

  Dass man im Liegen erstarren kann, habe ich bisher nicht gewusst, doch es gelingt mir ganz gut. Der Unterton in Raes Stimme ist neu für mich. Er passt zu dem Bild, das sie gerade abgegeben hat. Irgendwie … verwundet. Nicht nur ihre Hand.

  «Ja?»

  «Leah …»

  Ich warte. Warte lang. Vergesse beinahe zu atmen dabei.

  «Leah hat auf einem Konzert jemanden kennengelernt. Und dieser Jemand ist mit ihr danach zu einem leeren Fabrikgebäude gefahren und hat ihr dort die Kehle durchgeschnitten.»

  Gerade eben war mir endlich ansatzweise wieder warm, doch jetzt fühlt es sich so an, als hätte jede Wärme mich auf ewig verlassen.

  «Aber …» Ich muss mich räuspern. «Warum?»

  «Einfach so. Er befindet sich jetzt in einer psychiatrischen Einrichtung. Ihm tut alles schrecklich leid. Er sagt, er stand unter Drogen, und …» Rae wird leiser. Noch einmal setzt sie neu an. «Wäre ich dabei gewesen, wäre Leah nie mit ihm mitgegangen. Wahrscheinlich wäre sie ihm nicht mal über den Weg gelaufen. Ich war aber nicht dabei. Ich bin nicht mitgekommen, weil ich noch etwas für die Schule fertig machen musste, obwohl ausgemacht war, dass wir zusammen zu dem Konzert gehen. Sie war sauer auf mich. Wir haben uns nicht einmal richtig voneinander verabschiedet.»

  Raes dünne Stimme in der Dunkelheit. Und sie sagt Dinge, auf die mir keine Antwort einfällt, nichts. Gähnende Leere in meinem Kopf.

  Ich drehe mich um und lege einen Arm um sie, ziehe sie an mich. Erst dann fällt mir ein, dass ich das vielleicht nicht tun sollte, doch Rae lässt es geschehen.

  Wir liegen da in unserer Schlafsackhöhle inmitten des Sturms, und gerade als ich denke, dass Rae vielleicht eingeschlafen ist, sagt sie: «Jetzt tut mir meine Hand doch ein bisschen weh.»

  15.

  Rae

  Cayden liegt hinter mir und hat einen Arm um meinen Bauch geschlungen. Das ist das Erste, was ich nach dem Aufwachen registriere, noch bevor mir auffällt, dass der Wind nachgelassen hat. Man kann den Fluss wieder hören. Mit seinem beruhigenden Plätschern im Ohr öffne ich die Augen.

  Es ist hell. Das Zelt steht noch.

  Und ich habe Cayden gestern Nacht von Leah erzählt. Ihm alles erzählt.

  Ich schließe die Augen wieder.

  Das war … was war es? Dumm? Idiotisch? Obendrein nicht wirklich nachvollziehbar? Wieso erzähle ich ihm davon? Dankbar stürze ich mich auf diese Frage, weil es mir hilft, die anderen Bilder wieder ein Stück zurückzuschieben. Cayden hat nicht einmal nachgehakt, ich bin einfach damit herausgeplatzt. Warum?

  Ein neues Bild taucht vor mir auf. Cayden, der so sanft wie möglich Wasser über meine blutende Hand gießt. Als Nächstes habe ich ihm die Finger zerquetscht, weil dieses Desinfektionsspray so verflucht gebrannt hat, und während er sich auf den Verband konzentrierte, habe ich ihn angestarrt und bin ihm einfach … dankbar gewesen. Im Licht der Campinglampe schimmerten seine hellen Haare, die Lippen hatte er zusammengepresst, und er war so bemüht, wirklich, wirklich vorsichtig zu sein …

  Ich will mich ein wenig zur Seite drehen, ohne Cayden zu wecken. Ein Gefühl von Nähe flackert in mir auf, gegen das ich mich sofort aufzulehnen beginne. Wäre ich wegen dieses irrwitzigen Sturms letzte Nacht nicht so durcheinander gewesen und hätte ich mich nicht auch noch verletzt …

  Er hielt meine Hand in seiner, und als er mich ansah, war ich ihm nicht nur dankbar. Ich habe ihm plötzlich vertraut. Vollkommen.

  Im hellen Morgenlicht drehe ich den Kopf in seine Richtung und erwische den Moment, in dem Cayden die Augen aufschlägt. Diese viel zu dunklen Augen.

  «Guten Morgen, Kilgrave», sage ich, und sein gerade noch verschlafener Blick schärft sich.

  «Weißt du, was jetzt passieren würde, wäre ich wirklich wie Kilgrave?», erwidert er nach einigen Sekunden.

  Er hat sich nicht bewegt, doch die Wärme seiner Hand auf meinem Bauch scheint sich plötzlich zu intensivieren. Ein Lächeln taucht in seinen Mundwinkeln auf.

  «Was?», frage ich so herausfordernd, wie mir das in diesem Moment möglich ist.

  Seine Hand verschwindet von meinem Körper. Er stützt sich auf beide Unterarme und beugt sich über mich. Alles, was ich jetzt noch sehen kann, ist sein Gesicht, die glatten Haare, die über seine Stirn fallen und die meine berühren würden, würde er seinen Kopf noch ein Stückchen weiter senken. In seinen Augen meine ich so etwas wie Sehnsucht zu erkennen, und nur noch ein letzter Rest an Vernunft weist mich darauf hin, dass Cayden das kann – er kann genau das sein, was sein Gegenüber braucht, und ich … Herrgott, ich weiß ja nicht mal, was ich brauche.

  Cayden richtet sich abrupt auf. «Ich geh mal Zähne putzen.»

  Ein paar Sekunden lang schaue ich ihm verwirrt dabei zu, wie er aus dem Schlafsack klettert, seine Sachen zusammensucht und den Reißverschluss des Zelteingangs aufzieht.

  «Boah, kalt», höre ich ihn noch sagen, dann ist er draußen, und der Verschluss wird von außen wieder zugezogen.

  So atemlos, als hätten wir uns tatsächlich gerade geküsst, liege ich da, und nur langsam gelingt es mir, Cayden in Großaufnahme wieder aus meinem Hirn zu schubsen.

  Wie verrückt ist das alles eigentlich?

  Plötzlich habe ich es eilig. Ich will auf keinen Fall noch immer hier in diesem Doppelschlafsack liegen, wenn Cayden zurückkommt. Hastig arbeite ich mich ebenfalls heraus, wobei mir ein dumpfer Schmerz durch den Arm schießt, weil ich mich dabei auf meiner verletzten Hand abstütze. Wenigstens ist der Verband noch in Ordnung, und durchgeblutet hat es auch nicht.

  Draußen zeigt sich der Himmel bedeckt. Der Fluss schäumt grau in seinem Bett, und Cayden hat recht, im Vergleich zu gestern ist es wirklich kalt.

  Mein Zelt sieht ziemlich mitgenommen aus. Der innere Teil steht noch halbwegs, doch die Außenhaut hätte sich mit Sicherheit davongemacht, würde nicht die schwere Tonne darauf liegen. Mühsam rolle ich sie herunter. Sie hat einen hässlichen, schwarzen Abdruck auf dem Zeltstoff hinterlassen, doch das Meiste kann man vermutlich abbürsten, und immerhin ist nichts beschädigt.

  Als Cayden zurückkehrt, bin ich gerade dabei, das Innenzelt wieder aufzurichten.

  «Mann, es hat ganz schön gewütet.» Nachlässig wirft er ein paar Kleidungsstücke durch den Eingang seines Zelts, den ich nicht wieder hinter mir geschlossen habe. «Steven meint, es seien sogar Äste runtergekommen. Gerade läuft er rum und kontrolliert die Stellplätze. Zum Glück wurde niemand verletzt.»

  «Nur ich hab’s geschafft.» Ich lasse die Zeltschnur, die ich gerade zu spannen versucht habe, sinken, grinse ein wenig bemüht und hebe die Hand, die Cayden gestern verbunden hat. Irgendwie fällt es mir in diesem Moment schwer, ihn direkt anzusehen. «Danke, übrigens.»

  «Tut es sehr weh?», fragt er.

  «Nein, nicht schlimm.»

  «Der Verband muss gewechselt werden, wenn er nass wird.»

  «Natürlich, Dr. Terrell», erwidere ich. «Ich komm dann wieder zu Ihnen in die Praxis.»

  «Tu das. Lass dir am besten gleich einen Termin geben.»

  Sein Grinsen ist spöttisch wie gewohnt, doch irgendwie passt der Ausdruck in seinen Augen nicht dazu. Ich weiß, an was du gerade denkst, Cayden.

  Genau deshalb rede ich normalerweise nie über Leah. Alles wird dadurch nur realer. Es ist schwer genug, mit meinen eigenen Gedanken klarzukommen, ich will sie nicht auch noch im Gesicht meines Gegenübers widergespiegelt finden.

  «Zeig mal», sagt er jet
zt.

  «Was?»

  «Deine Hand.»

  «Die ist schon okay.» Ich erhebe mich, um die Schnur auf der anderen Seite des Zelts straff zu ziehen.

  «Zweifelst du etwa meine ärztliche Kompetenz an?»

  Ich muss grinsen. «Sie ist wirklich okay, aber bitte …», ich halte ihm meine Hand hin, «… was sagt der Handchirurg?»

  Cayden mustert ein paar Sekunden lang den etwas angeschmutzten Mullstoff. «Wer auch immer diesen Verband angelegt hat, war ein Profi.»

  «Beruhigend.»

  Als ich nach der Außenhaut greife, bückt Cayden sich ebenfalls, und gemeinsam bauen wir mein Zelt neu auf. Glücklicherweise hat es, abgesehen davon, dass es an einigen Stellen ziemlich verdreckt ist, wirklich keine Schäden davongetragen.

  So unauffällig wie möglich beobachte ich Cayden, während er die letzten Klettverschlüsse schließt, doch es fällt mir schwer, ihn so zu sehen wie noch vor wenigen Tagen.

  Wie hat Haven ihn beschrieben? Als zurückhaltend?

  So weit würde ich jetzt nicht gehen, aber meine bisherige Meinung über ihn wird ihm auch nicht gerecht. Hinter all seiner Perfektion liegt mehr – noch immer finde ich ihn mit gutaussehend, arrogant und zynisch recht treffend beschrieben, doch mittlerweile würde ich interessant hinzufügen. Und überraschend. Und … anziehend.

  Hätte mir irgendjemand vor einer Woche erzählt, ich würde gemeinsam mit Cayden Terrell in einem Schlafsack schlafen, ich hätte denjenigen für vollkommen irre erklärt, weil … Cayden sieht auf.

  Verdammt. Zu spät abgewendet.

  «Frühstück?», fragt er sanft. Viel zu sanft für eine so simple Frage.

  «Klar.» Ich dagegen gebe mich forscher, als ich mich tatsächlich fühle. Vielleicht wäre ich weniger vorsichtig, hätte ich nicht schon erlebt, wie Cayden sein Verhalten … na ja, anpassen kann. Wie er sich auf sein Gegenüber einstellt, um irgendetwas zu erreichen. Keiner außer ihm hätte meine Mutter so schnell dazu bringen können, meinen Plänen zuzustimmen – in der Nachricht, die sie mir heute Morgen geschrieben hat, steht drin, ich solle ihn von ihr grüßen.

 

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