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002 - Free like the Wind

Page 28

by Kira Mohn


  «Was?», frage ich viel zu spät. «Was tun sie nur in blöden Filmen?»

  Cayden nimmt die Hände aus den Taschen und kommt auf mich zu. «Sie küssen sich morgens, ohne sich vorher die Zähne zu putzen», sagt er ernst, doch in seinen Augen sehe ich dieses spöttische Funkeln.

  Oder vielleicht ist es auch nicht spöttisch, sondern …

  Seine Hände gleiten über meine Hüften und weiter den Rücken hinauf, streichen über meine Wirbelsäule, während er wartet.

  Ein paar Sekunden lang kapiere ich nicht, worauf er wartet – warum küsst er mich denn nicht?

  Dann verstehe ich. Er hat die Ansage gemacht, aber die Entscheidung liegt bei mir.

  Mit einer Hand fahre ich ihm langsam durch die weichen Haare, bevor ich ihn zu mir ziehe. Er schließt die Augen, der Druck seiner Hände wird stärker, und ich komme ihm entgegen, schlinge beide Arme um seinen Hals und möchte mich auflösen in diesem Kuss, der mich zurückwirft in einen Wald, mich fast vergessen lässt, warum ich hierhergekommen bin.

  Seine Hände wandern hinunter, und als er sie wieder nach oben gleiten lässt, fühle ich sie direkt auf meiner nackten Haut.

  Das Klingeln des Telefons auf dem Nachttisch lässt mich zusammenfahren. Cayden löst sich von mir und nimmt den Hörer ab, nur um ihn mit einem knappen «Danke» wieder aufzulegen.

  «Wer war das denn?», frage ich.

  «Weckdienst. Hab ich für halb neun bestellt.»

  «Du stehst freiwillig um halb neun auf?»

  «Ich muss heute noch ein paar Dinge erledigen.»

  Er greift nach meiner Hand und zieht mich wieder zu sich. Diesmal wartet er nicht, sondern lässt sich einfach mit mir aufs Bett fallen.

  Ein paar Alarmglocken springen bei mir an. Das würde mir jetzt allerdings doch zu flott gehen.

  Doch Cayden unternimmt keine Anstalten, weiter zu gehen. Mit nachdenklichem Gesichtsausdruck wickelt er sich eine meiner Haarsträhnen um den Finger.

  «Ich mag blau», stellt er fest.

  Er liegt neben mir auf der Seite, den Kopf in die Hand gestützt, und aus seinen dunklen Augen lese ich keinen Spott heraus, als er einmal tief durchatmet. «Okay, jetzt zu meiner Frage von letzter Nacht. Jackson ist dabei.»

  Das war klar. Für Jackson ist das ja auch keine besonders gewichtige Entscheidung – er wohnt sowieso schon mit Cayden zusammen.

  «Und Haven?», frage ich.

  «Und du?», gibt Cayden zurück.

  Irgendwie geht das alles zu schnell. Zusammenziehen … in meiner Vorstellung kommt das quasi einer Verlobung gleich, und bisher weiß ich nicht mal, ob mit Cayden so etwas wie eine Beziehung möglich ist. Was, wenn er und ich da ganz unterschiedliche Vorstellungen haben? Man zieht doch nicht einfach so zusammen, Herrgott noch mal.

  «Es ist eine WG», erinnert mich Cayden.

  «Rede ich laut beim Nachdenken?»

  «Ich glaube nicht.»

  «Woher weißt du dann so oft, was du wann sagen musst?»

  «Intuition.»

  Ganz bestimmt. Fein ausgearbeitete, für Cayden überlebensnotwendige Intuition.

  «Was ist mit deinem Vater?», frage ich leise.

  «Den habe ich nicht gefragt, ob er mit einziehen will.»

  «Wann willst du ihm sagen, dass du ausziehst?»

  «Hab ich schon.»

  «Was?»

  Cayden lässt sich auf den Rücken fallen und starrt gegen die Zimmerdecke. «Ich hab ihm letzte Nacht noch eine Nachricht geschrieben. Er weiß, dass ich wieder da bin. Er weiß, dass ich ausziehen will.»

  «Offenbar hast du letzte Nacht so einige Nachrichten geschrieben.»

  «Nein, es waren gar nicht so viele.» Er dreht den Kopf, um mich ansehen zu können. «Und sie waren alle wichtig.»

  Eine Weile mustern wir uns schweigend, und in meinem Kopf fallen dabei mit lautem Getöse Gedanken übereinander.

  «Warum willst du mit mir zusammenwohnen?»

  «Es fühlt sich richtig an», erwidert er.

  «Was würde das dann bedeuten?»

  «Dass wir zusammen sind.»

  Seine Antwort lässt mich schlucken. Ein sanftes Kribbeln breitet sich in meinem Magen aus.

  «Was, wenn ich nicht in deine WG einziehen will?»

  Caydens Antwort kommt nicht sofort. «Dann … sind wir trotzdem zusammen?»

  Er formuliert es wie eine Frage, und die Wärme, die von meiner Körpermitte ausgeht, nimmt zu.

  Ich setze mich auf, um Cayden besser ansehen zu können. Sein Blick folgt mir, und wie er da vor mir auf dem Bett liegt, wirkt er plötzlich sehr jung und verwundbar.

  Er ist gerade verwundbar, wird mir klar.

  Er hat mir eine Frage gestellt, eine Frage, die man nicht jedem stellt, und nach all dem, was ich über Cayden weiß, stellt er solche Fragen nie.

  Aber er hat sie mir gestellt und wartet. Auf meine Antwort.

  Und ich? Was will ich? Er ist anstrengend, er ist schwierig, er ist kompliziert. Aber das bin ich auch.

  Und er ist … intelligent. Witzig. Aufmerksam. Der empathischste Mensch, der mir je untergekommen ist. Ausgerechnet Cayden Terrell.

  «Okay», sage ich und lächle vorsichtig. «Aber ich will erst die Wohnung sehen.»

  Die Anspannung, die von Cayden abfällt, ist spürbar. Er legt mir eine Hand in den Nacken, und als wir uns jetzt küssen, hat sich schon wieder etwas verändert – fühlt sich eigentlich jeder Kuss mit diesem Mann immer wieder anders an? Immer anders, aber definitiv so, dass ich einfach nur weiter und immer weitermachen möchte?

  «Willst du mitsuchen?», fragt er irgendwann. «Nach der perfekten Wohnung?»

  «Für den perfekten Mann?», rutscht es mir heraus, doch Cayden geht gar nicht darauf ein.

  «Für dich und für mich. Ach ja, und für Jackson. Und vermutlich Haven.»

  In einer Wohnung mit diesen drei Leuten. Allein. Ohne meine Mutter. Aber in der Nähe meiner Mutter, oder?

  «Wir suchen was in Edmonton, richtig?»

  «Klar. Oder willst du hier weg?»

  «Nein.»

  «Dachte ich mir. Sonst hätte ich eine Waldhütte ins Spiel gebracht.»

  Ich weiche ein Stück zurück. «Hättest du nicht.»

  «Nein, hätte ich nicht.» Er zieht mich wieder an sich, meine Wange ruht auf seiner Brust. Cayden streicht mir durch die Haare, ein wenig gedankenverloren.

  Seltsamerweise fühlt es sich plötzlich so an, als warte er immer noch auf irgendetwas, sein wild schlagendes Herz verrät seine Anspannung. Als er sich plötzlich aufrichtet und mit einer Hand meinen Rücken stützt, während ich aufs Bett zurückrutsche, bin ich nur kurz überrascht. Er küsst mich wieder, doch ich habe den Blick in seinen Augen gesehen, bevor er die Lider senkte, und ich weiß jetzt, worauf er noch wartet. Auf die Antwort seines Vaters.

  Trotzdem küsse ich ihn ebenfalls, weil er es braucht und weil ich es will – ich habe bisher gar nicht gewusst, dass ein Kuss so sein kann, so viel mehr als nur das Aufeinandertreffen von meinem Mund und einem anderen. Alle Typen, die ich früher geküsst habe, können froh sein, dass Cayden nach ihnen kam.

  Als er jedoch mit seiner Hand unter mein Shirt gleitet und weiter nach oben fährt, lege ich meine Hand darüber.

  «Meinst du, er meldet sich heute noch?», frage ich.

  Caydens Kopf sinkt kurz nach unten, seine Haare streifen meinen Hals, dann sieht er wieder auf.

  «Garantiert. Vermutlich ist er schon auf dem Weg hierher.»

  «Denkst du wirklich?»

  Er richtet sich auf, setzt sich ans Fußende und stützt die Ellbogen auf die Knie. «Gut möglich.»

  «Warum? Ich meine … lässt sich das nicht auch am Telefon klären?»

  «Er weiß, dass er mehr Macht hat, wenn er mir gegenübersteht», erwidert Cayden einfach.

  Plötzlich würde ich Caydens Vater gern sehen. Ich möchte wissen, wie der Mann aussieht, der so skrupellos ist, so sadistisch, so gefühllos … ich möchte den Mann kennenlernen, der Cayden noch immer zwischen seinen Fingern zerquetscht.

  «Wirst du also mit ihm reden?»

  Cayden nickt.

  �
�Du könntest dich auch einfach weigern.»

  Ein paar Sekunden sieht Cayden mich nur an, und schließlich atme ich langsam aus.

  «Nein, könntest du nicht», berichtige ich mich.

  Cayden fährt sich mit beiden Händen in die Haare, und unwillkürlich vergleiche ich diesen Cayden mit dem Mann, der er noch vor einigen Wochen für mich war.

  Arrogant, unnahbar, spöttisch, herablassend. Auch charmant und schlagfertig, ja, aber vor allem ein Mensch, der nichts und niemand ernst nahm.

  Der Cayden, der jetzt vor mir sitzt, ist … mehr als dieser andere Mann. So viel mehr. Da ist Schwäche in seinem Gesicht, Unsicherheit, Angst. Und trotzdem eine Härte, die mir klarmacht, dass er das durchziehen wird. Er wird vor seinem Vater nicht davonlaufen.

  «Soll ich … wäre es einfacher für dich, wenn ich dabei wäre?», frage ich.

  Gerade noch hat Cayden auf irgendeinen Punkt knapp neben meinem Gesicht geschaut, jetzt sieht er mich an. Sein Lächeln ist weich.

  «Nein», sagt er. «Aber danke für das Angebot.»

  Ich setze mich ebenfalls auf. Den Rücken gegen das Kopfende gelehnt, warte ich mit Cayden zusammen.

  «Was wirst du ihm sagen?», frage ich irgendwann.

  «Keine Ahnung.»

  «Schlag ihn mit den Waffen, die er dir gegeben hat.»

  Mein Herz klopft schneller, weil er jetzt grinst. «Vielleicht», erwidert er. «Aber ich habe auch noch meine eigenen Waffen.»

  Cayden

  Als mein Telefon klingelt, sitzen wir beide immer noch gegen die graue Wand des Hotelzimmers gelehnt auf dem Bett. Raes Kopf liegt auf meiner Schulter und meiner auf ihrem. Ich habe einen Arm um sie gelegt, und es fühlt sich ein bisschen so an, als warte ich auf meine Hinrichtung.

  Hinrichten wird er mich auch, das ist mal sicher.

  Es ist zehn Uhr achtundzwanzig, als ich das Gespräch mit meinem Vater annehme.

  «Hi.»

  «Cayden. Bist du zu Hause?»

  «Nein.»

  «Ich bin gegen acht da. Termine, eher ging es nicht. Wir hätten wohl einiges klären sollen, bevor du dich auf einen Abenteuerurlaub begibst.»

  «Ich bin im Holiday Inn.»

  Auf diese Information folgt ein kurzes Schweigen.

  «Welche Zimmernummer?», fragt er schließlich.

  «727.»

  «Gut, dann bis nachher.»

  Alles an mir ist angespannt, sogar mein Arm scheint sich nur widerwillig zu senken. Ich werfe das Smartphone auf das Kopfkissen neben mir.

  «Kommt er?», fragt Rae.

  «Um acht», bestätige ich. «Hierher.»

  «Okay, dann lass uns jetzt was essen.» Rae schwingt die Beine von der Matratze. «Ich verhungere.»

  «Rae, warte.» Der schwarze Panikkreisel, der sich in meinem Hirn dreht, seit ich seine Stimme gehört habe, ist noch winzig. Er wird größer und schneller werden, ich weiß das, aber noch ist er klein genug, um ein paar andere Fragen loszuwerden, die ich wohl längst hätte stellen sollen.

  «Wie geht es dir?», will ich wissen, und das ist keine Floskel.

  Rae, die sich schon halb erhoben hat, sinkt wieder auf das Bett zurück. «Okay», sagt sie.

  «Was hattest du heute für Pläne? Bevor du den ganzen Morgen hier hängengeblieben bist?»

  «Keine. Also … ich hatte noch nicht darüber nachgedacht.»

  «Dann denk jetzt nach. Wir haben noch Zeit.»

  «Wir?»

  «Wenn du willst?»

  «Dann … was essen?»

  «Okay.»

  «Und danach … ich wollte etwas tun. Wegen Leah.» Sie beginnt, an einer Falte im Laken herumzuzupfen. «Ich will … ich will mich von ihr verabschieden. Nicht so friedhofsmäßig», fügt sie hastig hinzu. «Eher so, wie Leah und ich uns immer voneinander verabschiedet haben. Nur eben … beim letzten Mal nicht.»

  Ich nicke. «Aber das willst du vermutlich auch allein tun, oder?»

  «Ja, ich denke schon.» Sie lacht leise. «Wir sind es vielleicht beide noch nicht so gewohnt, wichtige Dinge mit jemandem zusammen zu tun.»

  «Könnte sein. Lass uns damit anfangen, zusammen essen zu gehen – wir gehen doch essen, oder? Oder wolltest du eine Tütensuppe machen?»

  «Ich dachte an Nudeln.»

  «Mit oder ohne Tütensuppe?»

  Diesmal lacht Rae lauter. «Ohne. Wir kochen. Hast du überhaupt schon mal gekocht, Cayden?»

  «Nicht wirklich.»

  «Woher wusste ich das jetzt?»

  «Keine Ahnung.» Ich beuge mich vor und ziehe sie gleichzeitig am Arm näher zu mir. Ich will eigentlich nichts essen. Schon gar keine langweiligen Nudeln. Mir ist viel mehr danach, Rae zu küssen, weil es sich verflucht gut anfühlt, das ohne Fragezeichen im Kopf zu tun. Sie einfach küssen zu dürfen, weil wir zusammen sind – hey, ich bin mit ihr zusammen!

  Ich küsse Rae heftiger, weil dieser Gedanke in meinem Kopf gerade eine Art Feuerwerk und daneben so etwas wie eine Panikattacke auslöst. Der schwarze Kreisel wird größer, und jetzt lenke ich meine Aufmerksamkeit ganz auf Rae, auf ihre Haare, die zwischen meinen Fingern hindurchfließen, auf das Gefühl, das ihre Hände auf meiner Haut hinterlassen, und auf ihren Mund.

  Als sie irgendwann zurückweicht, bin ich kurz davor, ihr hinterherzurücken, um sie mit weiteren Küssen davon zu überzeugen, dass es eine großartige Idee wäre, einfach noch ein bisschen hierzubleiben, in diesem Zimmer, auf diesem Bett.

  Aber nein.

  Ich habe die Ginflasche in der Villa meines Vaters zurückgelassen, und ich werde mich auch nicht mit Sex von dem ablenken, was heute noch auf mich wartet. Wenn ich irgendwann mit Rae schlafe, werde ich das tun, ohne dass es einen Zweck erfüllt und ohne dass ich dabei die Stimme meines Vaters dadurch ausblenden muss, dass ich mich auf ihren Körper konzentriere.

  Sie tupft mir einen letzten Kuss auf die geschlossenen Lippen, bevor sie aufsteht. «Wir fahren zu mir», sagt sie. «Sieh zu und lerne. Ich glaube, in einer WG schadet es nicht, wenn alle kochen können.»

  Raes Mutter ist nicht zu Hause, wie ich eine halbe Stunde später feststelle.

  «Montags ist sie vormittags in der Bibliothek», klärt Rae mich auf, während sie Wasser in einen riesigen Topf füllt und dann eine große, gusseiserne Pfanne aus dem Schrank nimmt. «Magst du Kapern?»

  «Ich liebe Kapern.»

  «Und scharfes Essen?»

  «Sogar noch mehr als Kapern.»

  So wie es aussieht, bin ich beim Kochen kein Naturtalent. Meine Zwiebelstückchen lassen Rae mit einem herablassenden Lächeln noch einmal zum Messer greifen, und sie holt Luft, als sie mich mit dem Chilipulver herumhantieren sieht.

  «Was denn? Du meintest doch, es soll scharf werden.»

  «Na ja, aber man muss es noch essen können.»

  Sie verwässert meine garantiert perfekte Chilisoße und gibt nach dem zweiten Probieren noch mehr Sahne dazu.

  «Warum sagst du nicht, dass es mehr so um einen Hauch Schärfe im Abgang geht?», frage ich, dazu verdonnert, keine Gewürze mehr anzufassen.

  Rae zieht nur die Augenbrauen in die Höhe. Als wir später vor unseren Tellern sitzen, lauert sie so offensichtlich auf meine Reaktion, dass ich mir ein Grinsen verkneifen muss.

  «Perfekt», verkünde ich und schiebe mir eine dritte Gabel Nudeln in den Mund.

  «Noch mehr Soße?», fragt Rae zuckersüß.

  «Wenn sie dir zu scharf ist, gib her.»

  Ich tue mir selbst mehr davon auf und esse weiter, ohne Raes enttäuschten Gesichtsausdruck zu beachten.

  Das Wasser neben meinem Teller ignoriere ich. Man soll höchstens Milch trinken, wenn die Kehle bereits blutet.

  Nach den Chilinudeln – ich habe mir ein Stück Brot organisiert, und Rae hat zufrieden gekichert – sitzen wir im Garten hinter dem Haus auf der Wiese, und ich reiße einzelne Grashalme ab, während Rae mir erzählt, wie sehr sich das Leben bei ihr zu Hause seit dem Tod ihrer Schwester verändert hat.

  «Wir waren früher jedes Jahr in den Ferien in einem anderen Land. Meistens in Europa – Mum liebt Europa.» Sie flechtet eine blaue Haarsträhne zu einem dünnen Zopf und löst ihn w
ieder auf. «Seit Leah nicht mehr da ist, sind wir überhaupt nicht mehr weggefahren. Nicht mal an den Wochenenden. Einfach gar nicht mehr. Dad ist beruflich jetzt sehr eingespannt – das ist die Ausrede für alles. Meine Eltern vergraben sich einfach.»

  «Deine Eltern trauern noch.»

  «Das tun wir alle.» Rae wirft mir einen Blick zu. «Und werden es irgendwie auch immer tun.» Sie greift wieder in ihre Haare und beginnt, neu zu flechten. «Aber meine Mutter hat auch einfach Angst. Dass noch etwas passieren könnte. Dass mir etwas passieren könnte.»

  «Es wird sich verändern, wenn du ausziehst.»

  «Ja, vielleicht.» Rae sieht nicht überzeugt aus. «Als wir im Jasper National Park waren … ich hatte dort so oft das Gefühl, dass ich … anders atme. Dass jeder Schritt auf einem Weg, den ich noch nie gegangen bin, etwas Besonderes ist. Als würde sich etwas in mir vergrößern, allein dadurch, dass ich an einem Ort bin, an dem ich noch nie war. Verstehst du?»

  «Ja.»

  «Ich will das wiederholen. Ich wünschte, meine Eltern würden mitkommen, aber ich würde das auch allein tun. Oder …»

  Unsicher sieht sie mich an, und ich greife nach ihrer Hand. Sie erwidert den Druck.

  «Leah und ich wollten immer reisen. Meinst du … meinst du, wenn ich es ohne sie tue, begleitet sie mich?»

  «Ich hab keine Ahnung, Rae. Vielleicht.»

  «Ich werde ihr einen Brief schreiben, habe ich mir überlegt. Nachher. Wenn du zurück ins Hotel gegangen bist.»

  Während ich mich auf meinen Vater vorbereite, wird Rae sich an Leah wenden. An ihre tote Schwester.

  «Klingt, als wird es heute noch ziemlich emotional für uns beide.»

  Rae rückt näher und schmiegt sich an mich. «Aber wir schaffen das. Oder?»

  «Auf jeden Fall.»

  Hoffe ich.

  Ich rupfe mehr Grashalme aus und denke an meinen Vater.

  21.

  Rae

  Sobald Cayden gegangen ist, setze ich mich an den Schreibtisch und starre auf das Blatt Papier vor mir.

  Zunächst weil mich der Gedanke daran ablenkt, wie es Cayden in diesem Moment geht. Er sagte, er müsse noch ein paar Dinge organisieren, und ich frage mich, ob das, was er sich für das Gespräch mit seinem Vater vorgenommen hat, funktionieren wird.

 

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