Feen Buch 1: Der Weg nach Imanahm
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Er grüßte Shaljel und lächelte dabei. Er wusste, was Shaljel dort tat und hatte sich selbst schon mehrfach bemüht, Pilger zu vertreiben. Es lag ihm jedoch nicht, unfreundlich zu Fremden zu sein. Streiter hatte nach den ersten zwei Versuchen gewitzelt, dass Estrons Methode vermutlich effektiver war als die von Shaljel, denn die Pilger verließen den Hof nicht mit der Hoffnung, es vielleicht später noch einmal versuchen zu können, sondern mit der berechtigten Furcht, noch einmal von einem Menschen, einem jener Mörder und Diebe, die ihr Volk verfolgten, freundlich behandelt werden zu würden, sollten sie es wagen, zurückzukehren. Es fiel Shaljel schwer, sich etwas vorzustellen, das für ihn ähnlich befremdlich gewesen wäre. Vielleicht, aber nur vielleicht, konnte er es damit vergleichen, wie er sich vermutlich fühlen würde, wenn er von einem Drachen freundlich geküsst würde. Aber nur vielleicht.
Nachdem er sich gewaschen hatte, kam der Mensch zu ihm hinübergeschlendert und begleitete ihn auf seiner kleinen Runde.
„Guten Morgen, hochverehrter Meister Githon.” Niemand, mit dem Shaljel länger als zwei Tage zusammen gewandert war, nannte ihn jemals bei seinem zweiten Namen, noch viel weniger wurde er jemals mit Meister angesprochen, außer von Estron.
„Warum tust du das?”
„Was meint ihr?”
„Mich Meister nennen? Nicht einmal Streiter, dessen Meister ich wenigstens als Lehrer bin, nennt mich so.” Jetzt, wo Shaljel darüber nachdachte, kamen ihm noch ein paar weitere Ungereimtheiten in den Sinn. Das war das Problem mit Feen, dass ihre Gedanken sich so selten mit etwas wirklich wichtigem beschäftigten.
„Du sprichst nicht einmal die Ältesten der Aleneshi so an, noch erfährt Ohnfeder eine vergleichbare Ehre. Warum gerade bei mir?”
„Mhm, nun, ich weiß nicht, wie ich euch anders ansprechen soll.”
„Shaljel reicht vollkommen aus.”
„Nein, das war jetzt missverständlich ausgedrückt.” Estron blickte zu Boden, gerade so, als würde er sich schämen.
„Ich meine, mhm, dass ich nicht weiß, wie ich sonst meine Ehrerbietung ausdrücken soll.”
„Welche Ehrerbietung. Du siehst doch, wie mich andere Behandeln. Genauso wäre es richtig. Ich bin nichts Besonderes.”
„Doch das seid ihr.” Er schwieg einen Moment und blickte Shaljel endlich wieder an. Dieser erwiderte den Blick, auf eine Erklärung wartend.
„Schon bei unserer ersten Begegnung sind mir so einige Sachen aufgefallen, die darauf hindeuteten, dass ihr kein Aleneshi seid.” Als er dies hörte, tat Shaljel überrascht, lächelte aber dabei.
„Und selbst die Aleneshi, die hierherkommen, behandeln euch nicht, wie einen der ihren. Einige mögen euch für einen großen Lehrer halten, oder sogar für einen Propheten, aber selbst jenen ist bewusst, dass ihr anders seid als sie.” Shaljel blickte ihn erwartungsvoll an.
„Nun, ich habe außerdem ein paar Gesprächsfetzen mitangehört, in denen davon gesprochen wurde, wie alt ihr wohl seid. Und ich hatte bei unserem ersten Treffen gleich das Gefühl, euch irgendwoher zu kennen. Ich konnte dieses Gefühl an nichts festmachen, aber auf dem Weg hierher ist mir wieder eingefallen, dass ich einmal einen Karaka traf, der sich wie ihr verhielt. Aber bei den Karaka fiel es nicht so sehr auf, da sie flinker, stärker, einfach agiler sind als die Aleneshi.”
„Und?” Estron wollte ihn anscheinend auf die Folter spannen, denn selbst auf Shaljels Frage offenbarte er immer noch nicht seine Schlussfolgerung.
„Warum bin ich dann ein Meister?”
„Mhm, ihr seid ein Formwandler, ihr seid sehr langlebig, ihr kümmert euch nicht, bei welchem Volk ihr seid. Es gibt nur drei Möglichkeiten, die dies erklären könnten.” Wieder schwieg er für einen Moment, aber gerade als Shaljel etwas sagen wollte, fuhr er fort:
„Ihr könntet ein Magier sein, aber selbst bei diesen habe ich bisher von keinem gehört, der besonders langlebig wäre. Ihr könntet auch ein Drache sein, aber dann wärt ihr wirklich ein ungeheuer seltsamer Drache und ich habe bisher nichts Drachisches in euch gesehen, wobei ich zugeben muss, nicht viel Erfahrung mit Drachen zu haben. Bleibt nur noch die dritte Möglichkeit.”
„Ärr ist ain Fään, Rruor rrierren tass.” Der Keinhäuser blickte sich ruckartig um. Er hatte Streiter nicht kommen hören. Shaljel wandte seinen Kopf nur langsam, schenkte dafür dem Chuor jedoch einen bösen Blick.
„Uass? Ärr uollte äs torr kratte sälpst saagän.”
„Ja, das wollte ich wohl. Guten Morgen, Streiter.”
„Na, dann ist es ja jetzt endlich raus und ich muss dir gratulieren, denn du bist der erste Mensch, der die richtigen Schlüsse gezogen hat. Sag‘s aber bitte niemand weiter. Ich denke nicht, dass es gut wäre, wenn es bekannt würde.”
„Oh, da bin ich aber erleichtert.”
„Wieso?”
„Ich hatte mir Sorgen gemacht, ihr könntet etwas dagegen haben, dass ich das Geheimnis kenne.”
„Es ist kein Geheimnis an sich, aber ich erzähle es eben niemandem.”
Inzwischen war aus dem Wohnhaus ein lautes Poltern zu hören.
„Das heißt wohl, dass Ohnfeder aufgestanden ist. Ich werde mal zu ihr gehen, und mich ein wenig um sie kümmern. Streiter, du weißt, was du zu tun hast.”
Der große Chuor, knurrte nur etwas missmutig und begann mit seinen allmorgendlichen Übungen.
„Ich werde wohl erst einmal meine Schüler wecken gehen.”
„Ach, bevor ich es vergesse: Heute Nachmittag werde ich einmal kurz die Nachbarschaft besuchen und einiges erledigen.” Und damit verschwand Shaljel mit langen, für einen Aleneshi sehr untypischen Sprüngen in der Hütte, wo er kurz darauf die heulende Ohnfeder in den Arm nehmen musste.
Der Vormittag war mit den üblichen Pflichten vergangen. Ohnfeder hatte das Haus bisher nicht verlassen, aber ihre Gäste wussten inzwischen sehr genau, was sie zu tun hatten. Zwischendurch gingen Estron und seine Schüler in den Wald, um einige späte Beeren zu pflücken, schmackhafte Wurzeln auszugraben und auch ein paar Pilze zu sammeln, denn der Hof war nicht dafür gedacht, eine so große Zahl an Gästen auf Dauer zu bewirten. Außerdem wollten sie auch für den Winter vorsorgen, wenn alles ein wenig knapper werden würde und Ohnfeder ihre Kinder zur Welt brachte. Denn obwohl auch Aleneshi mehr als 10 Monate ein Kind austrugen, war diese Schwangerschaft bereits nach zwei Monaten so fortgeschritten, dass niemand daran zweifelte, dass sie höchstens halb so lange währen würde.
Mit dem Mittagsrufen kam Shaljel wieder aus dem Haus, wenig später gefolgt von Ohnfeder. Sie hatte sich erneut merklich über Nacht verändert. Ihr Bauch war bereits so rund, dass Estron bezweifelte, ob sie die letzten Wochen ihrer Schwangerschaft überhaupt noch Aufstehen können würde. Aber sie lächelte, als sie ihre Gäste und Helfer an den Tisch winkte, und es war nicht das aufgesetzte Lächeln einer leidenden, die gute Miene zum bösen Spiel machte.
Das Essen war reichhaltig und Ohnfeder langte kräftig zu. Sie aß selbst etwas von dem Fleisch, welches durch Streiters Jagdgeschick jeden Tag frisch auf den Tisch kam, dass er sonst jedoch alleine aß.
„Shaljel sagte, dass ihr alle bald auf eine lange Reise gehen würdet.”
Die Menschen hielten in ihrem Essen inne und Estron blickte zu Shaljel hinüber, während dieser übersetzte. Er hatte gewusst, dass sie bald aufbrechen würden, aufbrechen müssten. Der Winter kam und wenn sie noch irgendeinen Ort erreichen wollten, dann mussten sie jetzt aufbrechen. Aber er hatte nie daran gedacht in der Gesellschaft von Shaljel und Streiter weiterzuwandern.
„Ja, wir müssen diesen schönen Hof bald verlassen, denn wir können euch unmöglich noch länger zur Last fallen.”
Shaljel lachte. Ohnfeder lächelte nur.
„Ich muss mich bei euch und euren Schülern entschuldigen, Keinhäuser, denn ihr wart mehr als zuvorkommend und hilfsbereit mir gegenüber, während ich euch die ganze Zeit über nur mit Verachtung gestraft habe.”
„Es bedarf keiner Entschuldigung. Ich hätte nicht so vorlaut sein dürfen.” Er verneigte sich im Knien vor der Hausherrin. Dann wandte er sich an Shaljel. „Und wann werden wir aufbrechen?”
Der Feen schien zu überl
egen, nachdem er mit seiner Übersetzung geendet hatte. Währenddessen waren im Hintergrund die Kaugeräusche des Chuor zu hören, der sich nicht durch ein Gespräch von seiner Mahlzeit abbringen ließ.
„Ich werde noch drei Tage brauchen, bis alles bereitet ist.”
Estron blickte Shaljel weiter an, als wartete diesmal er auf eine Erklärung, die er jedoch nicht gleich erhalten sollte. Erst als Shaljel am nächsten Morgen zu den Zurückgebliebenen aufbrach und erst am späten Abend zurückkehrte, war er bereit, Estron einzuweihen.
„Morgen wirst du mitkommen.”
„Mitkommen ... ? Wohin ... ? Zu den Aleneshi in den Höhlen ... ? Ich weiß nicht, was ich sagen soll ... Ich fühle mich geehrt.”
„Das kannst du auch, denn du wirst der erste Mensch sein, der die Höhlen betritt, zumindest der erste Mensch, der dies freiwillig tut und selbst damals ... Naja, bleiben wir einfach dabei, dass du der erste bist. Aber du wirst nicht die Zurückgebliebenen besuchen. Ich war vor dem heiligen Stein und habe für dich um eine Audienz gebeten, und sie wurde dir gewährt.”
Der Keinhäuser war sprachlos. Er war sich nicht sicher, ob er sich darüber freuen sollte, denn in all seinen Wanderschaften hatte er jeglichen Zugang zu den Göttern vermieden. Er betete nicht einmal zu ihnen, nur zur Natur, zu ihrer Macht und Gnade, aber auch zu ihrer Grausamkeit, denn er wusste, dass er das eine nicht ohne das andere haben konnte. Aber die Natur war nicht grausam, weil irgendein Gedanke dahinter stand, sondern allein, weil sie ihrem inneren Wesen folgte. Bei Göttern hingegen wusste man oft nicht, ob man nun einer Stimmung ausgeliefert war, oder einer Laune der Priester.
Dennoch stellte sich nicht die Frage, ob er vor den Gott treten sollte, oder nicht, denn seine Wissbegierde war stärker als fast jedes Bedenken und eine solche Gelegenheit würde sich kein zweites Mal bieten.
„Ich weiß nicht, wie ich euch dafür danken soll, obwohl sich dadurch viele neue Fragen auftun, und nicht alle drehen sich um den Gott.”
„Ach, ich sehe es schon kommen. Aber wir haben genügend Zeit, während wir morgen früh zu den Höhlen gehen, um darüber zu reden.”
„Eine Frage müsst ihr mir jedoch jetzt zugestehen, denn sie beschäftigt mich bereits seit gestern Mittag.”
„Na denn, was bedrückt dich denn?”
„Es war ein sehr angenehmes Mittagessen, aber ich fand den Stimmungsumschwung der Dame Ohnfeder doch sehr plötzlich und ungewöhnlich. Was habt ihr mit ihr besprochen, dass sie mir nicht mehr böse war?”
Shaljels Grinsen glich dem einer sehr zufriedenen Katze.
„Och, ich habe nicht viel sagen müssen. Die Frouwe war schlicht sehr guter Laune, zum einen wohl, weil ihre Übelkeit nachgelassen hat, zum anderen wohl auch, weil sie die Kinder zum ersten Mal gespürt hat, was wohl weniger unangenehm war, als sie erwartet hatte. Und sie ist eine zu freundliche Natur, um auf jemanden Dauerhaft wütend sein zu können. Ich denke, es war ihr ein Bedürfnis, die Dinge ins Reine zu bringen, bevor sie keine Gelegenheit mehr dazu haben würde.”
„Es ist seltsam, wie ihr das sagt.”
„Was?”
„Dass sie keine Gelegenheit mehr dazu haben würde. Denn ich habe etwas Ähnliches gespürt während des Essens. Als wenn wir sie niemals wieder sehen würden, sobald unsere Reise begonnen hat.”
„Es sind weite Wege, die wir zurücklegen müssen, dass weißt du so gut wie ich, selbst wenn dir noch nicht bewusst ist, warum du diese Wege mit mir gehen wirst. Es ist nichts ungewöhnliches, jemanden, den man auf seinem Weg getroffen hat, niemals wieder zu sehen.”
„Das weiß ich wohl. Ich bin schon durch viele Dörfer gekommen und habe nur wenige ein zweites Mal besucht. Aber das meinte ich nicht. Das Gefühl war ein anderes, so als wenn es endgültig sein würde, so als wenn wir niemals die Möglichkeit bekommen würden, ihr erneut zu begegnen.”
„Bist du oft hellsichtig?”
„Ich habe mich nie als hellsichtig betrachtet, aber meist kann ich meinen Intuitionen vertrauen.”
„Ah, das kleine Gesicht. Na, dann kann es natürlich sein, dass du wirklich niemals wieder zurückkommen wirst, was aber nichts zu bedeuten hat, denn du wirst noch viel sehen.”
„Mein Gefühl galt nicht nur meiner Zukunft, sondern aller am Tisch.”
Shaljel vermied es, noch weitere Argumente vorzubringen, denn er wusste, dass Estron nur noch deutlicher werden würde. Estron war etwas Besonderes, und wenn er eine solche Ahnung hatte, dann musste man ihr Beachtung schenken. Es wäre jedoch nur halb so schlimm gewesen, wenn er nicht die letzten Tage ein ähnliches Gefühl gehabt hätte.
Anders als Estron angenommen hatte, sahen sie Ohnfeder natürlich noch beim Abendmahl und auch beim Frühstück wieder. Und anders als Shaljel befürchtet hatte, war der Weg zu den Höhlen nahezu vollkommen still. Beiden ging wohl zu viel durch den Kopf, als dass sie das Gespräch gesucht hätten. So war es denn auch Shaljel, der schließlich das Schweigen brach, um wenigstens noch die nötigsten Lehren zu erteilen.
„Hör mir genau zu, das ist wichtig: Wenn wir der Wache begegnen, dreh dich nicht zu ihr um, schau ihr nicht in die Augen und beweg dich nicht, bis ich es dir sage. Es könnte sein, dass die Wachen nichts von deinem Besuch wissen.”
Estron blickte so aufmerksam, wie der steinige Weg es zuließ, zu dem Feen hinüber und nickte seine Bestätigung nach jeder Anweisung.
„Dann, wenn die Priester kommen, wirst du dich sehr tief vor ihnen verbeugen. Aber wirf dich nicht auf die Knie. Dass würden sie als Beleidung betrachten, denn der Kniefall ist der Begegnung mit dem Gott vorbehalten – oder schuldig befundenen Verbrechern. Sieh sie aber so wenig wie möglich an. Sie sind Menschen nicht gewöhnt. Versuch bloß nicht, auf dich aufmerksam zu machen. Wenn sie dich ignorieren, dann ist das ihre Art, mit der ungewöhnlichen Situation umzugehen. Sprich sie am besten nicht an. Wenn irgendjemand etwas sagt, warte darauf, dass ich dir Handzeichen gebe, bis du antworten kannst. Oder antworte besser gar nicht. ... Am besten sagst du insgesamt nichts. Bis wir vor dem Stein stehen. Da wirfst du dich auf den Boden und verharrst bis der Gott dich anspricht, oder ich dir ein Zeichen gebe.”
„Ich werde alles so tun, wie ihr sagt, Meister Githon.” Shaljel blieb mit einem Ruck stehen.
„Und nenn mich bloß nicht mehr Meister.”
Amüsiert lächelnd drehte sich Estron zu dem Feen in Aleneshigestalt um. Shaljel blickte ihm in die Augen und erkannte den Schalk, der in ihnen spielte. „Und bei welchem Volk hast du gelernt, Feen auf den Arm zu nehmen?”
„Das ist eine Fähigkeit, die ich mir ganz allein beigebracht habe.”
Kopfschüttelnd, aber mit einem Lächeln auf dem Gesicht schloss Shaljel zum Keinhäuser auf.
Kurz darauf gelangten sie auf die geheimen Pfade und durchschritten den Eingang zu den Heimen der Zurückgebliebenen. Estron musste sich Bücken und stellte bald fest, dass es bequemer für ihn war, entweder im Gänsemarsch zu gehen oder gleich auf allen vieren. Er entschied sich für ersteres, obwohl es anstrengender war und er sich schnell an den hochstehenden Steinen des unebenen Weges die Knie aufschlug. Aber er befürchtete sonst eher für ein Tier gehalten zu werden oder womöglich gegen Shaljels gebot zu verstoßen, dass er sich nicht auf die Erde werfen sollte.
Trotz der immer stärker werdenden Schmerzen in Knien und Oberschenkeln gab er keinen Ton von sich, während er sich durch die Dunkelheit tastete. Er war so sehr in seine Anspannung vertieft, dass er vor Schreck nach vorne kippte und sich nur noch im letzten Moment mit den Händen abfangen konnte, als die Wache plötzlich hinter ihnen erschien. Er blickte sich nach Shaljel um, der direkt hinter ihm gegangen war, konnte aber nur seine Umrisse schemenhaft erkennen. Den Wächter hörte er nur.
„Wer seid iu? Waz tuot der Biest duort? Oh, verzihet ih ham iu kenen nicht.”
Estron blieb wie erstarrt auf allen vieren. Shaljel hingegen drehte sich in aller Ruhe um und antwortete dem Wächter:
„Min Herre, ih bringe diësen Wiësen Manne hinne zuom Stin. Derre Gode habenet sagt, dass erre ihn imme angesichte sehet wilt.”
Darauf erwiderte der Wächter nichts mehr und Estron konnte nur erkennen, wie Shaljels
Umrisse, die Hände vor das Gesicht legten, wohl als eine Art Verabschiedung. Anschließend drehte er sich wieder zu Estron um, um ihm ins Ohr zu flüstern.
„Na, das ging besser als erwartet. Ich hatte schon befürchtet, er würde uns erst angreifen, wenn er dich sieht, und dann fragen stellen. Komm wir gehen weiter.” Der verspielte Ton, in dem der Feen dies sagte, konnte nicht verhindern, dass das Blut das Gesicht des Keinhäusers verließ. Er hätte ihm gerne eine vorwurfsvolle Antwort gegeben und als er seine Reise vor so vielen Jahren begonnen hatte, wären ihm vielleicht auch noch ein paar ungeeignete Worte entfahren. Aber so viel Weisheit hatte er inzwischen gesammelt, dass er wusste, wann es Zeit war, einfach still zu bleiben.
Der weitere Weg war ereignislos, auch wenn Estrons Beine und schließlich auch sein Rücken von dem langen, ungewohnten Gänsemarsch erschöpften und er am Ende zwischen tief gebücktem Gang und Krabbeln auf allen vieren abwechselte. Dabei hüpfte und lief Shaljel oft ein wenig voraus, was dem Menschen das Gefühl gab, zu langsam voran zu kommen und immer verlorener in der Dunkelheit zu sein.
Doch wie alle Wege hatte auch dieser ein Ende und sie gelangten zu dem Felsen, der eigentlich eine Tür war. In diesem Fall war es wohl gut gewesen, dass Shaljel schon so weit vorausgelaufen war, denn das Gespräch mit der Wache, die hier ihren Dienst tat, war bereits vorbei, als Estron herangekrochen kam. Die massige Tür schwang auf und öffnete den Blick auf einen spärlich erleuchteten Gang, der in Augen, die sich verzweifelt an die Dunkelheit anzupassen versucht hatten, dennoch zu grell war, so dass Estron die Aleneshi, die offensichtlich dort auf sie gewartet hatten, nicht sofort sehen konnte.
Dafür konnte er aber beobachten wie Shaljel die Hände vor sein Gesicht legte und einen schwall an Worten von sich gab, die zwar in der Melodie der Sprache der ins Licht gegangenen Aleneshi zu entstammen schienen, aber selbst für Estron, der die Sprache zu seinem Bedauern immer noch nicht richtig beherrschte, fremd und rau klangen.