Book Read Free

Faded Duet 1 - Faded - Dieser eine Moment

Page 5

by Julie Johnson


  Ehrlich gesagt habe ich keine Zeit, über Ryder nachzudenken. Nicht über seine breiten Schultern oder seine gut gepflegten kurzen Bartstoppeln, die seinen schmunzelnden Mund umgeben. Nicht über die Art, wie seine raue Stimme an diesem Abend erklungen ist, weicher als Seide auf meiner Haut. Nicht über die ablenkende Tatsache, dass er zwei unterschiedlich farbige Augen hat: ein blaues und ein braunes – und mit beiden ist er in der Lage, mich direkt zu durchschauen.

  Es gibt momentan sehr viel wichtigere Dinge, über die ich mir Gedanken machen muss.

  Erst jetzt, in der Ruhe nach dieser chaotischen ersten Schicht, kehrt die Realität an die Oberfläche zurück. Ich bin so sehr damit beschäftigt gewesen, Getränkebestellungen aufzunehmen, dass ich keine Gedanken an triviale Dinge verschwenden konnte … Wie die Tatsache, dass ich in Nashville außerhalb der vier Wände dieser Bar keine Menschenseele kenne … Und das bedeutet, dass ich nicht mal einen Ort habe, an dem ich heute übernachten kann.

  So hätte das nicht laufen sollen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass mich Isaac an diesem Nachmittag vom Fleck weg engagieren würde. Ich dachte, dass ich noch einen oder zwei Tage Zeit haben würde, um mich um eine Unterkunft zu kümmern, bevor ich anfangen würde, hier zu arbeiten. Aber ich konnte schlecht Nein sagen, als er mir die Stelle anbot. Und jetzt …

  Bin ich total aufgeschmissen.

  Vermutlich werde ich auf irgendeiner Parkbank landen, in der Dunkelheit zittern und hoffen, dass ich niemandem mit schändlichen Absichten begegne. Es wäre zwar nicht das erste Mal, dass ich draußen übernachte, aber die Vorstellung einer schwülen Nacht voller Mücken in einer mir unbekannten Stadt ist nicht gerade einladend.

  »Du hast dich heute Abend gar nicht mal so schlecht geschlagen, Kleine.«

  Ich zucke zusammen, als ich plötzlich Isaacs Stimme vernehme, und verschütte dadurch ein kleines Häufchen Salz auf der Tischplatte.

  »Oh, Zucker!«, fluche ich und fege das Salz auf meine Handfläche. »Tut mir leid, normalerweise bin ich nicht so ungeschickt …«

  Isaac hat die Augenbrauen bis zum Haaransatz hochgezogen. »Dir ist schon klar, dass das Salz ist … und kein Zucker, oder?«

  »Das ist mir klar. Ich meinte ›Oh, Zucker‹ wie in ›Oh, Schei…‹«, erwidere ich lahm und bin selbst jetzt nicht in der Lage, das Wort komplett auszusprechen. »Ich schätze, das ist eine alte Angewohnheit. Meine Großmutter ersetzt Schimpfwörter immer durch harmlose Sachen wie zum Beispiel Süßigkeiten. ›Donuts‹ statt ›verdammt‹. Oder wenn man wirklich in Rage ist, ›Bonbon‹ statt ›verfi …‹. Na ja, Sie verstehen schon, was ich meine.«

  Er starrt mich ausdruckslos an.

  »Ich bin nicht spröde oder so was«, verteidige ich mich. »Es macht mir nichts aus, wenn andere Leute in meiner Gegenwart fluchen. Aber wann immer ich es versuche, denke ich an meine Großmutter, die sagt: ›Wenn du wie ein Seemann fluchst, wirst du niemals einen abbekommen.‹ Und dann kann ich es einfach nicht über mich bringen, die Worte auszusprechen.« Ich schlucke schwer. »Ihr erster Mann war bei der Marine, verstehen Sie?«

  Isaac zieht die Augenbrauen noch weiter nach oben, sodass sie beinahe unter seinem Haaransatz verschwinden.

  »Nicht dass ich in nächster Zeit heiraten will. Oder überhaupt jemals«, sage ich hastig. Ich bin mir nicht mal sicher, wie ich auf dieses Thema gekommen bin. Ich schiebe es auf den Schlafmangel. Den Mangel an etwas zu essen. Den Mangel an allem, was einem anständigen Lebensplan ähnelt.

  Ich beiße mir auf die Lippe, damit ich aufhöre zu reden.

  »Also ist sie echt«, brummt Isaac.

  »W… Was?«

  »Diese zuckersüße Nummer, die du abziehst. Die ist gar nicht gespielt.«

  »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

  »Natürlich nicht.« Er seufzt schwer. »Ehrlich gesagt hätte ich nicht erwartet, dass du den Abend überstehen würdest. Aber ob du nun süß bist oder nicht, du bist kein Schwächling. Du kannst dich in einer dichtgedrängten Menge behaupten, du bist schnell unterwegs, du hast weniger Bestellungen durcheinandergebracht als Mädchen, die schon fünfmal so lange hier arbeiten, und der Rest des Personals mag dich.«

  Ich schaue zu der Tür, die zum Hinterzimmer führt und durch die Adam vor ein paar Minuten verschwunden ist. Als er meinen Gesichtsausdruck sieht, kichert Isaac. »Ach, mach dir keine Sorgen wegen Adam. Er behandelt jeden wie ein Stück Kaugummi, das an seinem Schuh klebt.«

  Ich lache. »Oh, gut. Dann werde ich es nicht persönlich nehmen.«

  »Fest steht, dass du mich überrascht hast. Ich glaube, dass du hier gut hinpasst.«

  »Danke für die Gelegenheit, Isaac. Ich weiß das zu schätzen.«

  »Tja, ich kann jedenfalls nicht zulassen, dass meine neueste Angestellte auf der Straße schläft.«

  Meine Wangen werden vor Verlegenheit ganz heiß. Ich hatte vergessen, dass mir die Situation mit meiner nicht vorhandenen Unterkunft rausgerutscht war, als ich vorhin wütend nach draußen stürmen wollte.

  »Ich komme schon klar.« Ich schlucke. »Ich werde das Trinkgeld, das ich heute verdient habe, benutzen, um mir ein Zimmer zu mieten. Hier in der Gegend gibt es nichts, was in mein Budget fällt, aber knapp zwei Kilometer entfernt gibt es eine Unterkunft – das Southern Comfort Inn? Ich habe nachgeschaut, bevor ich die Busfahrkarte gekauft habe.«

  »Da kannst du nicht hingehen«, brummt Isaac barsch.

  Ich balle die Hände zu Fäusten, obwohl sich das Salz noch auf meiner Handfläche befindet. »Warum nicht?«

  »Sagen wir einfach, dass die typische Kundschaft des Southern Comfort pro Stunde bezahlt.« Er wirkt fast ein wenig peinlich berührt, und die Haut an seinem Hals läuft rot an. »Ein Mädchen wie du gehört nicht an so einen Ort.«

  »Ein Bett ist ein Bett. Ich bin nicht wählerisch«, murmle ich. »Und ich habe mit Sicherheit schon an schlimmeren Orten übernachtet.«

  Er starrt mich eine Sekunde lang an, und in seinen Augen sehe ich all die Fragen, die er mir gern stellen würde. Er verkneift sie sich – zumindest für den Moment. »Ich vermute, dass du vorhast, mitten in der Nacht allein zu Fuß dorthin zu gehen, oder?«

  Ich verziehe die Lippen. »Sofern ich nicht plötzlich Teleportationsfähigkeiten entwickelt habe …«

  »Das ist ein übler Stadtteil.«

  »Ich bin kein welkes Blümchen. Ich kann auf mich aufpassen.«

  »Das mag sein. Aber ich werde heute Nacht nicht schlafen, wenn ich dich hier allein rausgehen lasse und weiß, dass du an einen Ort unterwegs bist, den man im Grunde genommen nur als Puff bezeichnen kann. Die Leute sagen, dass ich ein fieser Mistkerl bin, und sie haben größtenteils recht, aber selbst ich habe meine Grenzen.« Er hält inne und sieht mich an. Der Ausdruck auf seinem Gesicht verrät mir, dass er das, was er als Nächstes sagen wird, bereits bereut. »Im ersten Stock gibt es ein Zimmer. Als ich jünger war und diesen Laden gerade eröffnet hatte, übernachtete ich manchmal darin, wenn es spät wurde. Es ist eine staubige Rumpelkammer und wurde seit über zehn Jahren nicht mehr benutzt. Die Matratze ist klumpiger als der Kartoffelbrei meiner Exfrau. Eigentlich ist das Zimmer auch nicht viel größer als ein Schrank.« Er atmet geräuschvoll aus. »Aber du kannst dortbleiben, zumindest bis du hier Fuß gefasst hast.«

  Ich blinzle. Das Angebot verblüfft mich so sehr, dass ich kein Wort herausbekomme.

  Er reibt sich den Nacken. »Es gibt noch eine zweite Treppe, die zum Parkplatz hinter dem Gebäude hinunterführt, also kannst du tagsüber kommen und gehen, wie es dir passt. Achte nur darauf, dass du abschließt, wenn du aus dem Haus gehst. Und komm morgen Abend nicht zu spät. Es ist Freitag, also wird hier die Hölle los sein. Außerdem hat Dotty die Grippe, was bedeutet, dass ihre drei Kinder sie auch bald haben werden, wenn es nicht schon so weit ist. Du wirst ihre Schichten für eine Weile übernehmen müssen.«

  Ich nicke und fühle mich zu überwältigt, um zu sprechen.

  »Schnapp dir einen Müsliriegel aus der Personalküche, bevor du gehst«, befiehlt er mir in einem strengen Tonfall. »Wenn
du noch dünner wirst, wirst du verschwinden.«

  »Isaac …« Seine Freundlichkeit kommt so unerwartet, dass ich nicht anders kann. Meine Augen fangen an zu brennen.

  »Ach zum Teufel damit. Tu das bloß nicht.« Als er sieht, wie die Tränen in meinen Augen schimmern, errötet Isaac so richtig. Es ist beinahe komisch zu sehen, wie so ein Bär von einem Mann wegen ein paar Tränen die Fassung verliert.

  »T… Tut mir leid«, schluchze ich und schaue zur Decke hinauf, um die Tränen daran zu hindern, über mein Gesicht zu laufen. »Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

  »Sag nichts. Nimm einfach den verdammten Schlüssel. Ich gehe jetzt nach Hause.«

  Damit drückt er mir etwas in die Hand und geht davon. Ich starre auf den Messingschlüssel, der auf dem kleinen Haufen aus blassem, weißem Salz liegt, bis mir schließlich so richtig die Tränen kommen. Innerhalb eines einzigen Tages habe ich einfach so einen Job und ein Zuhause gefunden. Und zum ersten Mal seit sehr langer Zeit … habe ich Hoffnung.

  »Kann ich dich irgendwohin mitnehmen?«, fragt Carly, als wir durch den Hintereingang auf den Mitarbeiterparkplatz hinaustreten.

  »Nein.« Ich umklammere den Schlüssel ein wenig fester und versuche, ihn nicht fallen zu lassen. Ich habe bereits mit meinem Rucksack und meiner Gitarre zu kämpfen. »Aber danke.«

  Wir gehen schweigend nebeneinanderher und hören zu, wie Adam hinter uns abschließt. Mein Blick verweilt für einen Moment auf der Stelle, an der ich vor ein paar Stunden mit Ryder gestanden habe, bevor ich gezwungen war, wieder nach drinnen zu eilen, weil meine Pause zu Ende war. Er ist danach nicht wieder reingekommen. Ich frage mich, wo er abgeblieben ist … und mit wem er weggegangen ist …

  Ich verziehe das Gesicht zu einer finsteren Grimasse.

  Das geht dich nichts an. Selbst wenn er mit einhundert Frauen nach Hause gehen und die größte Orgie der Menschheitsgeschichte veranstalten würde, rufe ich mich zur Ordnung. Er gehört nicht dir. Und das wird er auch nie.

  »Warum schaust du so finster drein?«, fragt Carly.

  »Ach, nichts.« Ich zwinge mich dazu, eine ausdruckslose Miene aufzusetzen.

  »Schon klar.« Carly gibt einen zweifelnden Laut von sich, dringt aber nicht weiter in mich. »Du bist gerade erst hergezogen, oder?«

  »Heute.« Ich nicke. »Oder … gestern, schätze ich, denn jetzt ist ja schon offiziell morgen.«

  »Verdammt, Kleines. Ein Tag in Nashville, und du arbeitest bereits im Nightingale? Ich habe sechs Monate gebraucht, um ein Vorstellungsgespräch zu bekommen. Wie hast du das geschafft?«

  »Ich schätze, ich hatte einfach Glück.«

  Sie lacht. »Tja, ich bin jedenfalls beeindruckt. Kannst du heute Abend irgendwo übernachten?«

  »Tatsächlich bleibe ich hier.« Ich nicke in Richtung der klapprigen Holztreppe, die sich an der Rückseite des Gebäudes befindet. Sie sieht aus, als wäre sie seit einer ganzen Weile nicht mehr benutzt worden. Und mit »seit einer ganzen Weile« meine ich »seit den Achtzigern«.

  »Hier?«, mischt sich Adam ein und holt zu uns auf. »Was meinst du mit ›hier‹?«

  »Isaac meinte, ich könne in dem Zimmer über der Bar übernachten.« Ich halte den Schlüssel hoch, um zu beweisen, dass ich dort eine Unterkunft habe.

  Adam verzieht missmutig das Gesicht. »Warum sollte er das tun?«

  »Adam.« Carly stößt ihn mit dem Ellbogen an. »Lass es gut sein.«

  »Ich frage mich nur, warum die neue Kellnerin zusätzlich zu ihrem Trinkgeld plötzlich auch noch ein mietfreies Zimmer erhält. Mir war nicht klar, dass wir hier eine wohltätige Einrichtung betreiben.«

  »Das ist nur vorübergehend«, murmle ich. »Bis ich eine andere Unterkunft finde, in der ich bleiben kann.«

  Er starrt mich an, und seine finstere Miene verunstaltet sein ansehnliches Gesicht. Es ist seltsam, dass jemand äußerlich so attraktiv sein kann und in Bezug auf das, was wirklich zählt, das genaue Gegenteil ist.

  »Was auch immer«, murmelt er und geht auf seinen Truck zu. »Ich sehe euch beide morgen. Seid pünktlich.«

  Ich schlucke eine schnippische Erwiderung hinunter, da es mir nicht gut bekommen wird, mich mit ihm anzulegen. Aber in meinem Kopf gebe ich ihm mit auf den Weg, dass er sich zur Torte scheren kann, wie meine Großmutter sagen würde.

  »Lass dich von ihm nicht einschüchtern«, murmelt Carly, während wir zusehen, wie er vom Parkplatz fährt. »Er wird sich schon noch für dich erwärmen.«

  »Wirklich?«

  »Irgendwann. Irgendwie. Vielleicht.«

  »Wie ermutigend.« Ich schnaube. »Mach’s gut, Carly.«

  »Wir sehen uns morgen, Felicity.«

  Sie steigt in ihr Auto, ein älteres Limousinenmodell, und gähnt ausgiebig. Ich kämpfe gegen mein eigenes Gähnen an, während ich mich über die Holztreppe auf den Weg nach oben mache und den Schlüssel ins Schloss schiebe. Zuerst verhakt er sich, und ich bekomme kurz Panik, weil ich denke, dass ich nun vielleicht doch auf einer Parkbank schlafen muss … Doch nachdem ich ein bisschen herumhantiert und schließlich einmal kräftig mit der Hüfte gegen den Türrahmen gestoßen habe, gibt das Schloss endlich nach. Mit einem rostigen Quietschen schwingt die Tür nach innen auf.

  Ich taste in der Dunkelheit nach einem Lichtschalter. Eine nackte Glühbirne an der Decke erwacht flackernd zum Leben, und ich erhalte einen ersten Blick auf meine neue provisorische Unterkunft. Das Zimmer misst nur wenige Quadratmeter. Die Luft hat sich lange nicht mehr bewegt und riecht abgestanden. Auf jeder Oberfläche liegt eine dicke Staubschicht.

  Links von mir steht ein schmales Bettgestell, auf dem lediglich eine hauchdünne Matratze liegt. Ein hölzerner Schaukelstuhl steht neben dem einzigen Fenster. Die Kommode mit den drei Schubladen sieht aus, als wäre sie so alt wie ich. Der fleckige antike Spiegel, der darüberhängt, ist mindestens doppelt so alt. Es gibt keine Küche, nur eine teilweise abgetrennte Badezimmernische mit einem Waschbecken, einer Dusche und einer Toilette – alles davon ist mit Rostflecken und Schmutz überzogen.

  Trautes Heim, Glück allein.

  Ich mache einen Schritt in das Zimmer, stelle meine Gitarre neben der Kommode ab und niese, als mir eine Staubwolke ins Gesicht weht. Es ist nicht gerade das Ritz, aber ich habe keinerlei Recht, mich zu beschweren. Schnell schließe ich die Tür hinter mir ab. Die dünne Türkette bietet lediglich eine Illusion von Sicherheit. Da es hier jedoch nichts gibt, das es wert wäre, gestohlen zu werden, sollte ich einigermaßen sicher sein. Trotzdem hieve ich vorsichtshalber den schweren hölzernen Schaukelstuhl vor die Tür.

  Alte Gewohnheiten wird man nur schwer los.

  Ich ziehe den von der Sonne gebleichten Vorhang vors Fenster und entledige mich schnell meiner schwarzen Turnschuhe und meiner Arbeitskleidung. In der kleinen Tasche mit Kleidung, die ich mitnahm, als ich Hawkins verließ, befindet sich ein einzelnes Sweatshirt. Ich drücke es eine ganze Weile lang an meine Brust, bevor ich es anziehe. Es riecht nach meinem Zuhause. Für die meisten Leute wäre das sicher ein Trost. Für mich löst der Geruch eine Flut an Erinnerungen aus, die sofort vor meinen Augen aufblitzen. Ich würde fast alles tun, um sie vergessen zu können.

  Die Flamme eines Streichholzes, die in der Dunkelheit aufflackert.

  Das Zischen kochender Flüssigkeit.

  Das Knacken von Holz, das gespalten wird.

  Ein schreiender Mann.

  Eine schluchzende Frau.

  Eine Tür, die hinter meinem Rücken zugeschlagen wird.

  Ich beiße mir von innen auf die Wange, ziehe mir das Kleidungsstück hastig über den Kopf und stelle meinen Rucksack neben dem schmalen Bettgestell ab. Die Matratze riecht nach Schimmel, und die Federn quietschen protestierend, als ich mich auf die Bettkante setze. Ich hole einen Müsliriegel aus meinem Rucksack und öffne die Verpackung mit vor Hunger zittrigen Fingern. Der Müsliriegel enthält Rosinen, die ich normalerweise um jeden Preis vermeide, aber momentan bin ich zu müde, um sie herauszupicken, und zu hungrig, um mich darum zu scheren. Ich schlinge d
as komplette Ding in etwa vier Sekunden hinunter. Es hilft kaum, die Hungerkrämpfe in meinem leeren Magen zu lindern.

  Meine Muskeln schmerzen, und meine Augenlider sind bleischwer, als ich mich auf der klumpigen, stinkenden Matratze zusammenrolle, meine Knie an meine Brust ziehe und den Kopf auf meine Arme bette. Dann starre ich eine Ewigkeit lang auf die Wasserflecken an der Decke und denke darüber nach, wie sehr sich mein Leben in den vergangenen vierundzwanzig Stunden verändert hat … und wie sehr es sich nicht verändert hat.

  Eine neue Stadt. Ein neuer Job. Ein neuer Ort, an dem ich mich zur Ruhe begeben kann.

  Dieselbe Ungewissheit. Dieselben quälenden Zweifel. Und wieder klemmt in der Dunkelheit ein Stuhl unter der Türklinke, damit die Monster draußen bleiben.

  Ich schalte das Licht nicht aus, sondern liege einfach nur da und bete, dass ich schlafen kann.

  Als ich endlich einschlafe, sind meine Träume von Blut und Feuer und Tod erfüllt.

  Meine ersten paar Wochen in Nashville vergehen wie im Flug. Ich gewöhne mich so leicht an mein neues Leben als Felicity Wilkes, dass ich Felicity Wilde, das traurige Mädchen mit der tragischen Vergangenheit, manchmal vergesse. Ich weiß, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis mich meine Vergangenheit einholt, aber ich versuche, nicht daran zu denken. Stattdessen konzentriere ich mich auf die Gegenwart. Auf kleine Details meiner neuen Welt hier in Nashville. Ich unternehme morgendliche Spaziergänge vorbei an dem Freiluftcafé um die Ecke, wo die Luft nach frischem Gebäck und Maisgrütze riecht. Die Nachmittage verbringe ich im Park und sehe zu, wie Hunde Bällen hinterherjagen und Kleinkinder Seifenblasen fangen. Und dann sind da noch die Abende in der Bar, an denen ich Getränke serviere und meine musikalische Bildung erweitere.

  Es dauert eine Weile, aber irgendwann höre ich auf, jedes Mal über meine Schulter zu schauen, wenn ich mein Zimmer verlasse, oder zusammenzuzucken, wann immer das Telefon hinter der Theke klingelt. Ich höre auf, auf die nächste Hiobsbotschaft zu warten, und fange tatsächlich an zu leben. Zu atmen. Manchmal sogar zu lachen, wenn Carly einen Witz auf Adams Kosten macht, während wir nach einer weiteren Schicht voller Cocktails und Countryliedern aufräumen.

 

‹ Prev