Dies ist Ihre Einladung zu dem Festball in Glenn Landing …
Bitte begleiten Sie mich nächsten Monat zu der Gala anlässlich der Restaurierung der Nelle-River-Brücke …
Es wäre mir eine Ehre, Sie durch das Naturkundemuseum von Vasgaard führen zu dürfen, da meine Familie mehrere wertvolle Stücke der Diamantenausstellung zur Verfügung gestellt hat …
Ich verdrehe die Augen. Octavia muss eine Art Bekanntmachung herausgegeben haben: Die Jagdsaison auf die Kronprinzessin ist offiziell eröffnet, Jungs! Das ist die einzige Erklärung für diese plötzliche Flut an romantischem Interesse. Es sei denn, ich gebe unbewusst ein Pheromon ab, das ausschließlich Männer unter vierzig anzieht, die der obersten Steuerklasse unseres Landes angehören und mit der Politik verbandelt sind.
Ich zerknülle einen besonders kitschigen Brief und werfe ihn ins Feuer. Ich beobachte, wie die Flammen die Papierkugel verschlingen und sie in Windeseile in Asche verwandeln, und blicke finster drein, als ich an die ausweglose Situation mit meiner bezaubernden Stiefmutter an diesem Nachmittag denke. Ihr versnobter Tonfall hallt immer noch in meinem Kopf wider.
Du wirst dich damit einverstanden erklären, dass dir geeignete Junggesellen aus Caerleons Aristokratie den Hof machen. Die Freier werden ausdrücklich nach familiärem Hintergrund, Einfluss und Titel ausgewählt.
»Das kann sie sich aus dem Kopf schlagen!«, zische ich und stehe auf, wobei ich den Rest der Umschläge ungeöffnet zu Boden werfe. Sie landen kreuz und quer verteilt – wie Konfetti, aus hochwertigstem Briefpapier mit schönsten Handschriften gefertigt. »Sie kann mich auf gar keinen Fall dazu zwingen, mit diesen Schwachköpfen auszugehen …«
Ich murmle aufgebracht vor mich hin, tigere mehrere Minuten lang vor dem Kamin auf und ab und versuche, jegliche Gedanken an Brautwerbung aus meinem Kopf zu verbannen. Als die Uhr in der Ecke meines Zimmers schlägt, um die neue Stunde anzukündigen, halte ich in meinem Wutanfall inne, um nach der Uhrzeit zu sehen. Verblüfft stelle ich fest, dass es bereits Mitternacht ist.
Mist.
In acht Stunden muss ich wie aus dem Ei gepellt im Rahmen der Feierlichkeiten zum Volkstrauertag auf einer Bühne stehen. Lady Morrell hat mir mitgeteilt, dass sie mich um Punkt sechs Uhr wecken würde mitsamt einem Team aus Make-up-Spezialisten und Modeberatern im Schlepptau. Ich hätte schon vor Stunden schlafen gehen sollen. Nun laufe ich Gefahr, dass die dunklen Ringe unter meinen Augen der erinnerungswürdigste Teil meines ersten öffentlichen Auftritts als Kronprinzessin sein werden.
Erschöpfung überkommt mich. Ich strecke die Arme nach oben, um die Verspannungen in meinem Rücken zu lösen, und ächze, als die Knochen knacken. Mit zwanzig Jahren fühle ich mich bereits wie eine alte Frau.
Egal was alle sagen – Lesen ist ein Kontaktsport. Wenn man sich fünf Stunden am Stück über die Seiten beugt, geht das ganz schön in den Rücken.
Ich gähne ausgiebig, drehe mich zu meinem Bett und verspüre plötzlich das dringende Bedürfnis, die Augen zu schließen und diesen nicht enden wollenden Tag zu den Akten zu legen. Ich bahne mir einen Weg durch das Minenfeld aus herumliegenden Briefen überall auf dem Boden. Was mich betrifft, könnten sie ebenso gut explosiv sein.
Als mein Blick auf einen dicken, hellblauen Umschlag fällt, der ganz oben aus dem Stapel hervorlugt und in einer unübersehbar weiblichen Handschrift an mich adressiert ist, sage ich mir, dass ich einfach weitergehen und ihn ignorieren sollte, aber …
Meine Neugier gewinnt die Oberhand.
Ich beuge mich vor und hebe ihn auf, als könnte er tatsächlich eine Bombe enthalten. Dann lasse ich mit zaghaften Fingern die dicken Pergamentblätter herausgleiten. Auf einem von ihnen befinden sich das Siegel der Königin und ihre Unterschrift in auffälliger Tinte. Ich reiße die Augen auf, während ich die offizielle Begnadigung überfliege.
Mit heutigem Datum, dem einundzwanzigsten November … durch königlichen Erlass … Mr Owen Harding … hiermit von allen Anschuldigungen in Bezug auf terroristische Handlungen gegen das Königshaus freigesprochen …
Sie hat den Brief mit ihrem vollständigen Titel unterschrieben. Die Tinte ist tiefschwarz und die Schrift so verschnörkelt, dass sie die Seite wie ein Spinnennetz überzieht.
Ihre Königliche Hoheit Octavia Thorne, Königin von Caerleon.
Immer noch sprachlos, dass sie meine Forderung in Bezug auf Owen tatsächlich erfüllt hat, blättere ich weiter zur zweiten Seite. Sie ist so gut wie leer. Lediglich eine winzige Notiz verunstaltet die elfenbeinfarbene Oberfläche – allerdings braucht sie wohl nicht mehr als ein paar Worte, um mir zu drohen. Dreizehn sind ebenso wirksam wie dreizehntausend.
»Ich habe mein Versprechen gehalten. Sorg dafür, dass du deins ebenfalls hältst.«
6. KAPITEL
»Oh mein Gott! Das ist Prinzessin Emilia!«
»Prinzessin! Prinzessin! Schauen Sie hierher!«
»Wir lieben Sie, Emilia!«
Ich steige aus der eleganten Rolls-Royce-Limousine und werde von Blitzlichtgewitter und Jubelrufen der Menge empfangen. Ich bin überrascht zu sehen, dass sich so früh am Morgen so viele Menschen eingefunden haben, um an etwas so Langweiligem wie einer Einweihungsfeier für ein Krankenhaus teilzunehmen.
Haben die Leute an einem Samstagmorgen nichts Besseres zu tun, als auf einem Bürgersteig in der Kälte zu zittern?
Ihre Rufe sind ohrenbetäubend, während ich langsam die Kopfsteinpflasterstraße hinuntergehe. Als der Lärm uns umfängt, bekomme ich so langsam den Verdacht, dass sie gar nicht wegen des Krankenhauses hier sind.
»Sie ist es!«
»Das ist die Prinzessin!«
»Nicht im Ernst!«
»Oh mein Gott!«
Galizia geht ein Stück hinter mir wie ein Schatten, der einem überallhin folgt.
Simms befindet sich an meiner linken Seite. Sechs weitere Mitglieder der Königsgarde schirmen uns von allen Seiten ab. Sie tragen unauffällige marineblaue Uniformen anstelle der reich verzierten blauen Galauniformen, die sie das letzte Mal anhatten, als ich den Palast verließ – auf König Leopolds und Königin Abigails Beerdigung.
Vermutlich kommen Schwerter, Banner und voller Ornat nur bei formellen Anlässen zum Einsatz.
»Eure Königliche Hoheit!«
»Prinzessin Emilia!«
Die Menge ist unermüdlich – sowohl mit Rufen als auch mit Fotografieren. Ich widerstehe dem Drang, einen Arm zu heben, um meine Augen von dem Blitzlichtgewitter abzuschirmen. Am liebsten würde ich den Kopf einziehen und zurück zur Limousine laufen, um in Deckung zu gehen.
Nachdem ich so lange in dem leeren, hallenden Schloss eingesperrt gewesen bin, fühlt es sich ein wenig schrill an, plötzlich wieder in der echten Welt zu sein. Alles ist irgendwie zu hell und zu heftig. Ich fühle mich wie eine Ameise unter einer Lupe, die langsam durch einen gebündelten Sonnenstrahl verbrannt wird.
»Wir lieben Sie, Prinzessin!«
Als ich mich den Stufen des Krankenhauses nähere, wo das Rednerpult auf mich wartet, entdecke ich mehrere bewaffnete Sicherheitsleute, die auf den umgebenden Dächern stationiert sind und das Geschehen von oben überwachen. Die Gewehre der Scharfschützen, das übermäßige Polizeiaufgebot und die Metalldetektoren, die überall am Straßenrand aufgestellt sind und im grellen Licht der Morgensonne funkeln, sorgen dafür, dass ich mich eher wie eine im Fokus der Öffentlichkeit stehende Gefangene fühle, die vor ihrer Gerichtsverhandlung verlegt wird. Tatsächlich komme ich mir kein bisschen wie ein Mitglied der Königsfamilie vor, das ein neues städtisches Gebäude einweihen soll.
Der komplette Block vor dem Militärkrankenhaus ist für die Feierlichkeiten zum Volkstrauertag abgeriegelt worden. Die Leute säumen die Bürgersteige und drücken sich gegen die Absperrungen, um zum ersten Mal einen Blick auf ihre neue Prinzessin werfen zu können. Die Menge besteht aus Familien, ehemaligen Militärangehörigen, Paaren aller Altersstufen – Leuten, die Lady Morrell zweifellos als »das gemeine Volk« bezeichnen würde.
Sie winken und jubeln, während ich an ihnen vorbeigehe und mir dabei so steif wie ein Roboter vorkomme. Ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt, i
m Mittelpunkt von so viel Aufmerksamkeit zu stehen, und ich bin mir sicher, dass man mir das bei jedem meiner unbeholfenen Schritte anmerken kann.
»Prinzessin!«
»Prinzessin Emilia!«
»Eure Hoheit!«
Während die Leute mit ausgestreckten Händen nach mir rufen, versuche ich, mich an Simms’ Anweisungen zu halten, die er mir auf der Fahrt hierher in der Limousine erteilte.
Lächeln Sie höflich, aber bleiben Sie nicht stehen , riet er mir, während er seine Knopfaugen fest auf mich gerichtet hatte. Sie sind nur hier, damit Sie sich den Menschen zeigen – es besteht keine Veranlassung, mit ihnen zu sprechen. Wenn Sie das Rednerpult erreichen, sollten Sie lächeln und winken. Sie dürfen eine kurze Begrüßung ins Mikrofon sprechen, aber der Veteranenminister wird die eigentliche Rede übernehmen.
In der Theorie hörte sich das recht einfach an, aber er hat dabei wohl unterschätzt, wie gespannt die Menge meinen ersten öffentlichen Auftritt erwarten würde. Unter den Zuschauern herrscht eine beinahe fieberhafte Atmosphäre. Die Luft fühlt sich wie elektrisiert an. Ich komme mir vor wie eine Prominente, die bei einer Preisverleihung über den roten Teppich läuft.
Nach einer Weile wird das ständige Blitzlichtgewitter der Kameras so grell, dass es mich blendet. Ich ignoriere meine brennenden Augen, halte das Kinn hoch erhoben und gehe weiter. Irgendwie gelingt es mir, in den jadegrünen Absatzschuhen, die Lady Morrell für mich zusammen mit einem Etuikleid, schwarzen Strümpfen und einem eleganten Caban ausgewählt hat, nicht zu stolpern.
In diesem Outfit habe ich mich heute Morgen im Spiegel kaum wiedererkannt. Meine Nägel sind in einer angemessen neutralen Farbe lackiert und perfekt poliert. Mein dunkles Haar trage ich mit elegantem Schwung nach hinten gekämmt. Das kunstvoll aufgetragene Make-up betont meine Gesichtszüge und verdeckt die dunklen Ringe unter meinen Augen.
Um das Erscheinungsbild zu vervollständigen, trage ich ein silbernes Diadem aus der Schatzkammer der Lancasters, das mehr als meine Studiengebühren für ein Jahr plus Zinsen kostet. Es ist federleicht und doch … ist es so schwer, weil in ihm das ganze Gewicht meiner neuen Machtposition liegt, dass ich es kaum schaffe, das Kinn oben zu behalten. Ich glaube, dass ich nun endlich dieses oft bemühte Zitat verstehe.
Schwer ruht das Haupt, das eine Krone drückt.
Trotz meiner zahlreichen Proteste, was die protzige Zurschaustellung von Reichtum betrifft – »Alle wissen bereits, dass ich eine Prinzessin bin, warum sollten wir es ihnen noch einmal ausdrücklich unter die Nase reiben?« –, ließ mir Lady Morrell in dieser Angelegenheit keine Wahl.
Unsinn! Königin Abigail trug ebendieses Diadem vor fast fünfundzwanzig Jahren auf der Hochzeit ihrer Schwester in Schweden. Es steht Ihnen ganz wunderbar. Wenn Sie sich doch nur jeden Tag so kleiden würden, Eure Hoheit … Ich werde niemals verstehen, was Sie an diesen scheußlichen Freizeithosen finden, die Sie unbedingt hier im Palast tragen wollen …
Ich habe den Mund zu einem gewinnenden Lächeln verzogen, winke und gehe weiter. Bis zum Rednerpult sind es nur fünfzig Meter, aber es fühlt sich eher wie fünfzig Kilometer an. Als ich endlich das Ende dieses Spießrutenlaufs erreiche, bin ich mir nicht sicher, was mehr wehtut – meine Wangen oder meine Füße.
»Die Prinzessin!«
»Seht nur! Prinzessin Emilia!«
Die Rufe der Menge sind größtenteils nicht auseinanderzuhalten – sie sind wie eine Melodie aus Begrüßungen und guten Wünschen, die zu einer Kakofonie aus Lauten verschmelzen. Einer Stimme gelingt es jedoch hervorzustechen: Es ist das schrille Quietschen eines Kindes, rein und süß und erfüllt vom Staunen eines kleines Mädchens.
»Mama! Mama! Sie ist eine echte Prinzessin!«
Ich schaue nach rechts und suche das Meer aus Gesichtern ab, bis ich sie entdecke. Dort, ganz vorne, steht ein kleines Mädchen in einem schäbigen Kleid mit seiner Mutter. Die Frau kann nicht viel älter sein als ich, aber ihr Gesicht ist voller Falten – Spuren der Armut und des Schmerzes. Ihr Mantel wirkt abgewetzt und viel zu dünn für diese winterlichen Temperaturen. Ihre kleine Tochter trägt nicht mal eine Mütze. Ich kann die rosafarbenen Spitzen ihrer Ohren sehen, die unter zwei geflochtenen Zöpfen hervorlugen.
Ein Blick genügt, um zu erkennen, dass sie kein leichtes Leben haben. Und doch liegt in den Augen der Mutter nichts als Liebe, als sie auf ihre kleine Tochter hinunterschaut.
Etwas an ihnen lässt mich abrupt innehalten und sorgt dafür, dass meine Augen in der kalten Morgenluft brennen. Ungebeten stürmen Bilder meiner eigenen Mutter auf mich ein – wie sie lachte und ein Spiel daraus machte, wenn man uns den Strom abstellte, weil wir die Rechnung nicht bezahlen konnten.
Wir kampieren heute Abend im Wohnzimmer, Emmy! Schnapp dir deine Taschenlampe. Komm, lass uns eine Kissenburg bauen …
Ich habe tausend Erinnerungen wie diese. Wie sie scherzhaft gegen mein Kinn stupste, als ich traurig war, weil ich keine Ballettstunden nehmen konnte wie die anderen Mädchen in meiner Vorschulklasse. Wie sie meine Bedenken zerstreute, wenn sie ihr Asthmaspray nicht nehmen konnte, weil die Nachfüllampullen zu teuer waren. Ihr Lächeln, mit dem sie den Stress überspielte, wenn ein weiterer Schuldeneintreiber an unsere Tür klopfte. Ihr leerer Teller, wenn sie mir ein komplettes Abendessen vorsetzte.
Mein Herz schmerzt ganz furchtbar.
Mom.
Wir hatten nie viel … aber wir hatten einander. Und irgendwie war das immer genug. Irgendwie war das alles.
Bleib tapfer, reines Herz.
»Eure Hoheit?«, fragt Simms, den mein plötzliches Innehalten mitten auf der Straße verwirrt hat. »Geht es Ihnen gut?«
Ich schaue ihn nicht einmal an. Ich bin damit beschäftigt, die Worte des kleinen Mädchens zu verstehen, während es sich auf seinen abgewetzten Schuhen vor und zurück wiegt.
»Mama, kann ich auch Prinzessin werden, wenn ich groß bin?«
Die Miene der Mutter trübt sich ein. Sie öffnet den Mund, vermutlich um ihr die schlechte Nachricht mitzuteilen.
Nein, das kannst du nicht, Liebling.
Bevor ich mich davon abhalten kann, habe ich mich bereits in Bewegung gesetzt – ich weiche von meinem Weg zum Rednerpult ab und steuere stattdessen auf die Mutter und das Kind auf dem Bürgersteig zu. Hinter mir gibt Simms einen gequälten Laut von sich, und Galizia zischt etwas Unverständliches. Doch ich ignoriere sie beide, während ich mich der Absperrung nähere.
Die Schreie der Menge werden ohrenbetäubend, als ich nur ein paar Schritte von ihr entfernt stehen bleibe. Alle rufen meinen Namen und versuchen, meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie machen unablässig Fotos mit ihren Handys und halten Selfiesticks hoch. Ich behalte die ganze Zeit über die Mutter mit ihrer Tochter im Blick.
»Hi.«
Die Augen der Frau sind so groß wie Untertassen geworden. Das kleine Mädchen starrt ehrfürchtig zu mir herauf. Ich gehe in die Hocke, damit ich mit ihr auf Augenhöhe bin und ihr durch die Metallstangen der Absperrung ins Gesicht schauen kann. Sie ist nicht älter als vier oder fünf. Neben ihrer Nase befindet sich ein wenig Schmutz.
»Wie heißt du?«
Die Kleine schaut zu ihrer Mutter hoch, um sich ihre Zustimmung einzuholen, bevor sie flüstert: »Annie.«
»Hi, Annie. Ich bin Emilia. Es freut mich, dich kennenzulernen. Woher kommst du?«
»Aus Hawthorne.«
Mein Herz verkrampft sich, als sie die Gegend in Vasgaard erwähnt, in der ich aufgewachsen bin. Vor ein paar Monaten hätte sie meine Nachbarin sein können. Vor ein paar Jahren hätte sie ich sein können.
»Sind Sie wirklich eine Prinzessin?« Eine leichte Sprachstörung sorgt dafür, dass ihre Konsonanten weicher klingen, wodurch sich ihre Rs in Ws verwandeln. Pw inzessin.
Ich nicke. »Das bin ich.«
»Wohnen Sie in einem Schloss?«
»Ja, das tu ich.«
»Wie in einem Mäwchen!«
»Oh ja. Es ist genau wie in einem Märchen«, lüge ich.
»Wenn ich gwoß bin, will ich auch eine Pwinzessin werden, genau wie Sie!«, verkündet Annie stolz. »Stimmt’s, Mama?«
Ihre Mutter läuft
tiefrot an. »Es tut mir leid, sie versteht nicht …«
Ich schüttle den Kopf und lächle zum ersten Mal aufrichtig, seit ich heute die Augen geöffnet habe. »Weißt du was, Annie? Ich bin ebenfalls in Hawthorne aufgewachsen.«
Sie zieht die Augenbrauen hoch. »Wiwklich?«
»Wirklich. Und wenn ich eine Prinzessin sein kann, dann kannst du das auch.« Ich greife nach oben und nehme das kleine Diadem von meinem Kopf. Es funkelt strahlend im Tageslicht. Ohne weiter darüber nachzudenken, strecke ich die Hand durch die Gitterstäbe aus und setze es auf Annies blondes Haar.
Ich höre, wie die Zuschauer um uns herum nach Luft schnappen – eine Schockwelle geht durch die Menge. Das kleine Mädchen starrt mich mit grenzenloser Verehrung im Blick an.
»So, das hätten wir«, murmle ich und rücke den filigranen Kopfschmuck mit einem Augenzwinkern gerade. »Wunderschön.«
Annie greift nach oben, um das Diadem zu berühren, und lächelt breit. Ihr fehlt ein Vorderzahn. »Sehe ich jetzt wie eine Pwinzessin aus?«
»Absolut.«
Sie strahlt noch heftiger.
»Kann ich dir ein Geheimnis verraten, Annie?«
»Mm-hm!«
Ich beuge mich vor, damit nur sie meine Worte hören kann. »Dieses Diadem hat Zauberkräfte. Es macht jeden, der es trägt, so tapfer, dass er seine Träume verwirklichen kann. Also will ich, dass du es aufsetzt, wann immer du Angst hast oder unsicher bist. Und ich will, dass du nie vergisst, dass du ein tapferes Mädchen bist und werden kannst, was immer du willst, wenn du groß bist. Okay?« Ich lehne mich ein wenig zurück, um in ihre hellbraunen Augen zu blicken. »Du kannst alles tun, was du willst, Annie. Du musst nur tapfer sein. Verstehst du?«
Sie hat die Augen vor lauter Staunen weit aufgerissen. »Ja, Pwinzessin Emilia.«
Als ich mich aufrichte und die Mutter anschaue, wirkt sie beinahe verängstigt. »Eure Hoheit … das können wir unmöglich annehmen …«
Forbidden Royals 02 - Golden Throne Page 7