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Midnight Chronicles 02 - Blutmagie

Page 10

by Bianca Iosivoni u . Laura Kneidl


  Ella sah von Jules zu ihrem Kampfpartner. »Dann ändere etwas daran. Geh ihr aus dem Weg.«

  »Und wenn das nicht geht?«, fragte Owen.

  »Es gibt immer einen Weg.«

  »Nicht für mich«, warf Jules ein und lenkte damit den Fokus wieder auf sich. »Die einzige Möglichkeit, Harper dauerhaft aus dem Weg zu gehen, wäre, dass Quartier zu wechseln, und das kommt nicht infrage. Mein ganzes Leben spielt sich in Edinburgh ab.«

  »Dann musst du Harper wohl vergessen«, stellte Ella fest.

  »Oder für immer leiden«, ergänzte ich.

  Jules warf mir einen finsteren Blick zu. »Danke, Cain. Sehr hilfreich.«

  Ich grinste ihn verschmitzt an. Jules wusste, dass ich es nicht so meinte. Auch wenn ich kein Fan von Harper war und ihn gern damit aufzog, würde ich alles tun, um ihm zu helfen. Entweder um über sie hinwegzukommen oder um sie für sich zu gewinnen. Er musste mir nur sagen, was ich tun sollte, und ich würde es tun.

  Wir quatschten noch eine Weile. Owen erzählte uns von einer Geisteraustreibung, die er vor einer knappen Woche mit Ella in der Nähe von Loch Lomond vorgenommen hatte. Eigentlich gehörte das Loch in der Nähe von Glasgow nicht mehr zu unserem Gebiet, aber da Soul Hunter so eine Rarität waren, mussten Owen und Ella nicht selten durch halb Europa reisen, um Geister einzufangen, weil sich gerade niemand sonst darum kümmern konnte. Nur Soul Hunter verfügten über den Seelenblick, der es ihnen ermöglichte, Geister der Phase 1 und 2 zu sehen. Geister der Phase 3 und 4 konnten zwar auch von Jägern vernichtet werden, die im Besitz eines Amuletts waren, das mindestens der Stufe 3 angehörte, aber Soul Hunter hatten einfach eine ganz besondere Verbindung zu den verstorbenen Seelen.

  Schließlich brachen Owen und Ella auf, um sich für ihre Patrouille fertig zu machen, während Jules und ich unser Training starteten. Mit meiner Lieblingsplaylist auf den Ohren ging es zuerst auf ein Laufband. Ich begann langsam und steigerte mich, bis ich praktisch rannte. Mein Atem beschleunigte sich, mein Herz pochte kräftiger, und in meiner Kehle breitete sich ein Kratzen aus, das ich ignorierte. Ein Vampir würde darauf auch keine Rücksicht nehmen, wenn ich ihn verfolgte. Auf diese Weise lieferten Jules und ich uns ein kleines Wettrennen – wer schaffte mehr Kilometer in einer Stunde –, wobei Jules mit seinen langen Beinen wie üblich gewann. Im Anschluss trainierten wir One-on-One im Nahkampf, auch wenn Jules, der Spielverderber, wie immer darauf bestand, mit Holzwaffen statt mit echten Dolchen zu kämpfen. Und zuletzt machten wir einen Abstecher zum Pool in der untersten Etage des Quartiers, um dort noch ein paar Runden zu schwimmen.

  »Ich muss jetzt leider los«, sagte Jules und stemmte sich aus dem Becken. Wasser rann aus seinen Haaren und ließ die roten Strähnen beinahe braun wirken. »Floyd und ich haben gleich Dienst.«

  Ich blieb im Wasser und sah missmutig zu ihm auf. »Ich beneide dich.«

  »Bald sind wir beide wieder gemeinsam unterwegs.« Er schnappte sich sein Handtuch und begann, sich trocken zu rubbeln. »Wann musst du heute in die Waffenkammer?«

  »Um fünf, aber vorher muss ich noch zu einem Kindergeburtstag. Kommst du nach deiner Schicht vorbei?«, fragte ich möglichst neutral, aber vermutlich ahnte Jules, dass ich nicht mit Warden allein sein wollte. Zeit mit ihm allein zu verbringen fühlte sich an, als würde man stundenlang in Schuhen rumlaufen, die einem drei Nummern zu klein waren. Sie drückten, scheuerten und ließen schmerzhafte Blasen zurück, die einen noch tagelang begleiteten. Vermutlich würde es mich Monate kosten, diese Woche mit Warden wieder zu vergessen und mental und emotional wieder das Stadium zu erreichen, in dem ich mich zuvor befunden hatte.

  »Klar«, antwortete Jules. »Vielleicht kannst du mir ein paar coole, neue Waffen zeigen, die ich dann gleich an Warden ausprobieren kann.«

  Ich lächelte dankbar. »Alles, was du willst.«

  Warden

  »Was machst du hier?«

  Das waren die Worte, mit denen mich Becky begrüßte, als sie mir die Tür zu ihrem Laden öffnete, ein kleiner Shop mit Andenken für Touristen in der Nähe der High Street. Es war noch früh am Morgen, und der Shop würde erst in knapp einer Stunde öffnen, aber bis dahin mussten die Regale neu bestückt und sortiert werden.

  »Ich arbeite hier.«

  Becky stemmte einen Arm gegen den Türrahmen, um mir den Zugang zum Laden zu versperren. »Nein, tust du nicht. Nicht mehr.«

  Ich runzelte die Stirn. »Warum?«

  »Ist das dein Ernst?« Sie lachte auf. »Du warst fünf Wochen nicht da.«

  »Ich habe doch geschrieben, dass ich weg bin.«

  Becky zog ihr Handy aus der Hosentasche, tippte ein paarmal darauf herum und räusperte sich: »Ich bin in London und kann die nächsten Tage nicht kommen. Bin bald zurück, Warden«, las sie die Nachricht vor, die ich an sie geschickt hatte. Dann sah sie erneut zu mir auf. »Das war alles. Mehr hast du nicht geschrieben. Und nur um das festzuhalten, diese Nachricht habe ich zwanzig Minuten nachdem deine Schicht angefangen hatte von dir bekommen.«

  »Heißt das, ich bin gefeuert?«, fragte ich, nur um sicherzugehen.

  »Ja, das heißt es. Und jetzt verschwinde, ich hab zu tun.« Bevor ich noch etwas erwidern konnte, knallte Becky mir die Tür vor der Nase zu.

  Ich stieß ein Seufzen aus und wandte dem Laden den Rücken zu, unentschlossen, was ich jetzt tun sollte. Der wievielte Job dieses Jahr war das, der mir flöten ging? Der neunte? Der zehnte? Ich hatte den Überblick verloren. Nicht dass es eine Rolle spielte. Die Jobs an sich waren mir egal, aber ich brauchte sie, um meine Suche nach Isaac zu finanzieren. Für Zugtickets nach London für persönliche Rachefeldzüge kam das Quartier genauso wenig auf wie für die Miete der Werkstatt.

  Genervt setzte ich mich in Bewegung und spazierte hinauf zur High Street. Dabei genoss ich es, dass man um diese Uhrzeit nicht über die Füße von Hunderten Touristen stolperte. Ich legte einen kurzen Stopp ein, um mir einen Kaffee zu holen, und machte mich dann auf den Weg ins Fitnessstudio, in dem Wayne arbeitete. Vielleicht konnte er mir einen Job dort besorgen.

  »Was willst du?«, fragte ich, als ein Typ in dunkelgrauem Anzug plötzlich neben mir in Gleichschritt verfiel. An seinem Handgelenk baumelte ein pastellfarbenes Armband.

  Er lächelte mich an. »Nur ein bisschen Quatschen. Wie geht es dir?«

  »Ich wurde gerade gefeuert, aber das weißt du sicherlich schon«, antwortete ich und nippte an meinem Kaffee.

  Kevin verzog die Lippen. »Ja, das konnte ich beobachten.«

  »Du brauchst dringend ein eigenes Leben, Kev.«

  »Ich finde mein Leben gut, so wie es ist«, sagte er und begann, die Aktentasche zu durchsuchen. Er fand einen Schokoriegel, wickelte ihn aus und biss mit einem genüsslichen Seufzen hinein. Manchmal verhielt er sich wirklich merkwürdig menschlich. »Was macht der Apparat, den du Roxy versprochen hast?«

  »Ich arbeite dran.« Noch war mir kein großer Durchbruch gelungen, aber nachdem ich Roxy Blut abgenommen hatte, hatte ich mich die halbe Nacht in der Werkstatt verschanzt und war ein gutes Stück weitergekommen.

  »Ich versteh nicht, wieso du ihr hilfst. Sie hat sich das selbst eingebrockt.«

  »Sie wusste nicht, was sie tut, als sie Amelias Amulett zerstört hat«, verteidigte ich Roxy. Ich kannte sie nicht besonders gut, aber es war offensichtlich, dass ihr leidtat, was damals geschehen war, und dass sie Ulysses, den König der Unterwelt, nicht absichtlich um diese Geister bestohlen hatte.

  »Unwissenheit schützt nicht vor Strafe.«

  »Mag sein, aber sie hat es nicht verdient, in der Unterwelt zu landen. Sie ist ein guter Mensch.«

  »Du warst noch nie dort. Vielleicht ist es da gar nicht so übel, wie alle sagen.«

  Ausdruckslos starrte ich Kevin an. »Und weil es gar nicht so übel ist, hängst du ständig hier ab?«

  Kevin verzog den Mund. »Langsam bekomme ich das Gefühl, du genießt meine Gesellschaft nicht.«

  Ich bemühte mich, nicht die Augen zu verdrehen. Auf merkwürdige Weise mochte ich Kevin tatsächlich. Uns
verband eine verquere Freundschaft, seit ich vor knapp drei Jahren das erste Mal um ein Haar gestorben wäre bei dem Versuch, allein ein Lamien-Nest auszuheben. Dennoch wäre es mir lieber, wenn er nicht ständig überall auftauchen würde. Zumal seine Gegenwart auch immer ein Zeichen für meinen baldigen Tod sein konnte. Wenn es irgendwann wirklich so weit war, würde ich Kevin nicht einmal mehr als Warnzeichen erkennen.

  Wir erreichten das Fitnessstudio.

  Ich zog die Eingangstür auf und warf meinem Begleiter noch einen letzten Blick zu. »Willst du mit reinkommen?«

  »Nein, danke. Sport ist nicht so mein Ding.« Er grinste mich an, und in der nächsten Sekunde war er verschwunden.

  Ich stieß ein Seufzen aus und betrat das Fitnessstudio. Im Inneren roch es nach Gummimatten; das Klirren von Metall war zu hören. Zielstrebig steuerte ich den Empfangstresen an, hinter dem eine der Trainerinnen saß. Ihren Namen hatte ich vergessen. »Ist Wayne da?«

  »Ja. Er ist bei den Gewichten«, antwortete die Frau – Charlie? Charlotte? Chelsea? – mit einem Lächeln und ließ ihren Blick langsam und ziemlich eindeutig über mein Gesicht und meinen Oberkörper wandern.

  Ich ignorierte ihre anzüglichen Blicke und bedankte mich knapp für die Auskunft, bevor ich mich auf die Suche nach Wayne begab. Lange musste ich mich nicht umschauen. Er trainierte gerade an einer der Rudermaschinen.

  Als er mich kommen sah, wurden seine Bewegungen langsamer, bis er schließlich ganz stoppte. »Hat Becky dich gefeuert?«, fragte er ohne jede Begrüßung. Offenbar trainierte er schon eine Weile, sein Gesicht war gerötet und sein Haar verschwitzt.

  Ich setzte mich auf eine Pressbank. »Jup.«

  »Und jetzt bist du hier, weil du einen Job brauchst.«

  »Du kennst mich einfach zu gut.« Ich kannte Wayne wirklich schon mein ganzes Leben. Genau wie Cain hatte ich ihn im Quartier getroffen, als ich fünf Jahre alt gewesen war. Er war ein paar Jahre älter, weshalb wir als Kinder nur wenig Zeit miteinander verbracht hatten, aber später hatte er Cains und meine Ausbildung begleitet. Und er war es gewesen, der damals mit seiner Kampfpartnerin Eva zusammen meine Mum gefunden und ihr vermutlich das Leben gerettet hatte. Spätestens seitdem war er für mich das, was einem besten Freund wohl am nächsten kam. »Also, hilfst du mir?«

  Wayne wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah mich durchdringend aus seinen hellgrauen Augen an. »Nein, das kannst du vergessen.«

  »Wieso?«

  »Weil Rolf dich nicht einstellen wird. Nicht nach dem, was letztes Mal passiert ist.«

  »Das ist schon über ein Jahr her«, protestierte ich.

  Außerdem war es nicht meine Schuld gewesen, dass mir ein Vampir ins Studio gefolgt war. Er hatte seinen Tod praktisch selbst gewählt, und was hätte ich tun sollen? Ihn einfach gehen lassen? Natürlich hatte ich ihn in einer der Umkleiden erledigen müssen.

  »Sorry, das wird nichts. Es war damals schwer genug, Rolf davon zu überzeugen, nicht die Polizei zu verständigen. Probier es doch mal in einem Café, die suchen immer irgendwelche Aushilfen.«

  Ich schnaubte. »Genau, weil ich so ein unglaublich talentierter Kellner bin.«

  »Du findest schon was«, versuchte Wayne, mich aufzumuntern, und bedeutete mir aufzustehen und die Pressbank für ihn freizumachen. Er legte sich hin, und ich stellte mich hinter ihn, um ihm die Gewichte im Notfall abzunehmen. Schweigend drückte er die Hantel mehrfach langsam in die Höhe und ließ sie ebenso langsam wieder sinken, bevor er etwas atemlos sagte: »Ich habe gesehen, dass du Anhang aus London mitgebracht hast.«

  »Ja, Roxy und Shaw wollten sich mal unser Quartier anschauen.«

  »Eine kleine Auszeit tut den beiden sicherlich gut, nach allem, was mit Maxwell Cavendish passiert ist. Sein Tod muss im Londoner Quartier einiges in Bewegung gesetzt haben. Hast du Maxwell noch getroffen?«

  »Ja. Ich war dabei, als er gestorben ist.«

  Wayne runzelte die Stirn. »Ist Cavendish nicht in Frankreich gestorben?«

  Ich nickte, sagte aber nichts weiter, da ich nicht über die Geschehnisse in Paris reden wollte. Gott, ich wollte noch nicht einmal daran denken, dennoch kamen die Erinnerungen immer wieder hoch. Alle redeten von Maxwell, aber er war nicht der einzige Jäger, der an diesem Tag ums Leben gekommen war. Dominique war mit ihm gegangen. Und immer und immer wieder fragte ich mich, was ich anders, besser hätte machen können, um sie zu retten.

  Es schien ein sich wiederholendes Muster in meinem Leben zu sein. Menschen, die mir am Herzen lagen, starben durch die Hände irgendwelcher Kreaturen, weil ich nicht in der Lage war, sie zu beschützen. Bei meinen Eltern war ich nicht vor Ort gewesen, aber mit Dominique war es etwas anderes. Sie hatte direkt neben mir gestanden. Und ich war nicht stark, nicht schnell, nicht fähig genug gewesen, um sie vor Amelia und dem Dolch zu beschützen. Dominiques Tod war meine Schuld.

  »Ich mach mich besser wieder auf den Weg«, sagte ich, bevor Wayne weitere Fragen stellen konnte. »So ein Job findet sich nicht von selbst.«

  Auf den Treppenstufen vor dem Fitnessstudio holte ich mein Handy hervor, und nach einer kurzen Recherche zu Stellenausschreibungen in der Umgebung machte ich mich wieder auf den Weg in die Innenstadt, um die Cafés dort abzuklappern. Ich war tatsächlich ein grauenhafter Kellner, aber Job war Job und Geld war Geld, und eigentlich würde ich alles tun, wofür man mich bezahlte. Okay, fast alles. Und wer mich als Kellner einstellte, war irgendwie auch selbst schuld.

  Inzwischen hatte sich die Royal Mile mit Touristen gefüllt, die offenkundig nur existierten, um mir das Leben schwer zu machen und ohne jede Vorwarnung mitten auf der Straße stehen zu bleiben oder abrupt die Richtung zu wechseln und mir vor die Füße zu stolpern. In suboptimaler Stimmung lief ich von Café zu Café, um nachzusehen, ob eine Stellenausschreibung in den Schaufenstern hing. Wurde jemand gesucht, ging ich hinein, um ein Bewerbungsformular auszufüllen.

  Eine Glocke an der Tür kündigte mich an, als ich das nächste Café betrat, das gerade nach einem Teilzeitkellner suchte. Im Inneren herrschte reges Treiben. Sämtliche Tische waren besetzt, vor der Kuchenvitrine hatte sich eine Menschentraube gebildet, und auch an der Theke warteten einige Leute darauf, bedient zu werden. Es duftete nach süßem Gebäck und herbem Kaffee. Der Raum war erfüllt von einem Meer aus Stimmen, und aus dem hinteren Teil des Ladens erklang lautes Kindergelächter. Kurz überlegte ich, einfach auf dem Absatz kehrtzumachen, aber ich war auf einen neuen Job angewiesen, also ignorierte ich das nervige Plärren.

  »Hey«, fing ich einen Kellner ab, der gerade mit einem Tablett voll leerer Kaffeetassen an mir vorbeilief. »Ich hab gesehen, ihr sucht noch Leute. An wen muss ich mich wegen einer Bewerbung wenden?«

  »Darum kümmert sich Jillian«, antwortete der Kerl.

  »Und wo finde ich Jillian?«

  »Sie ist gerade hinten. Einfach den Gang entlang.« Der Typ deutete in die Richtung, aus der das Kindergeschrei kam.

  Großartig.

  Ich bedankte mich und begab mich auf die Suche nach Jillian. Doch was ich fand, war der Ursprung des Lärms. Im hinteren Teil des Cafés war ein Kindergeburtstag in vollem Gange. Überall waren Luftballons. Es gab einen Tisch voller Geschenke und eine Frau, vermutlich Jillian, brachte gerade eine Torte. Die Kinder schenkten dem Kuchen allerdings keine Beachtung. Noch nicht. Ihre ganze Aufmerksamkeit ruhte auf einer Frau, die als Cinderella verkleidet war und mit ihrem blauen Rüschenkleid aufpassen musste, nicht alles in ihrer Nähe umzustoßen.

  »Wer von euch hat Lust, ein Lied mit mir zu singen?«, fragte Cinderella in diesem Moment, und die Kinder reagierten mit enthusiastischer Zustimmung. Begeistert klatschte die verkleidete Prinzessin in die Hände.

  Ich wusste nicht, was es an dieser Geste war, aber sie fesselte meinen Blick und sorgte dafür, dass ich mir Cinderella noch einmal genauer ansah. Sie kam mir auf einmal merkwürdig vertraut vor. Die Art, wie sie sprach und sich bewegte und …

  »Heilige Scheiße!«, entfuhr es mir laut.

  Dutzende Köpfe drehten sich in meine Richtung, und all
e anwesenden Eltern sahen mich mit empörtem Blick an. Doch ich hatte nur Augen für eine Person. Cinderella.

  Falsch, Cain.

  Sie hatte ebenfalls den Kopf gehoben und starrte mich an. Blanke Panik stand ihr ins Gesicht geschrieben. Selbst durch die dicke Schicht Make-up, die ihre Sommersprossen verdeckte, konnte ich erkennen, dass mein Anblick sie blass werden ließ. Und das war alles, was ich wissen musste. Cain war in diesem Moment das Kind und ich das Monster in ihrem Schrank. Ich war ihr schlimmster Albtraum, indem ich ihr Geheimnis gelüftet hatte. Ein Geheimnis, von dem ich nicht einmal gewusst hatte, dass es existierte. Aber das machte das Wissen darum nur umso süßer.

  11. KAPITEL

  Cain

  3 Jahre zuvor

  3 Monate nach der Hunterprüfung

  Fahrig lief ich im Vorraum vor Grants Büro auf und ab und wartete darauf, dass er und Warden wieder herauskamen. Sie waren mittlerweile seit über einer halben Stunde dort drin.

  Der Pullover, den ich mir übergestreift hatte, war verschwitzt, und meine Kopfhaut prickelte vor Nervosität, während ich mich davon zu überzeugen versuchte, dass ich das Richtige getan hatte.

  Grant zu alarmieren und ihn wissen zu lassen, das Warden losgezogen war, um Isaac im Alleingang zu fassen, war das Klügste gewesen. Und diente nur seiner eigenen Sicherheit. Ich verstand, weshalb er sich nach Rache sehnte; was seinen Eltern widerfahren war, war grausam. Doch weder Emma noch James hätten gewollt, dass sich ihr einziger Sohn auf diese Art und Weise in Gefahr brachte. Genauso wenig wie ich. Und ich war mir sicher, dass auch Warden mich verstehen würde, wenn er die erste heftigste Trauer und die Wut über den Verlust überwunden hatte.

  Abrupt blieb ich stehen und hielt zum gefühlt hundertsten Mal in den letzten dreißig Minuten den Atem an in der Hoffnung, etwas von dem zu hören, was hinter verschlossener Tür gesagt wurde. Doch alles, was ich wahrnahm, war gedämpftes Gemurmel. Ich war so vertieft, dass ich erschrocken zusammenzuckte, als plötzlich jemand die gläserne Tür zum Vorraum aufdrückte.

 

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