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Death Cloud ysh-1

Page 22

by Andrew Lane


  »Willste ’ne Uhr?«, fragte er hoffnungsvoll. »Erstklassige Chronometer. Gehen immer richtig. Immer genau. Tischuhren, Standuhren … Hab alles da. Was immer du willst.«

  »Nein danke«, sagte Sherlock und drückte sich am Stand vorbei. Ihm kam der Gedanke in den Sinn, wie bedeutungslos doch so etwas wie Zeit hier tief unter der Themse war. Es gab weder Sonne noch Mond, weder Tag noch Nacht. Die Zeit ging einfach so dahin. Wozu brauchte man da eine Uhr?

  »Wie wär’s mit ’ner schönen Taschenuhr? Wenn de ’ne Uhr hast, brauchste nie mehr nach der Zeit fragen. Mit ’ner Savonette machen junge Burschen wie du schweren Eindruck auf die Ladys. Echtes Silber. Auch mit Schmuckgravur. Und drinnen im Deckel könntest de ’n Bild von deinem Schatz aufbewahren.«

  Na klar! Echtes Silber, mit Gravur. Und vermutlich Diebesgut. »Nein, danke«, erwiderte Sherlock außer Atem. »Aber mein Vater hat Geld. Der kommt in einer Minute hier vorbei. Sagen Sie ihm, dass ich eine Uhr will. Und lassen Sie ihn nicht weg, ohne dass er eine kauft.«

  Das Lächeln des Standbesitzers ließ Sherlock an einen räuberischen Riesenkrebs denken, der, unter einem Stein lauernd, darauf wartete, dass ein ahnungsloses Opfer in seine Nähe kam.

  Sherlock ging weiter zum anderen Ende des Seitentunnels und lugte um die Ecke. Er blickte zum Eingangsschacht zurück, durch den er gekommen war, und stieß einen Fluch aus. Seine Verfolger mussten sich getrennt haben. Einer war ihm in den linken Tunnel gefolgt, doch der andere hatte den rechten genommen und kam jetzt auf ihn zu. Der Mann schob sich durch die Menge und musterte argwöhnisch jeden Mann, der jünger als zwanzig zu sein schien, um ganz sicherzugehen. Offensichtlich kannten sich seine Verfolger besser in der Gegend aus als er.

  Sherlock entschloss sich abzuwarten, bis der Mann am Tunneleingang vorbeigegangen wäre. Dann würde er einfach wieder zurückgehen. Aber sein Plan wurde durch einen Tumult zunichte gemacht, der sich plötzlich hinter ihm erhob. Er drehte sich um und sah, wie der Standbesitzer dem Schurksen, der Sherlock durch den linken Tunnel gefolgt war, eine kleine Reiseuhr in die Hand zu drücken versuchte. Es war der glatzköpfige Mann mit den Blumenkohlohren und der zerquetschten Nase. Laut fluchend stieß der Schlägertyp ihn weg. Aber der Standbesitzer kam zurückgetippelt und sah unter seinem harten Deckenpanzer nun mehr und mehr aus wie irgendein Krustentier, das am Grunde des Meeres lebte.

  Wieder versuchte er, dem Glatzkopf die Uhr in die Hand zu drücken. »Für Ihren Sohn! Für Ihren Sohn!«, kreischte er dabei aus vollem Hals. Der Ex-Boxer versetzte ihm wieder einen Stoß. Diesmal einen härteren. Der Standbesitzer strauchelte, kam gegen die Öllampe und schmetterte sie dabei gegen die Wand. Das Glas zersplitterte, und das Öl ergoss sich über die schmutzverkrustete Decke des Standbesitzers. Der noch brennende Docht fiel ebenfalls auf die Decke und setzte sie in Brand.

  Rasch breiteten sich die Flammen aus, während der Standbesitzer eine Schrecksekunde lang einfach nur wie gelähmt auf der Stelle stand. Doch gleich darauf flitzte er, wild mit den Armen um sich schlagend, in den linken Haupttunnel hinaus. Panisch wichen die Leute vor ihm zurück. Dennoch stieß er mit einem Passanten zusammen, und augenblicklich sprang das Feuer auf dessen Gehrock über. Der Mann sprang zur Seite und schlug hastig mit der Hand auf die Flammen ein. Aber der einzige Erfolg bestand darin, dass er den ausladenden Reifrock einer Frau neben ihm in Brand setzte. Ein Pferd, das gerade am Halfter durch den Tunnel geführt wurde, ging beim Anblick der Flammen durch und schleifte seinen Besitzer hinter sich her.

  Innerhalb kürzester Zeit verwandelte sich der Tunnel in ein Flammeninferno. In Windeseile fingen zunächst Kleidungsstücke Feuer, dann folgten die Stoffabdeckungen der Stände, bis diese – trotz ihres feuchten Holzes – selbst in Flammen aufgingen. Rauch und Dampf vermischten sich im Tunnel zu einem erstickenden Nebel. Entsetzt floh Sherlock vor Feuer und Rauch in den rechten Tunnel, der zum Glück noch frei von Flammen war.

  In dem jedoch auch noch einer seiner Verfolger steckte.

  Eine haarige Hand packte ihn an der Schulter.

  »Hab ich dich, du Drecksack«, fauchte der Mann. Seine Jackenärmel waren so schwarz vor alten Schweißflecken, dass sie ganz steif und wachsig geworden waren. Der Gestank, den die Kleidung des Mannes verströmte, war unbeschreiblich.

  Sherlock zappelte und wand sich unter seinem Griff. Aber es war sinnlos. Seine Finger bohrten sich hart in Sherlocks Schulter.

  »Denny wird ’n Wörtchen mit dir reden wollen«, flüsterte der Mann und brachte sein Gesicht dicht vor Sherlocks. Sein Atem stank, als würde in seinem Mund eine Leiche verwesen. »Und ich glaub nich, dass dir sehr gefallen wird, was er zu sagen hat.«

  Sherlock wollte gerade antworten, als er etwas auf dem Boden des Seitentunnels wahrnahm. Der von Rauch und Dampf verschleierte Grund schien sich plötzlich zu heben und dann wellenförmig auf und ab zu bewegen, als wäre er ein lebendiges Wesen. Gleich darauf erkannte er, dass er damit auch gar nicht so falsch lag. Allerdings handelte es sich nicht um ein Wesen, sondern um Tausende … Tausende von Ratten! In panischer Angst vor dem Feuer waren sie aus ihren Löchern und Schlupfwinkeln geflitzt und allesamt in eine Richtung gestürmt: weg vom Feuer. Ein lebender Teppich aus struppigem braunem und schwarzem Fell ergoss sich über den Tunnelboden. Menschen und Pferde wichen entsetzt vor der Masse aus Haaren, Zähnen und Schwänzen zurück. Ein kleines Mädchen, das von seinen Eltern fortgezogen wurde, verlor den Halt und fiel hin. Im nächsten Augenblick waren auch schon Gesicht und Körper von einem Schwarm von Ratten bedeckt.

  Der Mann, der Sherlocks Schulter gepackt hielt, lockerte seinen Griff, als die Tiere um seine Knöchel wuselten und ihn mit ihren winzigen Zähnen bissen. Fluchend schlug er mit einer seiner schaufelartigen Hände auf sie ein. Sherlock riss sich aus seinem Griff los, stürzte sich in die lebende Masse und griff nach dem Kind, das unter der wogenden Flut verschwunden war. Winzige Krallen trippelten ihm über Arme, Beine, Kopf und Rücken.

  Ein widerlicher, beißender Gestank wie nach altem Urin drang ihm in die Nase. Seine Finger schlossen sich um einen kleinen Arm, und Sherlock zog aus Leibeskräften. Mit weit aufgerissenen Augen und den Mund schon zum Schreien geöffnet tauchte das Mädchen aus dem Rattenberg auf. »Du bist in Sicherheit«, beruhigte Sherlock sie. Er schob sie zurück in die Arme ihrer Eltern. Dankbar rissen sie das Mädchen an sich und umarmten es.

  Und dann war die Rattenflutwelle über sie hinweggezogen, mit Ausnahme von ein paar kranken und lahmen Nachzüglern. Sherlock konnte sehen, wie die Tiere in beide Tunnelrichtungen vor dem Rauch davonflitzten, der weiterhin aus dem Seitentunnel quoll. Der Schlägertyp, der Sherlock geschnappt hatte, klopfte sich immer noch verzweifelt die Kleidung ab, und unter dem Kleidungsstoff konnte Sherlock mehrere hin- und herhuschende Ausbeulungen erkennen. Wie es aussah, waren ein paar der um ihr Leben rennenden Tiere von unten in die Hosenbeine geflitzt und in ihrer Panik dann aus dieser Falle nicht mehr herausgekommen. Sherlock wandte sich ab und wollte gerade schon in Richtung des südlichen Flussufers zurücklaufen, als ihm die beiden anderen Schläger einfielen. Höchstwahrscheinlich würden sie oben am Schachteingang auf ihn warten. Nein, seine beste Chance bestand darin, die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen, und so rannte er den Tunnel hinunter auf das Nordufer der Themse zu. Schließlich gab es ja Brücken und Fährleute, um wieder ans andere Ufer zu kommen. Er würde schon zurückfinden. Irgendwann jedenfalls.

  Sherlock hastete durch den Tunnel und entfernte sich immer weiter vom Feuer. Männer in bunt zusammengewürfelten Uniformen kamen mit Wassereimern an ihm vorbeigerannt: offenbar eine freiwillige Feuerwehrtruppe, die für die Sicherheit im Tunnel zuständig war. Er achtete nicht weiter auf sie und rannte weiter.

  Schließlich erreichte er das Nordufer der Themse.

  Der dortige Schacht samt seiner in Spiralen nach oben führenden Treppenstiege war das exakte Spiegelbild seines Pendants auf der anderen Flussseite. Fast am Ende seiner Kräfte stapfte er auf den Steinstufen nach oben, und auf jeder Galerieebene musste er erst einmal anhalten, um zu verschnaufen.

  Aus der Dunkelheit in das Licht der Nachmittagssonne zu treten war dann, als wäre er aus der
Hölle ins Paradies entkommen. Die Luft roch süß, und die leichte Brise war angenehm kühl auf der Haut.

  Er blieb einen Augenblick stehen und schloss die Augen, um das Gefühl in vollen Zügen zu genießen. So einfach und doch so perfekt.

  Die Gegend am nördlichen Tunneleingang schien etwas besser zu sein als die Südseite. An den Kais lagen dicht aneinandergedrängt Schiffe aller Größen, und auf den Gangways schleppten Heerscharen von vierschrötigen Hafenarbeitern emsig Güter zwischen Schiffen und Kaianlagen hin und her. Sherlock ging am Ufer der Themse an den Schiffen vorbei und hielt nach einer Brücke Ausschau, auf der er wieder auf das andere Ufer hinüberkäme. Er wusste, dass mehrere Brücken über die Themse führten. Er hatte nur keine Ahnung, ob sich diese in der Nähe von Rotherhithe und dem Tunnel befanden. Aber logischerweise musste er irgendwann auf eine stoßen, wenn er lange genug weiterging. Vorausgesetzt natürlich, er ging in die richtige Richtung, sprich auf das Stadtzentrum zu. Allerdings hatte er daran kaum einen Zweifel. Denn wenn der Tunnel sich in Ostlondon befand, was ja der Fall war, und er diesen von Süd nach Nord durchquert hatte, was ebenfalls der Fall war, und er sich dann aus dem Tunnel kommend nach links wandte, müsste er zwangsläufig in die richtige Richtung gehen. Das Sarbonnier Hotel, in dem Amyus Crowe ihre Zimmer reserviert hatte, lag fast direkt am Themseufer und noch dazu am nördlichen. Wenn er also weit genug lief, würde er es vermutlich auch finden. Viel lieber jedoch wollte er eigentlich wieder über die Themse zurück, um Amyus Crowe und Matty Arnatt ausfindig zu machen.

  Etwa eine halbe Stunde später stieß er tatsächlich auf eine Brücke: ein riesiges Gebilde mit Zwillingstürmen aus grauem Stein auf beiden Ufern und einer gepflasterten Fahrbahn, die auf beiden Seiten von zahlreichen Läden und Ständen gesäumt war. Müde schleppte er sich über die Brücke und ignorierte das Geschrei der verschiedenen Händler, die ihm, von einem ganzen Ochsen bis hin zu einer geladenen Pistole, alles Mögliche zu verkaufen versuchten. London kam ihm immer mehr als Ort der unbeschränkten Möglichkeiten vor. Vorausgesetzt man war bereit, dafür zu zahlen.

  Am Südende der Brücke angekommen, wandte er sich wieder nach links. Er ging weiter auf Straßen, Gassen und Wegen und setzte seinen Weg sogar ein paarmal oben auf der breiten Krone der Ufermauer fort, um ja die richtige Richtung zum Lagerhaus in Rotherhithe nicht zu verlieren, wo er Amyus Crowe und Matty zuletzt gesehen hatte. Links von ihm am Themseufer bildeten die zahlreichen in den Himmel ragenden Schiffsmasten einen dichten Wald aus schlanken Holzstämmen, und vom Fluss stieg der ewig präsente Gestank menschlicher Exkremente auf. Wenn Mycroft tagein tagaus an einem solchen Ort arbeiten musste, hatte er sich allein dafür schon einen Orden verdient, dass er das überlebte.

  Ungefähr eine Meile flussabwärts von der Brücke entfernt kam Sherlock an einem Schiff vorbei, das gerade von einer Gruppe Hafenarbeiter beladen wurde. Schwitzend und fluchend versuchten sie, sperrige Holzkisten auf schrägen Gangways hinaufzubugsieren, ohne die Fracht in den Fluss fallen zu lassen. Etwas an der Größe und der Form der Kisten machte Sherlock stutzig. Im Schutz eines benachbarten Gebäudes pirschte er sich näher heran.

  Ein korpulenter Mann in marineblauer Jacke stand etwas abseits auf dem Kai. Mit prüfendem Blick musterte er ein Bündel Papierblätter, das auf einem Klemmbrett fixiert war.

  Mit Hilfe eines Bleistiftes, dessen Spitze er immer wieder anlecken musste, damit er funktionierte, versah er die Blätter hin und wieder mit irgendwelchen Anmerkungen.

  Die Kisten waren mit denen identisch, die Sherlock auf dem Anwesen des Barons gesehen hatte. Dort, wo er gefangengehalten worden war. Aus Holzlatten konstruierte kistenförmige Behältnisse für Bienen. Und in der Nähe standen stapelweise jene Holztabletts herum, die – wie er vor Ort gesehen hatte – unter die Kisten geschoben werden konnten. Zwar hatte man sie nun in Wachspapier eingeschlagen, aber ihre Umrisse waren unverkennbar.

  Er war versehentlich mitten in die Geheimoperation des Barons hineingestolpert. Deswegen also waren Denny und seine Bande hergekommen!

  Ohne die Szene aus den Augen zu lassen, rückte Sherlock noch näher heran und duckte sich hinter einen Kistenstapel. Einige der Bienenstöcke wurden gerade auf eine Palette geladen, die daraufhin von schwitzenden Hafenarbeitern an Seilen in die Höhe gezogen wurde, um dann in den Schiffsladeraum herabgelassen zu werden. Der Himmel allein mochte wissen, wie sie die Bienen davon abhielten, in Massen über sie herzufallen. So, wie sie es bei den beiden Unglücklichen in Farnham gemacht hatten. Vielleicht hatte der Baron ein Mittel, sie zu beruhigen.

  Als Sherlock beobachtete, wie eine weitere Palette mit Kisten auf das Schiff zuschwang, riss an einer Ecke plötzlich eines der Halteseile. Die Palette kippte zur Seite und vier Bienenstöcke rutschten herunter. Sich träge drehend, fielen sie herab und zersplitterten auf der steinernen Kaimauer in etliche Teile.

  Von der Seite kamen augenblicklich Männer mit Zinkeimern angerannt, an die ein rüsselförmiger Ausgießer angebracht war. Irgendetwas in den Eimern erzeugte Rauch und dieser Rauch schien die Bienen in einen schlafartigen Zustand zu versetzen.

  Ein paar Tiere entkamen, aber die meisten blieben bei den zerstörten Bienenstöcken zurück und vollführten torkelnde Bewegungen, als wären sie betrunken. Geteerte Leinwandplanen wurden über die Trümmer geworfen. Dann schleifte man das Ganze über das Pflaster, um den Inhalt schließlich in den schaumigen Fluten der Themse verschwinden zu lassen. Sherlocks Vermutung nach war es anscheinend so gut wie unmöglich, einen zerstörten Bienenstock wieder instand zu setzen.

  »Sherlock?«

  Eine sanfte Stimme rief seinen Namen. Er blickte sich von seinem Versteck aus um. Die Stimme hatte nicht wie die von Amyus Crowe geklungen. Und auch nicht wie Mattys.

  »SHERLOCK?« Die Stimme klang nun eindringlicher. Erneut taxierte er die Umgebung. Plötzlich wurde er auf eine Gestalt aufmerksam, die sich wie er hinter einem Stapel Kisten versteckt hatte. Eine weibliche Gestalt.

  »Virginia?«

  Sie hatte ihre Reithosen an und trug eine kurze Jacke über einer schneeweißen Leinenbluse. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie zu ihm herüber. »Was machst du denn hier?«, zischte sie.

  Sherlock schlüpfte rasch zu ihr hinüber. »Es würde zu lange dauern, das zu erklären«, erwiderte er.

  Sie musterte ihn von oben bis unten. »Was ist denn mit dir passiert?«

  Er dachte einen Augenblick nach. »Bin in einem Haufen Ratten herumgeschwommen. Unter anderem jedenfalls. Und was hast du mir zu erzählen?«

  Überraschend verlegen, wandte sie den Blick ab. »Ich hatte keine Lust, einfach zurückgelassen zu werden, während ihr Kerle den ganzen Spaß habt«, flüsterte sie. »Also, bin ich in meine Reitkleidung geschlüpft und euch gefolgt.«

  »Aber wir sind flussabwärts gefahren. In einem Boot. Wie bist du uns gefolgt?«

  Sie starrte ihn verwundert an. »In einem anderen Boot natürlich. Ich hab dem Bootsführer einfach gesagt, dass er euch folgen soll. Er ist mir zuerst etwas dumm gekommen, aber ich hatte Geld dabei, das Vater mir gegeben hat, und da hat er sich wieder eingekriegt. Während du das Lagerhaus beobachtet hast, habe ich dich beobachtet. Dann hab ich mitbekommen, wie einige Männer aus einer kleinen Seitentür im Lagerhaus geschlichen sind, während ihr alle anscheinend nichts mitbekommen und euch nicht vom Fleck gerührt habt. Also bin ich ihnen dann bis hierher gefolgt. Hätte sie übrigens fast noch verloren, als sie in eine Droschke gestiegen sind, aber zum Glück hab ich auch gleich eine erwischt.«

  »Ich habe nichts von dir gesehen«, wandte Sherlock lahm ein.

  »Dad hat mir all seine Fährtensuchertricks beigebracht«, erwiderte sie stolz. »Wenn ich dich verfolge, ist ›nichts‹ genau das, was du sehen sollst.« Sie schwieg. Dann beugte sie sich vor und berührte kurz seinen Arm.

  »Was du getan hast, war unglaublich gefährlich«, meinte Sherlock. »Aber ich bin froh, dich zu sehen.«

  Sie zuckte die Achseln. »Es war jedenfalls besser, als im Hotel auf eure Rückkehr zu warten.«

  »Aber warum bist du ausgerechnet denen gefolgt? Und nicht zu deinem Vater gegangen, um ihm zu erzählen, was passiert is
t?«

  »Einfach darum eben«, sagte sie nur und fügte dann kleinlaut hinzu: »Na ja, eigentlich weil ich seine Spur verloren hatte.«

  »Aber ein Mädchen … allein … im Londoner East End …« Er brach ab, unsicher, wie er den Satz zu Ende bringen sollte. »Hier laufen ein paar ziemlich üble Kerle rum …«, fing er schließlich wieder an. Und dann erzählte er, was ihm an diesem Nachmittag alles passiert war, und berichtete auch von dem erstochenen Mann und dem Brand in den Tunneln.

  Es war eine große Erleichterung, darüber zu sprechen. Aber gleichzeitig war sich Sherlock darüber im Klaren, dass er in tödlicher Gefahr geschwebt hatte und er immer noch nicht wusste warum.

  »Wir können nicht zulassen, dass sie damit durchkommen«, sagte Virginia, als er zu Ende erzählt hatte. »Du bist nur ein Kind. Die hätten dich umbringen können.«

  »Du bist auch nur ein Kind«, protestierte Sherlock lahm.

  Virginia lächelte. »So hab ich’s nicht gemeint«, erwiderte sie. »Was ich sagen wollte, ist, dass wir eigentlich nicht in so etwas hineingezogen werden sollten.«

  »Aber das sind wir nun mal«, unterstrich Sherlock. »Und was immer da auch vor sich geht: Wir müssen es verhindern.«

  »Okay, ich bin bereit. Ich hab was gefunden, um mich perfekt als Junge zu verkleiden«, sagte Virginia stolz und zog eine Kopfbedeckung unter der Stelle hervor, wo sie gerade hockte. Es handelte sich um eine Schirmmütze aus Stoff. Sie hielt mit einer Hand die Haare hinter dem Kopf zusammen und ließ mit der anderen die Mütze darübergleiten. Mit den verborgenen Haaren und der zugeknöpften Jacke könnte sie tatsächlich gut als Junge durchgehen, fand Sherlock. Und natürlich hatte sie ja außerdem noch ihre Reithosen an. Mädchen hingegen trugen Kleider, keine Reithosen. Niemand, der sie nicht kannte, würde den geringsten Anlass haben, misstrauisch zu werden.

 

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