Love is Wild – Uns gehört die Welt (Love-is-Reihe 3): Roman (German Edition)

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Love is Wild – Uns gehört die Welt (Love-is-Reihe 3): Roman (German Edition) Page 17

by Engel, Kathinka


  »Sehr gesunde Einstellung«, sagt Richard. Aber es klingt nicht, als fände er Diegos Aussage besonders witzig.

  »Es gibt jedenfalls jede Menge zu essen. Also, je mehr Platz ihr habt, desto besser.« In Gedanken gehe ich voller Vorfreude all das Essen durch, das ich morgen im Laufe des Tages zubereiten werde. Einen ganzen Truthahn, Ofenkartoffeln, Süßkartoffelpüree, Rosenkohl, Karotten, Pastinaken … einen Trifle zum Nachtisch.

  »Vielleicht wäre es dann wirklich besser, du würdest heute auf die Waffeln verzichten«, sagt Richard neben mir.

  Im ersten Moment bin ich mir sicher, dass ich mich verhört habe. »Was?«, frage ich und sehe ihn entgeistert an.

  »Und wenn du willst, tausche ich meinen Salat gegen deinen Eintopf.«

  Wieder entfährt mir nur ein »Was?«.

  »Na ja, morgen wirst du dich vermutlich nicht zurückhalten wollen«, sagt er.

  »Zurückhalten wollen?« Ich kann nichts dagegen tun, dass meine Stimme lauter wird und nun Emilys und Juliens Aufmerksamkeit auf uns lenkt.

  »Wir waren uns doch einig«, fährt Richard fort, darauf bedacht, leise zu sprechen, »dass wir dich ein bisschen fit kriegen wollen.«

  »Mich ein bisschen fit kriegen … Richard, was redest du da?«

  »Das geht wirklich nicht alle etwas an«, schilt er mich, weil ihm meine Lautstärke schon wieder nicht passt. »Willst du nicht, dass wir eine glückliche, sexuell ausgelastete Beziehung führen?«

  »Nein, das geht wirklich nicht alle etwas an, deswegen verstehe ich nicht, warum du in aller Öffentlichkeit darüber redest.« Ich knalle den Löffel auf meinen Teller, dass mein Eintopf spritzt.

  »Amory«, sagt er und klingt dabei, als würde er mit einem unartigen Kind sprechen.

  »Richard«, äffe ich ihn nach, denn sein Verhalten ist echt die Höhe.

  »Lass uns kurz nach draußen gehen«, schlägt er vor.

  »Bitte«, erwidere ich, doch meine Höflichkeit ist nur noch gespielt. Ich folge ihm nach draußen. Sobald die Tür hinter uns zugefallen ist, drehe ich mich zu ihm um. »Was zur Hölle, Richard!«

  »Sorry, wenn das drinnen unsensibel war«, sagt er. Rudert er zurück? »Ich hätte das wirklich nicht beim Essen … aber die Vorstellung, dass du dir zum Nachtisch noch eine fettige Waffel holst, um dann morgen den ganzen Tag …«

  »Was ist damit?«, frage ich.

  »So kriegst du nie eine gute Figur.«

  Ich keuche. »Wie bitte?«

  »Und ganz ehrlich? Das ist jetzt nicht böse gemeint oder so, aber dann wird das mit meiner Lust auf dich auch nichts.«

  Ich schlucke. Einmal. Zweimal. Atme tief ein und aus. Ich fühle mich vollkommen überrumpelt. Obwohl es kühl ist, glüht mein Gesicht. »Richard«, sage ich so ruhig, wie es mir möglich ist. Doch meine Stimme zittert vor Wut. »Wenn ich abnehmen muss, damit du dich dazu durchringen kannst, mit mir zu schlafen, will ich nicht, dass du dich überhaupt zu mir hingezogen fühlst.«

  »Was sind das denn für neue Töne?«, fragt er.

  »Das ist die Antwort auf den Scheißdreck, den du in den letzten Minuten von dir gegeben hast.«

  »Dann ist es dir lieber, ich bin unehrlich?«

  »Mir ist es lieber, du maßt dir nicht an, über meinen Körper zu urteilen. Mir ist es lieber, du verschwindest aus meinem Leben. Ich brauche nämlich sicher niemanden, der sich dazu zwingen muss, mit mir zu schlafen, weil ich nicht seinem Schönheitsideal entspreche. Denn so jemand entspricht nicht dem Ideal, das ich von einem Charakter habe.«

  »Das ist ziemlich unvernünftig«, sagt er, und ich muss beinahe lachen.

  »Unvernünftig?«, frage ich. »Was läuft eigentlich bei dir schief? Erst umwirbst du mich monatelang, und ab dem Moment, in dem wir beschließen, ein Paar zu sein, versuchst du mich zu ändern.« Ich hole einmal tief Luft. »Ich muss immer und überall einen BH tragen. Ich rede zu laut. Ich bin zu erfolgreich in dem, was ich tue. Ich bin nicht sportlich genug. Nicht dünn genug …« Eins nach dem anderen zähle ich an meinen Fingern ab.

  »Aber das ist doch alles keine große Sache«, sagt Richard, der offenbar überhaupt nicht versteht, was er tut.

  »Es ist eine große Sache. Entweder du magst mich, wie ich bin, oder wir halten uns voneinander fern.«

  »Also machst du Schluss?«, fragt er.

  »Nein«, sage ich. »Denn es war schon aus in dem Moment, als du mir vorgeschlagen hast, deinen beschissenen Salat zu essen.«

  »Das war es nicht«, widerspricht er.

  »Das hast nicht du zu entscheiden.« Und dann tue ich etwas kolossal Unsouveränes, das mich aber für einen Augenblick fast so glücklich macht wie die Waffel, die ich gleich noch essen werde. Ich zeige Richard den Stinkefinger und gehe in irgendeine x-beliebige Richtung davon.

  Bringt ihr mir eine Pumpkin-Spice-Waffel mit?, schreibe ich an Emily.

  Wo steckst du?, kommt es sofort zurück.

  In Lippmans Büro. Er ist auf einer Konferenz, und ich habe den Schlüssel, weil ich seine Grünlilien gießen soll.

  Sind unterwegs, schreibt Emily.

  Bis es an der Tür klopft, habe ich die gröbste Unordnung bestehend aus Büchern, Erde vom Umtopfen der Grünlilien und Papierstapeln auf dem kleinen Konferenztisch beseitigt, sodass wir hier zu dritt sitzen können.

  »Was ist passiert?«, fragt Thanh und legt drei eingepackte Waffeln auf den Tisch.

  »Ich hatte einen wachen Moment«, erwidere ich und mache mich daran, meine Waffel aus der Tüte zu holen.

  »Kannst du das ein bisschen genauer ausführen?«, fragt Emily, ehe sie in ihre Waffel beißt. Pumpkin Spice, genau wie meine.

  »Ich habe mit Richard Schluss gemacht.«

  »Wow«, sagt Thanh. »Ich dachte –«

  »Ja, das dachte ich auch«, unterbreche ich sie. »Aber er hat immer nur an mir herumgekrittelt. Ich war ihm zu dies und zu das. Und zu wenig dies und zu wenig das. Und als er heute vorgeschlagen hat, ich solle auf meine Waffel verzichten und lieber einen Salat essen …«

  »Er hat was? «, fragen Thanh und Emily wie aus einem Mund.

  »Was ist denn bei dem schiefgelaufen?« Thanh beißt in ihre Waffel.

  »Schätze, dann seid ihr jetzt das heißeste Mathe-Pärchen«, sage ich mit einem vorsichtigen Grinsen. Es fühlt sich ein bisschen steif an. Aber nicht unmöglich.

  »Was meinst du?«, fragt Thanh und wird rot.

  »Was läuft da zwischen dir und Diego?«

  »Ihr seid nicht gerade diskret.«

  »O Mann.« Sie vergräbt ihr Gesicht in den Händen und schmiert sich dabei geschmolzene Schokolade an die Stirn.

  »Mach dir nichts draus«, sage ich. »Diego leckt es sicher gern ab.«

  »Hä?« Thanh ist nun vollkommen verwirrt, was dazu führt, dass ich lachen muss.

  Emily reicht ihr einen Handspiegel, und während Thanh versucht, ihr Gesicht von der Schokolade zu befreien, fragt sie an mich gewandt: »Und wie geht’s dir jetzt?«

  »Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung«, gebe ich zu. »Ich bin wütend. Richtig wütend. Ich hasse es, dass ich es so weit habe kommen lassen. Ich habe wirklich an mir gezweifelt. Ob ich zu laut bin. Ob ich zu unsportlich bin.«

  Emily stöhnt. »Was für ein Arsch.«

  »Ich ärgere mich, dass ich versucht habe, es ihm recht zu machen. Und am Ende habe ich nichts davon, sondern fühle mich mies, weil er mir das Gefühl gegeben hat, nicht sexy zu sein.«

  »Falls dir das hilft«, schaltet sich Thanh ein, »du bist sexy.«

  »Ich weiß.«

  »Das ist noch sexier.«

  »Ich weiß.«

  »Okay, hör auf damit, sonst muss ich Diego das Herz brechen.«

  Wir lachen. Laut und befreit. Einen Augenblick lang wundere ich mich. Warum bin ich nicht trauriger? Warum weine ich nicht?

  »Ich schätze«, beginne ich, »ich war mehr in die Idee verliebt, endlich wieder einen Freund zu haben. Jemanden, mit dem ich mein Leben teilen kann. Thanksgiving und Weihnachten feiern. All das. Und anfangs war er echt süß.«

  »Aber er hat’s charaktermäßig nicht gebracht«, sagt Emily.

  »Wirklich nicht«, stimm
e ich ihr zu.

  »Aussehen ist eben nicht alles, Mr Boulderer.« Thanh reibt immer noch an ihrem Schokoladenfleck herum.

  »Willst du morgen vielleicht lieber deine Ruhe haben? Deine Wunden lecken? Einen ganzen Truthahn für dich allein haben?«, fragt Emily.

  »Dann müsste ich die nächsten Monate auf Waffeln verzichten«, sage ich, und es gelingt mir ganz gut, Richards Tonfall nachzuahmen. »Nein, im Ernst. Ich hätte euch gerne da. Nur auf Richard habe ich keine Lust.«

  »Das wird interessant im Büro«, sagt Thanh.

  »Vielleicht arbeite ich erst mal von zu Hause aus.«

  »Vielleicht stellen wir Richards Schreibtisch auf den Gang«, schlägt Emily vor.

  »Ich möchte keinen Streit oder so«, sage ich, ohne dass ich mir wirklich Gedanken darüber gemacht hätte. Doch es stimmt. »Ich glaube, ich brauche einfach ein bisschen Abstand.«

  »Alles, was du willst. Aber wenn du vorhast, in den nächsten Tagen nicht an die Uni zu kommen, sollten wir vielleicht Lippmans Pflanzen noch mal gießen.« Thanh lässt ihren Blick durch das unordentliche Büro wandern und bleibt beim Fensterbrett hängen. »Wenn ich sie mir so ansehe, schadet das ohnehin nicht.« Sie grinst.

  »Er sollte wohl beim nächsten Mal jemand anderen bitten«, gebe ich zu und mache mich gleich daran, die etwas traurig aussehenden Grünlilien zu wässern. »Und währenddessen könntest du mal erzählen, wie das mit dir und Diego passiert ist.«

  Thanh fährt sich leicht verlegen durch die Haare. »Er hat nicht lockergelassen«, sagt sie dann.

  »Das klingt romantisch.« Emily lacht.

  »Und ungesund«, füge ich hinzu.

  »Und gar nicht nach dir, Thanh.«

  »Wir haben über Tinder ein bisschen hin und her geschrieben.« Sie zuckt mit den Schultern. »Und es stellte sich heraus, er ist ein ziemlich … cooler Kerl.«

  Ich pruste los. »Wusstest du das vorher nicht?«

  »Ehrlich gesagt, er ging mir immer ein bisschen auf die Nerven. Aus den Nachrichten wurden Anrufe. Und schließlich haben wir uns zweimal außerhalb der Uni getroffen.«

  »Und dann seid ihr übereinander hergefallen, weil ihr euch gegenseitig attraktiv findet!«, sage ich triumphierend – allerdings mit ein bisschen Bitterkeit in der Stimme.

  »So ungefähr«, stimmt Thanh mir zu. »Aber wir müssen wirklich nicht darüber reden.«

  »Doch, wir sollten sogar darüber reden. Gesunde Beziehungen sollten der Gegenstand von Songs und Gedichten sein. Man sollte Bücher darüber schreiben. Songs, in denen nicht die Männer sauer sind, weil sie verschmäht wurden. Gedichte, in denen es um innere Schönheit geht. Bücher, in denen sich die Protagonistin nicht verbiegt, um einem Richard zu gefallen. Wisst ihr, was ich meine?«

  »Amen!«, sagt Emily. »Und jetzt holen wir uns noch eine Runde Waffeln.«

  26

  Curtis

  Durch die neuen Fenster fällt blasses Sonnenlicht ins Zimmer. Erst bin ich orientierungslos, habe keine Ahnung, wo ich bin. Dann sehe ich auf die grauen Decken, die unter und auf mir liegen, und es fällt mir wieder ein. Ich habe eine weitere Nacht in meinem Elternhaus verbracht. Einfach so. Was mir vorgestern noch wie eine Reaktion erschien, fühlt sich heute gut an. Als wäre dieser Ort damit in der Gegenwart angekommen.

  Mein Nacken ist steif und knackt, als ich mich aufsetze. Ein Kaffee wäre gut. Oder eine Dusche. Oder wenigstens ein Glas Wasser. Ein bisschen ungelenk schäle ich mich aus meinem provisorischen Bett, schlüpfe in meine Sneakers. Meine Schritte knirschen auf dem Fußboden. Bei jeder Bewegung wird etwas in meinem Rücken an seinen Platz zurückgeschoben, und ich strecke mich, um den Vorgang zu beschleunigen.

  Neben der Haustür finde ich eine halb leere Wasserflasche, die ich gierig austrinke. Ich lasse meinen Blick durch den hellen Raum wandern, und zum ersten Mal denke ich, dass das hier ein schönes Haus ist. Bislang war es für mich dieses Überbleibsel aus einer längst vergangenen Zeit, von der nichts mehr übrig war. Doch heute Morgen – ich weiß auch nicht, wie – sehe ich es mit anderen Augen. Die rauen, unverputzten Wände, die neuen Fenster, deren staubige Schlieren erst im Sonnenlicht so richtig hervortreten. Und das ist es wohl, was das Leben ausmacht, schätze ich. Das Hässliche ist vor allem im Glanz des Schönen sichtbar.

  Die Haustür knarzt nach wie vor. Und das rote X prangt immer noch darauf. Ich trete auf die Veranda und atme einmal tief ein. Mein Handyakku ist fast leer, doch das Display verrät mir, dass ich tatsächlich bis beinahe zehn Uhr geschlafen habe. Kein Wunder, dass mir nun alles wehtut.

  Ich stütze mich mit den Ellenbogen auf das Geländer, betrachte den fleckigen Rasen. Das improvisierte Wellblechtor steht immer noch offen, weil ich gestern Abend vergessen habe, es zu schließen. Da fällt mein Blick auf die andere Straßenseite. Ich fasse es nicht. Aber die alte Frau steht schon wieder auf dem Gehweg und starrt. Starrt zu mir herüber.

  »Was willst du?«, sage ich zu mir selbst. Dann treffe ich eine Entscheidung. »He!«, rufe ich und gehe die Holzstufen der Veranda nach unten. »Was willst du von mir?«

  Ihr runzliges Gesicht bleibt ausdruckslos, und statt zu reagieren, setzt sie sich in Bewegung. Ganz langsam stellt sie einen Fuß vor den anderen, ihre Gehhilfe schiebt sie vor sich her.

  »Was ist dein Problem?«, rufe ich noch mal und schüttle den Kopf. Sie soll sich einfach um ihren eigenen Scheiß kümmern und mich in Ruhe lassen.

  Doch sie kommt unaufhörlich näher. Auch wenn man es in diesem Tempo kaum glauben mag. Sie ist bereits in der Mitte der Straße. Das leicht scheppernde Tock, tock ihrer Gehhilfe klingt wie eine Drohung. Eigentlich will ich ihrem Blick standhalten, aber mich gruselt es. Von ihr geht etwas so Düsteres, so Gespenstisches aus, dass sich mir die Nackenhaare aufstellen.

  Mühsam hievt sie ihre Gehhilfe über den Randstein. Ich höre sie nun keuchen, so nah ist sie inzwischen. Ein rasselnder Atem, das stoßweise Luftholen. Ihr weites, weißes Kleid weht im Wind. Um die Schultern trägt sie eine dunkel gemusterte Stola gegen die Kälte. Auf einmal hält sie inne. Steht auf dem Gehweg vor meinem Grundstück und starrt mich an. So gut ich kann, starre ich zurück. Eine Weile passiert nichts, dann halte ich es nicht mehr aus.

  »Was willst du?«, frage ich mit fester, lauter Stimme. Doch sie antwortet nicht. »Bist du taub? Ich hab dich gefragt, was du verdammt noch mal willst.«

  Sie wiegt leicht den Kopf hin und her. Mich erfüllt eine wilde Wut. Was soll dieser Scheiß? Versucht sie, mir Angst zu machen? Diese alte, schwache Schachtel? Ich könnte sie mit meinem kleinen Finger zusammenfalten.

  »Bist du eine von denen, die sich durch mich und mein Haus gestört fühlen?«, frage ich, denn auf einmal bin ich mir sicher, dass das hier eine Taktik ist, mich zu vertreiben. Mich loszuwerden. So wie alle Welt mich loswerden will. »Hast du ein Problem mit mir? Ist es das? Hm?« Ich mache einen Schritt auf sie zu, doch sie zuckt nicht einmal. »Wärst mich am liebsten los, stimmt’s? Abschaum wie ich passt nicht in eine saubere Nachbarschaft, was?« Ich gehe weiter auf sie zu. »Das kannst du vergessen. DAS KÖNNT IHR ALLE VERGESSEN , HÖRT IHR ?«, brülle ich auf einmal, spüre, wie der Zorn in mir überhandnimmt. Wie ich Lust habe, etwas zu zerstören. Meine Hände sind zu Fäusten geballt, meine Zähne knirschen. »IHR … KÖNNT … MICH … MAL !«, schreie ich und trete bei jedem Wort gegen den Wellblechzaun, der mein Haus von der Straße abschirmt. Ich werfe mich dagegen, gebe rasende Laute von mir, keuchende, wütende, würgende Geräusche, die tief aus meiner Kehle zu kommen scheinen. Ich schlage und trete auf das Tor ein, blind vor Zorn. Jeder Tritt schallt durch die stille Nachbarschaft, lässt meine Trommelfelle beben.

  Meine Raserei dauert vielleicht eine Minute. Ich kann es nicht genau sagen. Als ich mich verschwitzt und außer Atem zu der alten Frau umdrehe, steht sie nach wie vor einfach da, während der Zaun vollkommen heruntergerissen ist.

  »Bist du jetzt zufrieden, Alte?«, frage ich durch meine zusammengebissenen Zähne und kicke noch einmal gegen das Wellblech auf dem Boden.

  Doch statt mir zu antworten, hebt sie, wie schon neulich, die Hand und winkt. Ich schüttle den Kopf. Schnaube.

  »Du machst mir keine
Angst«, sage ich und spucke aus.

  »Du machst mir keine Angst.« Ihre Stimme ist kratzig und zittert vor Alter.

  »Was?«

  »Du bist der Sullivan-Junge.«

  Wieder frage ich: »Was?«

  »Der Sullivan-Junge«, krächzt sie geduldig. Anscheinend hat mein Ausbruch keinerlei Eindruck auf sie gemacht.

  »Woher weißt du, wer ich bin?«, erkundige ich mich verwirrt.

  Sie schenkt mir ein sehr zahnreduziertes Lächeln. »Ich lebe seit sechzig Jahren hier.«

  »Na und?«, frage ich und will mich schon zum Gehen wenden.

  »Ich erinnere mich.«

  »Verflucht noch mal«, sage ich, »was soll dieser ganze Zirkus? Warum glotzt du mich an? Warum beobachtest du mich? Warum stellst du dich vor mich und sagst nichts?«

  »Warum bist du so wütend?«

  Ich schüttle den Kopf, weil ich einfach nicht begreife, was ihr Game ist.

  »Komm mit, ich lade dich auf einen Kaffee ein«, sagt sie.

  »Ich bin doch nicht irre«, gebe ich zurück.

  »Komm«, sagt sie und dreht sich in Zeitlupe um.

  »Den Teufel werd ich tun.«

  Das Tock , tock ihrer Gehhilfe begleitet sie auf ihrem schleichenden Weg über die Straße.

  »Ich komme nicht mit«, rufe ich.

  »Doch«, sagt sie.

  »Sicher nicht.«

  »Doch.«

  »Nerv mich nicht.«

  »Doch.«

  In ein paar Schritten bin ich bei ihr und halte ihre Gehhilfe fest, sodass sie sie nicht mehr bewegen kann. »Ich habe Nein gesagt.«

  »Und ich weiß, dass du trotzdem kommst.«

  Ich lache. »Und was macht dich da so sicher?«

  »Du bist der Sullivan-Junge.«

  »Wir drehen uns im Kreis«, sage ich. »So weit waren wir schon.«

  Aber sie erwidert nichts mehr, beginnt lediglich seelenruhig weiterzuschlurfen, sobald ich ihr Gehgestell wieder loslasse.

  »Warum lädst du mich überhaupt ein?«, frage ich. »Was hast du davon? Was habe ich davon?«

  Sie schweigt, entfernt sich von mir. In zwei Schritten habe ich wieder aufgeholt.

 

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