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Love is Wild – Uns gehört die Welt (Love-is-Reihe 3): Roman (German Edition)

Page 31

by Engel, Kathinka


  Für eine Weile sagt niemand etwas.

  »Was ich bei Ihnen beiden heraushöre und auch in den letzten Wochen herausgehört habe«, sagt Jacob, »ist die Trauer. Trauer um Ihren Sohn, Trauer um deine Eltern. Trauer, die bei jedem Menschen anders zum Ausdruck kommt. Die einen weinen, die anderen werden wütend. Die einen klammern sich an ihre Mitmenschen, die anderen wollen allein sein. Jede Form der Trauer ist dabei in Ordnung. In Ihrem Fall«, Jacob sieht zu meiner Großmutter, »manifestierte sie sich in einer übertriebenen Sorge, einer Überängstlichkeit, die durchaus verständlich ist, Ihrem Enkelsohn jedoch nicht in seiner Trauer geholfen hat. Haben Sie versucht, mit ihm zu sprechen? Ihm zuzuhören?«

  Jacobs Worte lösen etwas in mir aus. Ich habe meine Großmutter nie trauern sehen. Doch jetzt, da sie vor mir sitzt, die Lippen zu einem dünnen Strich aufeinandergepresst, ist ihre Traurigkeit auf einmal greifbar.

  »Ich musste funktionieren, wissen Sie?«, sagt sie. »Ich musste für uns beide funktionieren. Das hat so viel Kraft gekostet. Kraft, die ich an anderer Stelle vielleicht nicht mehr hatte.«

  »Curtis, was hättest du dir denn gewünscht?«

  »Ja, ich schätze, das wäre gut gewesen«, sage ich. »Wenn sie mich … wenn du mich mal gefragt hättest, wie es mir geht oder so. Keine Ahnung. Wenn du mich mal …« Meine Stimme bricht. »… in den Arm genommen hättest.« Ich kann sie nicht mehr ansehen. Meine Augen suchen nach etwas, woran sie sich festhalten können.

  »Und als das nicht passierte, was hast du da gefühlt?«

  »Ich … ähm …« Ich muss mich räuspern und presse meinen Körper so tief in den Sessel, wie es nur irgend möglich ist. Versuche mit dem Polster zu verschmelzen. »… ich habe versucht, herauszufinden, ob ich ihr … dir … überhaupt wichtig bin.«

  »Aber natürlich warst du mir wichtig!« Sie nimmt sich ein neues Taschentuch. »Du warst das Wichtigste für mich.«

  »Ich war eine verfluchte Bürde für dich.«

  »Du wurdest zu einer Bürde, das kann ich nicht leugnen.«

  »Wenn ich das richtig verstehe, Curtis, war deine Wut in erster Linie eine Reaktion auf den schweren Verlust?«

  Ich nicke.

  »Eine Sehnsucht nach Konstanz, bedingungsloser Verlässlichkeit. Er schob Sie durch sein Verhalten von sich, in der Hoffnung, in Ihrem Verständnis den Beweis für Ihre Liebe zu erfahren.«

  Sie schluchzt leise auf. »Das wusste ich nicht.«

  »Das konnten Sie auch nicht«, sagt Jacob.

  »Wenn ich geahnt hätte …«

  »Indem Sie ihn weggeschickt haben, bestätigten Sie seine größte Angst. Dass Sie ihn nicht liebten.«

  Ich habe meine Ellenbogen auf meine Oberschenkel gestützt, den Kopf in meinen Händen vergraben, und starre auf den Teppich vor mir. Meine Ohren klingeln.

  »Aber ich habe ihn geliebt.«

  »Sagen Sie ihm das.«

  »Ich habe dich geliebt.«

  Ich bringe es nicht über mich, aufzusehen. Das hier ist alles zu viel. Zu mächtig. Übermächtig. Meine Eltern, meine Großmutter. Mein Kopf dreht sich, schwirrt im Kreis. Sie hielten es mit mir nicht aus. Hielten mich nicht aus.

  »Dich wegzuschicken war das Härteste, was ich je getan habe. Das musst du mir glauben, Curtis. Seither ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht an dich gedacht hätte. Kein Tag, an dem ich mich nicht gefragt habe, wie es dir geht und ob du mir eines Tages verzeihen wirst.«

  Ich höre, was sie sagt, begreife es jedoch nicht. Eine Träne tropft mit einem leisen Plopp von meiner Nasenspitze auf den Boden.

  »Ich wollte dich nie verlieren. Im Gegenteil: Ich wollte dich retten. Dabei habe ich anscheinend alles falsch gemacht.«

  »Es geht nicht darum, die Schuld bei jemandem zu suchen«, sagt Jacob, doch seine Stimme dringt nur noch wie durch Watte an meine Ohren. »Es genügt vollkommen, wenn Sie verstehen, dass Ihre Gefühle das Resultat Ihrer Bedürfnisse sind. Das Bedürfnis deiner Großmutter war es, dich zu beschützen, Curtis. Deswegen hatte sie Angst um dich. Curtis’ Bedürfnis war es, geliebt und verstanden zu werden. Die Wut benutzte er dabei als Schutzschild, um nicht enttäuscht zu werden.«

  »Das sehe ich jetzt«, sagt meine Großmutter.

  »Curtis?«, fragt Jacob. »Siehst du es auch?«

  Ich nicke, den Kopf immer noch in den Händen vergraben.

  »Hätte ich geahnt, dass wir uns sieben Jahre lang nicht sehen würden, ich hätte eine andere Lösung gefunden«, sagt sie nun, und ich höre, dass sie sich mir zugewandt hat. Doch ich kann mich nicht rühren. Die Tränen, die eine nach der anderen auf den Boden vor mir fallen, ziehen meinen Kopf immer weiter nach unten. »Ich habe dich so vermisst.«

  Ich kann nicht mehr. Kann meinen Kopf nicht mehr halten. Will mich auf dem Boden zusammenrollen, die Knie an meinen Körper ziehen.

  »Ichhabdichauchvermisst«, schluchze ich plötzlich in seltsam hoher Tonlage in meine Hände. Ich klinge fremd.

  »Mein Junge«, sagt sie mit bebender Stimme. Im nächsten Moment spüre ich eine Hand auf meinem Knie. Als ich die Augen öffne, sehe ich sehr verschwommen durch den Tränenschleier, dass sie vor mir auf dem Boden kniet. »Ich wollte dir nie das Gefühl geben, nicht genug oder ungeliebt zu sein. Denn das warst du nicht. Das bist du nicht. Du wirst sehr geliebt. Von mir.«

  Ich schluchze auf, weiß gar nicht, wie mir geschieht. Ich schlucke, und da ist kein Widerstand. Das Geschwür hat sich aufgelöst. Ich lasse mich von meiner Großmutter in eine ungewohnte Umarmung ziehen, vergrabe meinen Kopf an ihrer Schulter und weine. Weine in ihre Bluse. Tränen vermischen sich mit Spuckefäden, während mein ganzer Körper wieder und wieder von Weinkrämpfen durchgeschüttelt wird. Meine Augen brennen, meine Lippen sind taub.

  Du wirst sehr geliebt. Du wirst sehr geliebt. Du wirst sehr geliebt. In Endlosschleife höre ich den Satz in meinem Kopf. Und mit jedem Mal sinkt er etwas tiefer ein, beginne ich zu begreifen, verstehe … Mit jeder meiner Tränen, die von ihrer Bluse aufgesaugt wird, mit jedem Streichen über meinen Rücken etwas mehr. Es fühlt sich an, als würde mein Herz mit einem stumpfen Werkzeug an die richtige Stelle gehämmert werden. Fester in meine Brust hinein, dort, wo es hingehört. Mein Schluchzen wird heiser, meine Stimme versagt.

  Ich weiß nicht, wie lange wir in dieser Position verharren. Irgendwann wird mein Schluchzen leiser, die Tränen versiegen.

  »Ich hab deine Bluse ganz nass geweint«, sage ich entschuldigend und versuche sie mit einem frischen Taschentuch trocken zu reiben.

  Sie blickt von ihrer Schulter zu mir und zurück zu ihrer Schulter. »Das macht nichts«, sagt sie. »Das trocknet schnell.« Sie fährt mir mit ihrer weichen alten Hand über die Wange.

  »Fuck«, mache ich und reibe mir mit einem vorsichtigen Lächeln auf den Lippen mit den Handballen über die Augen. »Fuck, das war krass.«

  »Nicht fluchen!«, sagt meine Großmutter, doch im nächsten Moment schlägt sie sich die Hände vor den Mund. »Nein, entschuldige. Es ist deine Sache.«

  »Wie fühlst du dich?«, fragt Jacob, als meine Großmutter sich bereits verabschiedet hat – nicht ohne mir das Versprechen abzunehmen, dass wir uns wiedersehen werden.

  »Der Kloß in meinem Hals ist weg«, sage ich.

  Jacob lacht. »Das freut mich. Und emotional?«

  »Dass du das immer wissen musst, du Seelenspanner«, sage ich.

  »Es ist, wenn du so willst, mein Job.« Er grinst.

  »Ich fühle mich nackt.«

  »Nackt?«

  »Leer. Leicht. Als wäre vieles, was vorher in mir war, weg.«

  »Ist das etwas Positives?«

  »Es ist zumindest nichts Negatives, schätze ich.«

  »Wonach ist dir jetzt?«

  »Also, wenn ich ehrlich bin, will ich seit Wochen nur diese eine Sache. Amory sehen. Richtig sehen.«

  »Dann wäre es vielleicht an der Zeit, du würdest sie anrufen.«

  Mir wird ganz warm bei seinen Worten. Sowieso führen die meisten von Jacobs Worten auf die Dauer dazu, dass einem warm wird. Noch im Wartebereich fische ich mein Handy aus der Hosentasche und wähle mit zitternden Fingern Amorys Nummer. Drei Monate lan
g war eine kurze Nachricht hier und da das höchste der Gefühle. Zum Einschlafen las ich unsere Chats, bis ich sie beinahe auswendig konnte. Vermisste sie. Vermisste sie so schrecklich. Aber ich wollte sicher sein. Musste sicher sein. Für sie, für mich. Brauchte die vielen Sitzungen mit Jacob, damit ich der Mann sein konnte, den sie verdient. Und jetzt …

  … geht direkt die Mailbox ran. Puh.

  Ich verlasse die Praxis, laufe langsam die Treppe hinunter. Soll ich unangekündigt bei ihr zu Hause auftauchen? In meiner Vorstellung sehe ich, wie ich immer zwei Stufen auf einmal nehme, innerhalb von Sekunden oben bin, an ihrer Tür. Wie ich sie an mich ziehe, sie festhalte. In meinen Armen.

  Natürlich weiß ich, dass es keine Garantie gibt. Es ist drei Monate her, seit wir uns unsere Liebe gestanden haben. In drei Monaten kann eine Menge passieren. Doch ich will bei ihr sein. Nach allem, was war, was ich über mich gelernt habe, nach allem, was gerade mit meiner Großmutter passiert ist, will ich bei ihr sein. Zur Ruhe kommen, während ich sie ansehe.

  Ich schlucke. Befreit. Die Sonne scheint, und es kommt mir vor, als wäre die Welt um mich herum erwacht. Oder ich bin erwacht. Alles ist klar, konturiert. Die warmen Farben Tremés scheinen kräftiger, die Magnolien stehen in voller Blüte. Ich kann nicht warten. Ich sprudle über!

  »Curtis?«, fragt Bonnies Stimme am anderen Ende der Leitung.

  »Hi, Bonnie.« Ich bin atemlos, obwohl es dafür keinen Grund gibt. Mein Körper fühlt sich an, als wäre ich einen Marathon gerannt, dabei stehe ich einfach nur hier und denke an Amory. »Hast du eine Ahnung, wo Amory steckt? Ist sie bei sich zu Hause? Im Büro?«

  »Oh, äh, nein. Sie … ähm … sie ist im Krankenhaus.«

  Was? »Was?«

  »Ja, ähm, New Orleans East …«

  Den Rest höre ich nicht mehr. Ich lasse das Handy sinken. Sie ist im Krankenhaus. Warum ist sie im Krankenhaus? Ich spüre, wie mein Körper in sich zusammensinkt. Aber nicht auf eine passive Art und Weise. Stattdessen ziehen sich alle Filter der Vernunft zurück.

  Okay. Atme. Meine Hände sind zu Fäusten geballt. Die rechte immer noch um mein Handy verkrampft. Ist das hier eine rationale Reaktion? Ich weiß es nicht. Atme. Ich höre Jacobs Stimme. Mit zitternden Fingern stecke ich das Handy in meine Hosentasche. Die Finger locker lassen. Atme. Hände ausschütteln. Grund zur Sorge, ja. Das ist erlaubt. Durchdrehen? Nein. Vergewissere dich deines Körpers. Ich lege eine Hand auf meine Brust, die andere auf meinen Bauch. Schließe die Augen. Atme. Der Nebel in meinem Kopf lichtet sich etwas. Obwohl alles zu viel ist. Obwohl selbst die Magnolien auf einmal die Köpfe hängen lassen. Aber das ist nicht rational. Oder war ich gerade eben schon nicht rational? East Hospital. Atme.

  Taxi. Ein Taxi. »Taxi!« Glücklicherweise hält direkt ein Wagen neben mir.

  »Wohin soll’s gehen?«, fragt der Fahrer und schnippt eine Zigarette aus dem Fenster.

  »East Hospital.«

  »Ist was passiert?«

  »Fahr einfach.«

  47

  Amory

  »Okay, okay, okay …« Esmé atmet schnell. »Ich glaube, es kommt wieder eine.« Sie nimmt meine Hand, drückt zu. »Fuuuuuuck!«, keucht sie und verzieht das Gesicht zu einer Grimasse, die Schmerz und Erschöpfung, aber auch Vorfreude ausdrückt. Ein bisschen Angst ist vielleicht auch dabei.

  So schnell, wie sie gekommen ist, verschwindet die Wehe wieder, und für ein paar Minuten kehrt Ruhe ein.

  »Ich sag dir, das wird keine regelmäßige Sache.« Sie sieht mich an und lächelt müde.

  »In den nächsten Stunden bleibt es allerdings eine regelmäßige Sache«, sagt die Schwester, die inzwischen öfter bei uns reinschaut, um zu sehen, wie weit Esmé ist, ob es Zeit ist, sie in den Kreißsaal zu bringen. »Aber Sie machen das toll.«

  Esmé lässt sich zurück in ihr Kissen sinken. »Man hat ja nicht wirklich eine Wahl«, sagt sie. Und als wir wieder zu zweit sind: »Danke, dass du da bist.«

  »Ich würde das hier nicht um alles in der Welt verpassen wollen«, gebe ich zurück und meine es absolut ernst. Völlig egal, was zwischen uns vorgefallen ist, das hier ist bedeutender. Sie bekommt ein Kind. Und ich finde alles daran toll. Und spannend. Und ein bisschen gruselig. Und mit ihr tauschen würde ich in diesem Moment auf keinen Fall. Aber das zeigt mir nur noch mehr, wie wichtig es ist, dass ich dabei bin. Sie nicht alleinlasse.

  »Bist du sicher, dass ich den Vater nicht doch noch anrufen soll?«, frage ich. Seinen Namen hat sie kein einziges Mal erwähnt.

  »Bitte nicht. Für so viel Nutzlosigkeit habe ich heute echt keinen Nerv.«

  Ich muss lachen. »Verständlich.«

  »Ich sage ihm Bescheid, dass sein Sohn auf der Welt ist, wenn ich es hinter mich gebracht habe. Und geschlafen habe. Und einen Namen für den Winzling habe. Und der Kleine seinen College-Abschluss gemacht hat.«

  »Du hast große Pläne für ihn«, sage ich.

  »Hallo? Na klar. Ich lass dich ganz oft babysitten, damit was von deiner Genialität auf ihn abfärbt. Und dann wird er Arzt oder so. Und reich. Nur deswegen lohnt sich dieser ganze … aaaargh … Scheiß!« Wieder drückt sie meine Hand. So fest diesmal, dass ich das Gefühl habe, meine Knochen müssten danach pulverisiert sein. »Du wirst doch babysitten, oder?«, fragt sie, als die Wehe vorbei ist.

  »Natürlich. Und mit Genialität werde ich sicher nicht geizen. Er kann sie komplett haben.«

  Esmé lächelt dankbar. »Das ist gut. Denn wenn ich das allein machen muss, kann es eigentlich nur in die Hose gehen.«

  »Ach, Quatsch. Du wirst das toll machen. Daran habe ich keinen Zweifel.«

  »Danke, dass du das sagst. Aber ich weiß ja selbst, dass ich nicht unbedingt das beste Vorbild bin.« Ein paar winzige Schweißperlen glitzern auf ihrer Stirn. Ihre Wangen sind gerötet.

  »Weißt du«, sage ich, »ich finde, wir sollten uns nicht nur an dem messen, was wir in der Vergangenheit verbockt haben. Das schmälert alles, was noch kommt, irgendwie.«

  Sie nickt. »Amory?«

  »Hm?«

  »Verzeihst du mir?«

  »Hab ich schon«, sage ich und streiche ihr über die langen schwarzen Haare.

  »Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich das verdient habe.«

  »Das hat glücklicherweise die Person zu entscheiden, die verzeiht.«

  »Du bist meine beste Freundin, Amory«, sagt sie. »Danke für alles. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich machen würde. Wahrscheinlich würde ich mich einfach tot stellen.«

  »Ach, du«, sage ich ganz gerührt. »Du würdest das ohne mich genauso hinbekommen.«

  »Aber es wäre nur der halbe Spaß.«

  »Und wie es aussieht, wenn das hier« – ich mache eine den gesamten Raum umfassende Geste – »nur noch halb so viel Spaß ist, will ich mir gar nicht ausmalen.«

  Eine Stunde später entscheidet ein junger Arzt, dass es nun an der Zeit ist.

  »Sind Sie bereit, Mutter zu werden?« Der Arzt lächelt. Es ist inzwischen später Nachmittag.

  »Ich weiß nicht«, erwidert Esmé. »Woher weiß man so was?«

  Doch er zuckt nur mit den Schultern.

  »Na ja, ist schließlich nicht so, als könnte ich jetzt noch zurück.« Sie sieht mich an. »Kommst du mit?« Ihr Blick ist flehend.

  »Ich lasse dich nicht allein«, sage ich und halte ihre Hand, während man sie mitsamt dem Bett in den Kreißsaal bringt.

  Die Wehen kommen nun alle zwei Minuten. Esmé kämpft und schreit und presst und keucht. Schweiß läuft ihr die Schläfen hinunter.

  »Atmen«, sagt die Schwester. »Pressen«, der Arzt. »Du schaffst das«, sage ich in den seltenen Verschnaufpausen. Es ist absolut bewundernswert, mit welcher Entschlossenheit und Stärke sie arbeitet, ackert, dieses Baby auf die Welt bringen will.

  »Ich werd ihm das alles heimzahlen«, presst sie zwischen ihren zusammengebissenen Zähnen hervor. »Kein Taschengeld. Hausarrest. Das ganze Programm.«

  »Und noch mal pressen«, sagt der Arzt, und Esmé tut wie ihr geheißen. Schreit. Zerquetscht meine Hand. Aber es ist egal. Alles ist egal, als die Schwester verkündet: »Ihr Kind kommt.«

  Esmé lac
ht und weint gleichzeitig, während sie Kräfte mobilisiert, die ich noch nie irgendwo gesehen oder erlebt habe.

  Und dann hört man auf einmal ein Kind schreien. Ein neugeborenes Kind, das von einer Sekunde auf die andere plötzlich auf der Welt ist. Esmé schreit, und das Schreien wird zu einem erleichternden Lachen. Tränen vermischen sich mit Schweißperlen.

  »Du hast es geschafft«, rufe ich. »Du hast ein Baby!« Mein Kopf kann nicht klar denken. Das hier ist zu gewaltig. Zu verrückt. Jetzt sind wir einer mehr.

  Der Arzt legt das verschmierte Wesen auf Esmés Brust.

  »Hiiiiii«, macht sie, und wieder kullern ihr Tränen über die Wangen. »Hi, du. Schön, dich kennenzulernen.«

  Esmés Sohn ist das schönste Baby, das ich je gesehen habe. Er ist ein bisschen zerknautscht und sieht aus, als müsste er sich irgendwie erst auffalten. Er ist rot vor Anstrengung, aber wer kann ihm das vorwerfen?

  »Er hat Haare«, sagt Esmé. »Du hast Haare!«

  »Die hat er von dir.« Sie sind dicht und schwarz.

  »Die hast du von mir, hörst du?«

  In meinem ganzen Leben habe ich noch nie einen so friedlichen, so perfekten Moment erlebt. Alles tritt in den Hintergrund, während ich Esmé und ihren Sohn einfach nur ansehe.

  »Wollen Sie die Nabelschnur durchschneiden?«, fragt der Arzt an mich gerichtet, und ich bin für einen Augenblick wie erstarrt.

  »Ich … weiß nicht …« Ich sehe unsicher zu Esmé.

  »Schneiden Sie sie verflucht noch mal selbst durch«, sagt Esmé. Und dann zu ihrem Sohn: »Nimm dir ja kein Beispiel an deiner Mutter, wenn es um eine gepflegte Ausdrucksweise geht. Halte dich an deine Tante Amory.«

  Tante Amory. Mein Herz macht einen Satz.

  »Willst du ihn mal halten?«, fragt Esmé müde, als wir schon eine Weile wieder in ihrem Zimmer sind. Während der letzten halben Stunde haben wir ihn einfach nur angesehen. Seine kleinen Finger untersucht. Beinahe verblüfft festgestellt, dass er Fingernägel hat. Fußnägel. Ohrmuscheln. Wimpern. Alles ist so winzig. Sie legt mir das kleine Menschenbündel in die Arme, und ich weiß, dass ich auf jeden Fall babysitten werde. Ständig. Am liebsten von morgens bis abends.

 

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