Feel Again

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Feel Again Page 20

by Mona Kasten


  Alle Kinder erstarrten gleichzeitig und sahen mich aus vor Schrecken geweiteten Augen an.

  Ich kämpfte mich in eine sitzende Position und starrte zurück. Erst als ich die Unterlippe von dem kleinen Jungen, der in mich gerannt war, zittern sah, wurde mir klar, dass sie Angst vor meiner Reaktion hatten. Also versuchte ich, einen möglichst freundlichen Gesichtsausdruck hinzukriegen. »Alles okay«, sagte ich und wedelte mit meiner freien Hand in ihre Richtung. »Macht weiter.«

  Sie rannten sofort los, wahrscheinlich, um so schnell wie möglich weg von mir zu kommen.

  Nur Ariel lief zu mir. »Kann ich ein paar Bilder sehen?«, fragte sie und deutete auf meine Kamera.

  »Na klar.« Ich kniete mich neben sie, damit wir gemeinsam die letzten paar Fotos durchgehen konnten.

  »Da sind ja gar keine von Zac bei«, sagte sie nach einer Weile.

  »Zac?«, fragte ich verwirrt. Ich war heute so vielen Menschen vorgestellt worden. Da waren Theodore, Peter, John, Chris, Paul und Jeff gewesen … aber Zac?

  Ariel hob beide Augenbrauen.

  Als ich sie nur weiter fragend ansah, schmunzelte sie. »Na, Isaac!«

  »Oh«, machte ich. Ups. Aber Isaac sah für mich einfach überhaupt nicht nach einem Zac aus. Eher wie … ein Isaac eben. Oh Mann, ich stand total neben mir.

  »Also?«, fragte Ariel und sah mich erwartungsvoll an. »Ich dachte, du machst Bilder von ihm, nicht von uns.«

  Ich senkte den Blick auf meine Kamera. Dieses Kind schien einen direkten Draht zu unangenehmen Themen zu haben und genau zu wissen, wie man schmerzhaft in ihnen herumbohrte. Sofort hatte ich Robyns Stimme im Kopf, die mir sagte, dass die Bilder, die ich gemacht hatte, nicht gut genug waren. Dass sie nicht echt wirkten und keine Emotionen in ihr auslösten. Ich hatte Isaac immer noch nichts davon gesagt, und dank seiner Schwester wurde mir gerade bewusst, dass ich es nicht mehr allzu lange würde herauszögern können.

  »Das liegt daran, dass meine halbe Festplatte voll mit Bildern von deinem Bruder ist«, antwortete ich mit einiger Verzögerung.

  »Ha! Also benutzt du sie inzwischen?«, sagte Isaac hinter mir.

  Ich legte den Kopf in den Nacken und sah zu ihm hoch. Wieder hielt er Ivy mit einem Arm an seiner Seite, und es wirkte wie das Normalste der Welt für ihn.

  Es war süß. Und irgendwie auch ziemlich heiß.

  Ich räusperte mich. »Ich mache auch täglich Backups.«

  »Musik in meinen Ohren«, sagte er grinsend.

  Ariel boxte gegen meinen Arm. »Zeig ihm das Bild, das du von mir gemacht hast!« Offensichtlich hatte sie das Grant-Schüchternheitsgen nicht vererbt bekommen.

  Bei dem Gedanken musste ich lächeln. Ich rief das Bild auf – eines der wenigen, die nicht verschwommen waren – und hielt es Isaac entgegen. Er beugte sich über das Display und schirmte mit einer Hand die Sonne ab. Auf dem Bild posierte Ariel wie ein Model und hauchte der Kamera einen Luftkuss zu.

  »Sehr hübsch. Deutlich hübscher als das Bild, das ich dir von ihr gezeigt habe.«

  »Ja, oder? Ich finde, es ist …« Ariels Kopf schoss hoch, und sie starrte ihren Bruder fassungslos an. Dann knurrte sie. »Das ist nicht dein Ernst, Zac!«

  »Was denn?«, fragte er unschuldig.

  Sie kniff die Augen zusammen. »Du hast ihr das Bild geschickt?«

  »Möglicherweise.«

  »Wieso musst du mich bei allen ständig blamieren?«, stöhnte sie verzweifelt.

  »Ich bin der schlimmste Bruder der Welt, ich weiß. Tut mir leid.«

  »Es tut dir überhaupt nicht leid, du Arsch.«

  »Arsch«, meldete sich Ivy zu Wort.

  »Ariel«, zischte Isaac und versuchte, Ivy mit einer Hand beide Ohren zuzuhalten, obwohl es dafür längst zu spät war.

  »Arsch!«, wiederholte diese ein weiteres Mal vergnügt und baumelte mit den Beinen.

  »Das ist deine Schuld!«, sagte Ariel und deutete mit dem Zeigefinger auf ihn.

  Sie machte auf dem Absatz kehrt und stürmte zu ihrer Mutter an den Esstisch.

  Isaac seufzte.

  »Mach dir nichts draus«, sagte ich aufmunternd. »Früher oder später hätte Ivy das mit dem Fluchen sowieso gelernt. Jetzt ist sie eben die erste Zweijährige, die das A-Wort kennt.« Ich erhob mich und strich ein paar Grashalme von meinen Beinen.

  Plötzlich fing Isaac an, zu lachen. Verwundert sah ich ihn an. »Was denn?«

  »Was haben meine Geschwister mit dir angerichtet?«, fragte er und machte einen Schritt auf mich zu. Er fasste in mein Haar und zupfte etwas heraus. »Du hast überall Gras. Und Laub. Du siehst aus wie eine von diesen Jahreszeiten-Feen aus Ariels Heftchen. Eigentlich fehlt nur noch ein Kleid aus Blütenblättern.«

  Ich schüttelte meine Haare und sah, wie ein paar Blätter herausfielen. Ivy quietschte, streckte eine winzige Hand aus und zog dann mit voller Kraft an einer Strähne. Nur im allerletzten Moment konnte ich ein lautes »Fuck!« zurückhalten und biss mir stattdessen fest auf die Lippe.

  »Du tust ihr weh, Ivy. Sei ein bisschen sanfter«, sagte Isaac mit warmer Stimme und löste ihre kleinen Finger vorsichtig. »Guck? So.« Er strich mit seiner Hand über meine Haare. Eine Wohltat nach Ivys Angriff. Er wiederholte die Bewegung, nur kämmte er diesmal mit den Fingern durch meine Haarsträhnen, und seine Fingerspitzen glitten leicht über meine Kopfhaut. Gänsehaut breitete sich auf meinem gesamten Körper aus, und ich stieß gegen meinen Willen ein leises Seufzen aus. Isaac blinzelte mich überrascht an, sagte aber nichts. Stattdessen nahm er Ivys Hand in seine und führte sie in derselben Bewegung über mein Haar.

  »Ei«, machte Ivy.

  »Genau, ei«, stimmte er leise zu.

  Ich schluckte trocken und konnte Isaac nur anstarren.

  Wie er mit seiner Familie umging – es war so berührend und echt. Ich wusste nicht, was mit mir geschah, aber in diesem Moment hätte ich alles getan, damit er nicht aufhörte, mich zu berühren. Ich wollte, dass er weiter über meinen Kopf streichelte, mich fest in den Arm nahm und mit seiner beruhigenden Stimme zu mir sprach.

  Gott, was war bloß los mit mir?

  Ich machte hastig einen Schritt zurück. Als Ivy und Isaac mich erschrocken ansahen, zwang ich ein Lächeln auf meine Lippen und hob demonstrativ die Kamera.

  »Ihr seht so niedlich aus«, erklärte ich atemlos und ein wenig zu schnell.

  Isaac schien mir nichts anzumerken oder war zumindest freundlich genug, mich nicht darauf anzusprechen. Er flüsterte Ivy etwas ins Ohr, das sie zum Kichern brachte. Ihre Locken wippten, und ich drückte den Auslöser. Ich würde die beiden einfach so lange fotografieren, bis das Kribbeln, das sich überall in mir ausgebreitet hatte, verschwunden war.

  KAPITEL 19

  Es verschwand nicht. Nicht, als Isaac mich mit seinem Grandpa über den Hof führte und sie mir mit vor Aufregung leuchtenden Augen ihren neuesten Traktor zeigten. Nicht, als Isaac eines der Pferde aus dem Stall holte und es mir als Moonshine vorstellte und wir es gemeinsam einmal um den Stall führten. Nicht, als wir zu der Feier zurückkehrten und er seine Grandma an sich zog und begann, mit ihr unter leuchtenden Lampions auf dem Rasen zu tanzen.

  Als Isaac mir an jenem Abend in Woodshill gesagt hatte, dass er nicht gerne tanzte, hatte ich geglaubt, dass er einfach verklemmt war, hatte ihn genauso in eine Schublade gesteckt, wie alle es mit mir machten. Aber jetzt, wo ich ihn besser kannte und ihn hier erlebt hatte, sah ich ihn mit völlig anderen Augen. Er war lustig, loyal, liebevoll, kümmerte sich rührend um seine Geschwister, die allesamt verrückt nach ihm waren, und schaffte es, nur mit ein paar Worten ein Lächeln auf die Gesichter von all diesen Leuten zu zaubern – meines eingeschlossen. Ich wusste, dass ihn die Sache mit seinen Eltern belastete, und wenn man ihn ganz genau beobachtete, bemerkte man ab und zu, wie sein Blick wie automatisch zu seinem Vater oder seiner Mutter wanderte und er für einen kurzen Moment sein Lachen verlor und nur noch traurig aussah. Doch es brauchte nur einen Wimpernschlag, und der Ausdruck war verschwunden. Aber ich hatte ihn gesehen, u
nd ich bewunderte Isaac, dass er seine fröhliche Fassade konsequent aufrechterhielt, trotzdem liebevoll und ungezwungen mit seinen Geschwistern und seinen Großeltern umging, obwohl er so tief verletzt worden war.

  Isaac Theodore Grant war viel mehr, als ich gedacht hatte.

  So wollte ich ihn auf den Bildern zeigen. Dieses Gefühl von Unbeschwertheit, Zugehörigkeit und Liebe, das er hier versprühte, aber auch den Schmerz und die Traurigkeit in seinen Augen wollte ich dokumentieren.

  Es ging dabei gar nicht um sein Äußeres oder ob er einen verführerischen Blick beherrschte oder nicht, sondern um das, was tief in ihm drin war und ihn zu dem Menschen machte, der er war. Ob er eine Fliege trug oder eine Lederjacke – es war vollkommen egal. Wie oberflächlich ich gewesen war.

  Ich war das Ganze völlig falsch angegangen. Wieso hatte ich das nicht viel früher erkannt?

  Plötzlich zupfte jemand am Saum meines Hemds und holte mich so in die Gegenwart zurück. Ich sah nach unten. Ivy stand vor mir und streckte fordernd die Arme aus.

  Ich starrte sie an.

  Sie starrte zurück.

  Als ich nicht reagierte, schob sie die Unterlippe vor.

  Wollte sie etwa …? Oh Gott, sie wollte hochgehoben werden. Von mir.

  Hilfesuchend sah ich mich nach allen Seiten um, aber Isaac führte noch immer seine Großmutter über die Tanzfläche, und Theodore war in ein Gespräch mit einer jungen Frau und einem Mann verwickelt, die ich noch nicht kannte.

  Ivys Lippe fing an zu beben. Oh Gott, sie würde jeden Moment losheulen.

  Ich schluckte schwer, dann beugte ich mich zu ihr, griff mit den Händen unter ihre kleinen Arme und hob sie hoch. Ich setzte sie seitlich auf meine Hüfte, so, wie ich es zuvor bei Isaac gesehen hatte, und hoffte, dass ich ihr dabei nicht wehtat.

  Sofort schlang Ivy die Arme um meinen Hals und schmiegte ihr Gesicht an meine Halsbeuge.

  »Ei«, sagte sie und patschte mit ihrer Mini-Hand gegen meinen Kopf.

  Eine merkwürdige Wärme machte sich in meinem Brustkorb breit.

  Ich verfestigte meinen Griff. Obwohl sie so winzig war, fühlte sie sich warm und fest an und gab mir ein ungewohntes Gefühl von Geborgenheit. Ich wiegte meinen Körper hin und her, so lange, bis sich Ivys Griff um meinen Hals lockerte und ich plötzlich ein leises Schnarchen von ihr hörte.

  Genau so hatte ich früher auch in den Armen meines Dads gelegen. Voller Vertrauen. Voller Liebe.

  Das Kribbeln, das sich schon den ganzen Tag in mir ausgebreitet hatte, wurde immer stärker, ebenso die Wärme in meinem Brustkorb, die sich plötzlich zu heiß und nach viel zu viel anfühlte. Ich war völlig hilflos und konnte es nicht verhindern, dass die Emotionen in mir überhandnahmen.

  Erst als sich ein salziger Geschmack in meinem Mund ausbreitete, merkte ich, dass ich weinte.

  Ich musste so schnell wie möglich weg von hier.

  Ich stolperte blindlings auf Theodore zu, der inzwischen wieder am Gartentisch saß. Er lächelte, als er mich entdeckte, allerdings verblasste das Lächeln, als er mein Gesicht sah. Er stellte keine Fragen, sondern erhob sich und nahm mir Ivy ab. Ich spürte die neugierigen Blicke des Paars auf mir, das bei ihm saß, aber ich drehte mich, ohne ein Wort zu sagen, um und rannte über den Garten ins Haus. Ich wollte nicht, dass mich jemand so sah – vor allem nicht Isaac.

  Ich lief durch das Wohnzimmer, direkt in die Arme von Isaacs Mutter, die mich erschrocken ansah.

  »Sawyer«, sagte sie – nach »Guten Tag« das erste Wort, das sie am heutigen Tag mit mir wechselte. Wie Isaacs Vater auch, hatte sie sich konsequent von Isaac und mir ferngehalten. Ich hätte nicht gedacht, dass sie überhaupt meinen Namen kannte. Ich hatte ihren vergessen. »Ist alles in Ordnung?«

  »Ich …« Ich schüttelte den Kopf. »Ich muss nur kurz …«

  Der erschrockene Ausdruck auf ihrem Gesicht wich Besorgnis. »Komm«, sagte sie sanft und griff nach meinem Arm. Sie führte mich über den Flur und durch eine Tür in ein kleines Gästezimmer.

  »Soll ich Isaac holen?«, fragte sie.

  »Nein«, sagte ich. »Bitte nicht.«

  Sie nickte. »Ich bin im Wohnzimmer, wenn du mich brauchst.« Dann drehte sie sich um und schloss die Tür hinter sich.

  Von draußen schien das Licht der Lampions durch das Fenster und warf einen schmalen gelbroten Streifen auf den Boden. Ich setzte mich auf das Einzelbett und sackte in mich zusammen. Die Tränen liefen weiter über mein Gesicht, und auch als ich beide Handballen fest auf meine Augenlider presste, hörte es nicht auf. Ich weinte und weinte und weinte, als hätte Ivy eine Schleuse geöffnet, die ich jetzt nicht mehr schließen konnte.

  Diese Familie hatte heute etwas in mir verändert. Ivys bedingungsloses Vertrauen, als sie auf meinem Arm eingeschlafen war. Theodores vorbehaltlose Freundlichkeit mir gegenüber, obwohl ich anders aussah und mich anders verhielt als alle anderen Menschen, die auf seine Geburtstagsfeier gekommen waren. Und Isaac …

  Isaac, der seinen Geschwistern zeigte, was Zärtlichkeit war und was Familie bedeutete. Der, obwohl seine Eltern ihn so ungerecht behandelten, diesem Hof nicht den Rücken gekehrt hatte, sondern seinen Stolz hinten anstellte und weiter unterstützte, wo er gebraucht wurde. Isaac, der … der in mir den Wunsch weckte, mich zu verändern. Ich wollte nicht länger in der Vergangenheit festhängen, am Tod meiner Eltern und an Melissas fiesen Beschimpfungen, wollte nicht länger denken, dass es okay war, vollkommen allein zu sein und sich auf niemanden einzulassen.

  Ich war so blind gewesen. Nicht Isaac war derjenige, der sich verändern musste. Er war gut so, wie er war. Ich war diejenige, die ein Makeover brauchte.

  Es dauerte keine fünf Minuten, bis Isaac sich durch die Tür des Gästezimmers schob. Ich wusste, ohne hinsehen zu müssen, dass er es war. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, ließ ich meine Hände, wo sie waren. Ich wollte nicht, dass er mich so sah. Ich wollte mich ja selbst nicht einmal so sehen.

  »Sawyer«, raunte er. Mehr nicht. Nur meinen Namen, und das ließ mich noch heftiger weinen, weil niemand meinen Namen jemals so ausgesprochen hatte wie Isaac.

  Ich hörte, wie er die Tür leise schloss und den Raum in wenigen Schritten durchquerte. Dann war er bei mir und umfing mich mit seinen Armen. Er fühlte sich warm und fest an und so, als könnte er alles, was in mir aufgewirbelt worden war, zusammenhalten. Ich klammerte mich an ihm fest und vergrub mein Gesicht an seiner Brust, und auch wenn ich mir wünschte, er würde mich nicht so verletzlich sehen, war der Wunsch, ihn nie wieder loszulassen, viel größer.

  Irgendwann sank Isaac mit mir im Arm nach hinten und lehnte sich gegen das Rückteil vom Bett. Er hielt mich weiterhin fest, legte die Hand um meinen Hinterkopf, berührte mich sanft und beruhigend, strich in Kreisen über meinen Rücken. Er machte Geräusche, leise, brummende Laute, als würde er ein kleines Kind trösten wollen, das sich die Knie aufgeschlagen hatte. Und es half.

  Ich verlor jegliches Zeitgefühl, hatte keine Ahnung, wie lange wir so dasaßen. Isaac ließ mich zu keiner Sekunde los. Auch nicht, als mein Körper nicht mehr von stummen Schluchzern erschüttert wurde.

  Irgendwann löste ich meine Finger von seinem Shirt. Ich hatte sie so fest in den Stoff gekrallt, dass meine Gelenke schmerzten. Ich öffnete meine Hand ein paarmal und schloss sie wieder, dann legte ich sie flach auf seine Brust. Sie hob und senkte sich gleichmäßig unter meinen Fingern. Es war tröstlich, fast schon hypnotisierend.

  Wenig später legte Isaac seine Hand an meinen Kopf und zupfte sanft an einer Haarsträhne. Ich folgte seiner stummen Aufforderung und sah ihn an. Ein Lichtstrahl fiel aufs Bett und tauchte einen Teil seines Gesichts in einen warmen Schein. Seine Augen wirkten mehr grün als braun.

  »Ich würde dich gerne fragen, ob alles okay ist«, fing er leise an. »Aber ich habe das Gefühl, dass das eine ziemlich bescheuerte Frage wäre.« Er sah mich eindringlich an. »Was ist los, Sawyer?«

  Ich ließ meinen Blick langsam über sein Gesicht wandern. Es war mir inzwischen so vertraut. Außer Riley hatte ich noch nie in
meinem Leben jemanden so gut gekannt.

  »Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal geweint habe«, sagte ich schließlich mit heiserer Stimme.

  »Dann wurde es aber auch mal wieder Zeit«, lautete seine prompte Antwort.

  »Wann hast du das letzte Mal geweint?«, entgegnete ich.

  Er musste nicht lange nachdenken. »Als Eliza ausgezogen ist.«

  Ich streichelte über seinen Brustkorb. »Ist sie eigentlich inzwischen hier?«

  Er schüttelte den Kopf. »Ihr Flug wurde gestrichen. Sie kommt nicht mehr.«

  Ich fluchte.

  Isaac lächelte. »Ja, finde ich auch. Aber darum geht es hier gerade gar nicht. Du bist wirklich ziemlich talentiert im Ablenken.«

  Dabei hatte ich das noch nicht einmal mit Absicht gemacht. Es war ein Automatismus: Sobald die Sprache auf mich kam, lenkte ich ab. Das war noch nie jemandem aufgefallen – mit Ausnahme von Isaac.

  »Du musst mir nichts erzählen, wenn du nicht willst. Aber … ich habe das Gefühl, dass du sonst auch mit niemandem redest. Und das ist nicht gut«, fuhr er nach einem Moment fort.

  »Ich weiß«, flüsterte ich.

  Ich umschloss Moms Medaillon mit einer Hand, ohne den Blick von Isaac zu nehmen.

  Vielleicht wurde es Zeit, dass ich mich jemandem anvertraute. Und wenn nicht Isaac, wem dann?

  Er war der Erste, der versucht hatte, hinter meine sorgfältig errichteten Mauern zu blicken, der Erste, der sich für die Person interessierte, die sich dahinter verbarg. Er sah mir an der Nasenspitze an, wenn es mir nicht gut ging und ich eine Umarmung brauchte. Er war mir in dieses Zimmer gefolgt, und er gab mir das Gefühl, dass er mich niemals im Stich lassen würde, sollte es drauf ankommen. Wem, wenn nicht Isaac?

  Ich atmete tief ein. Es fiel mir schwer, die richtigen Worte zu finden.

  »Deine Familie … ist so lieb.«

  »Versuchst du schon wieder, abzulenken?«, fragte Isaac leise.

  Sofort schüttelte ich den Kopf. »Nein. Es ist nur … Ich kenne das nicht. Alle Leute, denen ich heute begegnet bin, waren so freundlich zu mir. Als wäre ich nicht zum ersten Mal hier, sondern würde seit Ewigkeiten dazugehören. Deine Großeltern, deine Geschwister, deine Tante Trudy … alle. Und man merkt, wie ihr alle zusammenhaltet. Ihr seid eine richtige Familie. Selbst deine Eltern … Ich weiß, dass es zwischen euch schwierig ist, aber wenn es hart auf hart kommt … Ich weiß nicht. Irgendwann musste ich plötzlich an meine eigene Familie denken, und dann … bin ich hier gelandet. Und sah so aus«, erklärte ich und deutete auf mein feuchtes Gesicht.

 

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