Feel Again

Home > Other > Feel Again > Page 21
Feel Again Page 21

by Mona Kasten


  Isaac strich in sanften Bewegungen über meinen Rücken. Der Ausdruck in seinen Augen war nachdenklich und ernst. »Von deiner Schwester hast du mir schon erzählt. Was ist mit dem Rest deiner Familie?«

  »Den gibt es nicht mehr«, flüsterte ich. Keine Lüge. Riley war die einzige Person auf der Welt, die ich als Familie bezeichnen würde. Melissa hatte dieses Privileg vor langer Zeit verspielt, und andere Onkel oder Tanten hatte ich nicht. Auch meine Großeltern lebten nicht mehr. Riley und ich waren die Überbleibsel einer Tragödie.

  Immer wieder fuhr Isaac mit seiner warmen Hand über meinen Rücken. Ganz langsam, auf und ab. »Was ist mit deinen Eltern?«, fragte er vorsichtig.

  Ich schluckte schwer. Diesen Teil der Geschichte hatte ich noch nie jemandem anvertraut. Ich hatte noch kein einziges Mal laut ausgesprochen, was damals geschehen war. Mir wurde fast ein bisschen schwindelig bei dem Gedanken, es endlich zu tun. »Als ich neun war, ist mein Dad an Krebs gestorben«, flüsterte ich.

  »Das tut mir so leid, Sawyer«, murmelte Isaac. »Krebs ist scheiße.«

  »Ja«, stimmte ich krächzend zu und senkte den Blick, weil ich ihn bei meinen nächsten Worten auf gar keinen Fall ansehen konnte. »Und dann hat sich … meine Mom kurz darauf umgebracht. Das war … auch echt scheiße.«

  Isaac erstarrte.

  »Was?« Seine Stimme war so leise, dass ich ihn fast nicht gehört hätte, und doch war sie das Einzige, das mich im Hier und Jetzt hielt, als die Erinnerungen – die schrecklichen, grausamen Bilder, die ich niemals würde vergessen können – über mich hereinzubrechen drohten.

  »Sie hat sich die Pulsadern aufgeschlitzt«, brachte ich hervor.

  Isaac war vollkommen still neben mir. Ich war mir ziemlich sicher, dass er sogar aufgehört hatte, zu atmen.

  Ich spürte, dass mich jeden Moment der Mut verlassen würde. Aber ich wollte Isaac nicht nur einen Teil erzählen. Er hatte es verdient, alles zu erfahren. Die ganze schreckliche Geschichte.

  »Ich habe sie gefunden.« In meinen Ohren hörten sich die Worte an, als hätte sie jemand anders ausgesprochen. »Sie lag in unserer Badewanne. Ihr Arm lag auf dem Rand. Überall war Blut und …« Meine Stimme versagte in dem Moment, als Isaac mich auf sich zog. Er schlang beide Arme um mich, und ich konnte spüren, wie sie bebten. Es tat gut, festgehalten zu werden. Die Tränen liefen mir übers Gesicht und tropften auf Isaacs Shirt und den Ansatz seines Schlüsselbeins. Er drückte mich an sich, und obwohl ich so schon kaum Luft bekam, schlang ich die Arme noch fester um seinen Hals. Vermutlich würden wir einander ersticken, bevor der Abend vorbei war, aber das war egal. Das Einzige, das zählte, war, dass sich dieser Druck in meinem Inneren, diese eisige Kralle, die sich damals um mein Herz gelegt und seitdem nicht mehr lockergelassen hatte, zum ersten Mal etwas weniger geworden war. Wie ein Knoten, der zwar noch da war, mich aber nicht mehr erstickte.

  Hätte ich gewusst, dass es sich so anfühlen konnte, sich jemandem anzuvertrauen, hätte ich es vielleicht schon früher getan.

  »Willst du sie sehen?«, flüsterte ich nach einer Weile.

  »Ja, bitte«, sagte Isaac mit rauer Stimme. Ich löste die Arme von seinem Hals und griff nach meiner Kette, um sie mir über den Kopf zu ziehen. Mit einem leisen Klicken öffnete ich das goldene Medaillon. Im Inneren waren zwei Bilder. Eines mit meinen Eltern und eines von Riley und mir, auf dem wir noch ganz klein waren.

  »Das sind meine Eltern«, sagte ich und reichte Isaac die Kette.

  Er nahm sie vorsichtig entgegen und betrachtete die Bilder eingehend. Er lächelte sanft. »Du siehst aus wie deine Mom.«

  Ich versuchte, sein Lächeln zu erwidern, aber es gelang mir nicht. Mein Herz schlug wie verrückt und meine Hände waren kalt und feucht. Ich konnte nicht glauben, dass ich Isaac tatsächlich das Medaillon – meinen wertvollsten und liebsten Besitz – halten ließ.

  Isaacs Blick ging von der rechten Seite zur linken. Er drehte das Bild zu mir. »Wie alt wart ihr da?«

  Ich musste mich räuspern, bevor ich antworten konnte. »Auf dem Foto war ich fünf. Riley acht.«

  Er nickte nachdenklich und schloss das Medaillon. Er betrachtete die verschnörkelten Ränder, dann drehte er es um und strich mit den Fingern über die eingravierten Initialen meiner Mom.

  »E. D.?«, fragte er.

  »Erin Dixon. Das Medaillon hat meiner Mom gehört.« Ich räusperte mich. »Mein zweiter Vorname ist Erin. Das … weiß niemand. Ich spreche nicht darüber.«

  Isaacs Blick war undurchdringlich, als er sich ein Stück vorbeugte, um mir die Kette wieder über den Kopf zu streifen. »Es tut mir leid, Sawyer. So sehr«, wisperte er. »Ich hatte ja keine Ahnung.«

  »Es braucht dir nicht leidtun.«

  Isaac strich mit seinen Fingerknöcheln über meine Wange. Erst jetzt merkte ich, dass sie immer noch nass war und er gerade meine Tränen wegwischte.

  »Auch wenn du das nicht hören willst, tut es mir leid. Für dich. Für deine Schwester. Kein Kind sollte so etwas durchmachen müssen«, sagte er mit fester Stimme. »Wenn ich mir vorstelle, dass Ariel das …«

  Ich sah Ariels Gesicht mit den großen, unschuldigen Augen vor mir. Ich war bloß ein Jahr älter gewesen als sie, als ich meine Eltern verloren hatte. Als ich bemerkt hatte, dass Wasser unter unserer Badezimmertür hindurchgelaufen war. Als ich ins Bad gestürzt und auf den Fliesen ausgerutscht war. Als ich die blutverschmierte Hand über dem Wannenrand gesehen hatte und langsam, ganz langsam auf allen vieren auf sie zugerutscht war.

  »Ich wünschte, ich könnte ungeschehen machen, dass dir das widerfahren ist«, sagte Isaac leise. Seine Finger waren noch immer an meiner Wange.

  Ich presste meine Lippen fest zusammen. Ich fühlte mich zittrig und schwach, gleichzeitig aber auch seltsam behütet. Zum ersten Mal gab es jemanden, an dem ich mich anlehnen konnte. Der mir ein Teil meiner Last abnehmen konnte. Und wollte.

  »Was ist danach passiert? Wo sind Riley und du aufgewachsen?«, fragte er, ohne die Hände von meinen Wangen zu nehmen. Er hielt mich in seinem Blick gefangen, und ich konnte nicht wegsehen.

  »Nach dem Tod unserer Eltern sind wir zu meiner Tante Melissa gekommen, unsere einzige lebende Verwandte. Sie und Mom haben sich irgendwann in ihrer Jugend zerstritten und seither gehasst. Melissa wollte uns nicht, was sie uns jede Minute, die wir in ihrer Gegenwart verbringen mussten, auch spüren ließ. Mit Riley ist sie verhältnismäßig normal umgegangen, wahrscheinlich weil sie älter war als ich und sich von Anfang an besser wehren konnte. An mir hat sie vom ersten Moment an ihren ganzen Frust und ihre ganze Wut ausgelassen. Sie hat mir das Leben zur Hölle gemacht, ohne dass ich jemals wusste, was ich falsch gemacht hatte.« Ich zuckte mit den Schultern »Vielleicht war es, weil ich aussehe wie meine Mom.«

  Zwischen Isaacs Brauen hatte sich eine tiefe Falte gebildet. »Hat sie dich geschlagen?«

  »Nicht oft«, sagte ich sofort. »Aber das meinte ich auch gar nicht.«

  Isaacs Mund öffnete sich, sein Blick fassungslos. »Was denn dann?«

  Ich schluckte trocken. Am liebsten wäre ich von seinem Schoß gerutscht und hätte ein bisschen Abstand zwischen uns gebracht, aber der Arm, den er um mich gelegt hatte, ließ nicht zu, dass ich mich auch nur einen Millimeter von ihm wegbewegte.

  Ich versuchte seit meinem sechzehnten Lebensjahr, seit Riley und ich unsere Sachen gepackt und aus Melissas Haus verschwunden waren, keinen Gedanken an diese hasserfüllte, verbitterte Frau zu verschwenden. Riley hatte mir beigebracht, nie zurückzublicken, sondern nur nach vorne. Und auch wenn ich das stets getan hatte, merkte ich in diesem Moment, dass es guttat, den dunklen Schleier, den Melissa über meine Kindheit und meine Jugend gehängt hatte, mit Isaacs Hilfe wenigstens ein Stück weit zu lüften.

  »Sie hat uns täglich deutlich gemacht, was für eine riesige Enttäuschung wir waren. Dass wir nur bei ihr wohnen dürften, weil sie dazu verpflichtet war und uns sonst niemand wollte. Dass es kein Wunder war, dass unsere Mom nicht hatte bei uns bleiben wollen.«

  Isaacs Finger wanderten von meiner Wange
über meinen Hals zu meiner Schulter und wieder zurück. »Du warst neun Jahre alt. Neun«, knurrte er, die Wut in seiner Stimme ein krasser Kontrast zu seinen sanften Berührungen.

  »Je älter ich wurde, desto schlimmer wurde es. Riley ist irgendwann nur noch selten nach Hause gekommen. Sie war ja drei Jahre älter als ich und hat sich in Bars und Clubs eingeschlichen. Ich war dafür noch zu jung. Freunde hatte ich auch keine, weil meine Mitschüler nicht mit mir spielen durften. Erst war ich das Mädchen mit den verrückten Eltern gewesen, dann das Waisenmädchen, das bestimmt einen Knacks weghatte. Also blieb mir nichts anderes übrig, als nach Hause zu gehen. Glücklicherweise hat Melissa tagsüber gearbeitet. Aber wenn sie heimkam, war es, als hätte sie den ganzen Tag nur darauf gewartet, mich fertigzumachen. Nichts an mir hat ihr gepasst. Einen Tag war ich zu dick, den anderen zu dünn. Meine Klamotten waren zu prüde, dann zu freizügig. Meine Noten schlecht oder Beweis dafür, dass ich ein furchtbarer Streber war. Wenn man zehn Jahre alt ist, sehnt man sich nach Lob. Und Zuneigung. Einer Umarmung. Aber irgendwann hab ich aufgehört zu versuchen, es ihr recht zu machen. Und als ich älter wurde und in die Pubertät kam, da war ich plötzlich nur noch eins: genau wie meine Mutter. Eine genauso große Versagerin, die es zu nichts im Leben bringen würde.«

  »Verdammt«, murmelte er kopfschüttelnd.

  »Ich habe ihre Worte heute noch im Ohr … Du siehst furchtbar aus, ziehst dich an wie eine billige Schlampe, du siehst aus wie deine Mutter, keiner wird dich jemals ernst nehmen, du bekommst niemals etwas auf die Reihe, du dreckiges Stück …«

  »Hör auf.« Isaacs Stimme war plötzlich eiskalt, die Muskeln in seinem Kiefer zum Zerreißen angespannt. »Ich kann das nicht hören«, sagte er leise. »Ich kann das echt nicht hören.«

  Ich wandte den Blick ab. »Tut mir leid«, flüsterte ich

  »Wieso zum Teufel entschuldigst du dich jetzt?«

  »Weil du wütend bist und ich dir die Party deines Grandpas mit meiner deprimierenden Lebensgeschichte total versaue«, antwortete ich. »Weißt du was? Wir sollten wieder rausgehen. Deine Eltern fragen sich bestimmt, wo du bleibst. Nicht, dass sie denken, ich würde es mit dir im Gästezimmer treiben.«

  Ich machte Anstalten, mich zu erheben, kam aber nicht weit. Isaac hielt mich mit einer Hand an der Hüfte fest, die andere umfasste mein Kinn. Er neigte meinen Kopf nach hinten und zwang mich so, ihn anzusehen. Sein Blick allein genügte, um mir einen Schauer über den Körper zu jagen.

  »Erstens bin ich nicht wütend. Das heißt, ich bin unfassbar wütend. Aber doch nicht auf dich«, erklärte er. »Sondern auf diese schreckliche Frau, die dir deine Kindheit versaut hat. Ich habe nie verstanden, wieso dir egal ist, was andere über dich sagen – jetzt schon, und ich ertrage den Gedanken nicht.«

  »Wie meinst du das?«, flüsterte ich.

  Er atmete tief ein. Mit dem Daumen zeichnete er eine Linie entlang meines Wangenknochens, weiter nach hinten, bis er mit seinen Fingern durch mein Haar kämmte und sie dann ganz darin vergrub. »Die letzten beiden Monate waren die besten meines Lebens, und das habe ich nur dir zu verdanken«, sagte er, ohne den Blick von mir zu nehmen.

  Es dauerte einen Moment, bis die Bedeutung seiner Worte zu mir durchdrang. Mein Magen machte einen Satz.

  »Ich habe noch nie jemanden getroffen, der ein so großes Herz hat wie du«, fuhr er ungerührt fort. »Auch wenn du immer so tust, als wär dir alles egal – das stimmt nicht. Seit dem Abend im Hillhouse hast du mich immer wieder dazu animiert, an meine Grenzen zu gehen. Ich habe das wirklich gebraucht. Und selbst als wir uns noch so gut wie nicht kannten, hast du dich für mich eingesetzt. Ich kann nie verstehen, wie die Leute so blind und dumm sein können und nicht erkennen, was für ein wundervoller Mensch du bist.«

  Seine Worte klangen schöner als jeder meiner Lieblingssongs.

  »Meinst du das ernst?«, flüsterte ich.

  Er nickte. »Du bist der stärkste Mensch, der mir jemals begegnet ist«, antwortete er genauso leise.

  Ich starrte ihn an, sprachlos.

  Und dann tat ich das Einzige, was mir in diesem Moment den Sinn kam.

  Ich schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn.

  Isaac gab einen überraschten Laut von sich, ein tiefes Geräusch aus seiner Brust, das ich an meiner eigenen spüren konnte, und als hätten wir seit Wochen nichts anderes getan, erwiderte er den Kuss. Ich fuhr mit den Fingern an seinem Nacken hoch und vergrub sie in seinem Haar. Es war so weich, sein Körper dagegen so hart an meinem, und …

  … im nächsten Moment zog Isaac sich von mir zurück. »Keine gute Idee.«

  Es fühlte sich an, als hätte meine Welt gerade eine Vollbremsung hingelegt. Schwer atmend sah ich ihn an.

  Isaac ließ sich mit gequältem Gesichtsausdruck gegen das Kopfteil des Bettes sinken.

  Oh Gott. Er wollte mich nicht. Natürlich wollte er mich nicht. Wir hatten wochenlang damit verbracht, ihn für ein Date mit einem Mädchen vorzubereiten, und dieses Mädchen war mit Sicherheit nicht ich, sondern jemand wie Dawns Stiefschwester, Everly. Ich hatte es vorgestern Abend mit eigenen Augen gesehen. Ich schlug die Hand vor den Mund. »Tut mir leid.«

  »Hast du dich gerade ernsthaft dafür entschuldigt, dass du mich geküsst hast?«, fragte er und klang dabei genauso atemlos, wie ich mich fühlte.

  »Ähm … ja.«

  Im nächsten Moment beugte er sich vor und schob eine zittrige Hand in mein Haar. Er strich mit seinen Lippen über meine, eine ganz sanfte Berührung. Er tat es ein zweites Mal, und ich schloss die Augen. Beim dritten Mal verstärkte er den Druck, und ich seufzte leise. Dieser Kuss fühlte sich besser an. Weniger hektisch und weniger impulsiv. Einfach wunderschön.

  Isaac küsste meine Mundwinkel, zog eine Spur an meinem Kiefer entlang, bis er bei meinem Hals ankam und seine Lippen auf meinen Puls presste. Dort verharrte er. Seine Atemzüge waren bemüht ruhig, aber als ich mich leicht bewegte, konnte ich fühlen, was meine Nähe mit ihm machte.

  »Echt keine gute Idee«, wiederholte er mit rauer Stimme.

  »Wieso nicht?«

  Er lehnte sich ein Stück zurück und sah mich mit verhangenem Blick an.

  »Wenn du das Bedürfnis hast, mich zu küssen, dann nicht, weil du nicht weißt, wie du dich sonst bei mir bedanken sollst, sondern weil du nicht anders kannst«, raunte er.

  »Isaac …«

  Er schüttelte den Kopf. »Ist schon okay. Wenn es jemals so weit sein sollte, sag einfach Bescheid.«

  KAPITEL 20

  Ein lautes Kreischen riss mich aus dem Schlaf. Es dauerte eine Minute, bis ich erkannte, dass es vergnügter Natur war und niemand im Begriff war, abgeschlachtet zu werden. Dann quiekte jemand, und ausgelassenes Lachen folgte. Zwischendrin konnte ich die sanften Klänge eines Klaviers hören.

  Ich setzte mich auf und sah mich um. Helle Sonnenstrahlen fielen durch den Spalt des Vorhangs. Mittlerweile musste es später Morgen sein. Isaac war nicht mehr da. Das einzige Zeichen, dass er über Nacht bei mir geblieben war, war die Brille, die auf dem Nachttisch lag. Ein merkwürdiges dumpfes Pochen machte sich in meiner Brust breit. Ich nahm die Brille und befestigte sie mit dem Bügel vorsichtig an der Brusttasche meines Hemds. Dann stand ich mit wackeligen Beinen auf und verließ das Gästezimmer.

  Levi stürmte kreischend an mir vorbei durch den Flur. Gleich darauf folgte Ariel, die mich im Vorbeirennen angrinste. Während die beiden offensichtlich putzmunter waren, fühlte ich mich, als wäre ich bei Nacht von einem Lastwagen überrollt worden. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich auch so aussah.

  Glücklicherweise befand sich gegenüber vom Gästezimmer ein Bad, in das ich mich kurz zurückziehen konnte. Ich wusch mein Gesicht ausgiebig mit kaltem Wasser und schrubbte mit der Ecke eines Handtuchs die Mascara- und Kajalreste von meinen Wangen. Dann putzte ich meine Zähne notdürftig mit einem Finger und der Zahnpasta, die ich im Spiegelschrank über dem Waschbecken fand. Anschließend flocht ich meine Haare zu einem Zopf.

  Ich betrachtete mich im Spiegel. Mein Gesicht war blass und mei
ne Augen vom Weinen rot und verquollen, aber wenigstens sah ich jetzt wieder halbwegs wie ein Mensch aus. Ich holte tief Luft, um mich für das peinliche Aufeinandertreffen, das mir bevorstand, zu wappnen. Dann ging ich zum Wohnzimmer. Je näher ich kam, desto lauter wurde die Klaviermusik. Aber erst, als ich den lichtdurchfluteten Raum betrat, realisierte ich, dass sie nicht aus einer Anlage stammte.

  Isaac saß mit Ivy am Klavier. Er spielte eine fröhliche, schnelle Melodie, wurde allerdings zwischendrin immer wieder von Ivy unterbrochen, die ihre kleinen Hände in die Mitte der Klaviatur schlug und vergnügt quietschte, wenn die Tasten alle auf einmal erklangen.

  Ich lehnte mich gegen den Türrahmen und beobachtete, wie seine Schultern vor Lachen bebten. Er begann das Lied von vorne, aber nach einer halben Minute patschte Ivy wieder zwischen seine Finger. Sie gab ein paar gelispelte Worte von sich, was Isaac lauter lachen ließ und mich wiederum dazu brachte zu grinsen. Nach letzter Nacht hätte ich nicht gedacht, dass mir das so schnell wieder gelingen würde.

  So leise wie möglich holte ich meine Kamera aus meiner Handtasche und machte ein Foto. In genau diesem Moment stellte sich jemand neben mich. Mein Kopf schoss zur Seite, und ich ließ die Kamera ertappt sinken.

  Das Mädchen war gestern nicht auf der Feier gewesen, dessen war ich mir sicher. Mir wäre aufgefallen, wenn jemand dort herumgelaufen wäre, der beinahe exakt wie die weibliche Version von Isaac aussah: dasselbe Gesicht, dieselben schönen Wangenknochen, dieselbe nicht genau definierbare Augenfarbe, dieselbe starke Kieferpartie. Nur ihre Haare waren anders – lang und glatt und dunkelbraun.

 

‹ Prev