Exodus
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Er war damals Major, als er Marina begegnete, der Eurasierin mit dem olivfarbenen Teint. Dieser Frau, die geschaffen war für die Liebe. Jeder Mann trug tief in seinem Innersten verborgen das Bild einer Marina, doch seine Marina war aus Fleisch und Blut, war Lachen und Weinen, Glut und Leidenschaft, war Wirklichkeit. Mit Marina zusammen zu sein, war wie auf einem kochenden Vulkan zu leben, der jeden Augenblick ausbrechen konnte. Sie brachte ihn um den Verstand, er war verrückt nach ihr. Er machte ihr vor Eifersucht wütende Szenen, um sie im nächsten Augenblick, den Tränen nahe, um Verzeihung zu bitten. Marina — Marina. Die dunklen Augen und das rabenschwarze Haar. Sie konnte ihn quälen, konnte ihn entzücken. Mit ihr, durch sie erlebte er Höhen, von deren Existenz er bis dahin überhaupt nichts gewußt hatte. Bruce Sutherland erinnerte sich, was für ein fassungsloses und tief gekränktes Gesicht Neddie gemacht hatte, als sie ihm eröffnete, daß sie alles wußte.
»Es ist nicht so, daß mich diese Sache etwa nicht tief verletzt hätte«, hatte Neddie gesagt, zu stolz, um zu weinen, »doch ich bin bereit, zu vergeben und zu vergessen. Wir müssen schließlich an die Kinder denken, an deine Karriere — und an unsere Familien. Ich will versuchen, eine Form zu finden, irgendwie weiter mit dir zu leben, Bruce, doch du mußt mir schwören, daß du diese Person nie wieder siehst und daß du ein Gesuch um sofortige Versetzung von Singapur einreichst.«
Diese Person, wie du sie nennst, hatte Bruce gedacht, ist die Frau, die ich liebe. Sie hat mir etwas gegeben, was weder du noch tausend andere Neddies mir jemals geben könnten. Sie hat mir gegeben, was zu erhoffen kein Mann auf dieser Erde ein Recht hat.
»Ich möchte deine Antwort hören, Bruce.«
Antwort? Wie konnte die Antwort schon ausfallen. Sollte er etwa einem eurasischen Mädchen seine Karriere opfern? Dem Namen Sutherland Schande machen?
»Ich werde sie nie wiedersehen, Neddie«, hatte Bruce Sutherland versprochen.
Bruce Sutherland hatte sie nie wiedergesehen, doch er hatte auch nie aufgehört, an sie zu denken. Vielleicht war es das, womit alles angefangen hatte.
Die Sirenen waren nur noch sehr schwach zu hören. Die Wagenkolonne mußte schon ganz in der Nähe von Caraolos sein, dachte Sutherland. Bald würden die Sirenen schweigen, und dann konnte er schlafen. Er dachte an seine Pensionierung, die in vier bis fünf Jahren zu erwarten war. Der Stammsitz der Familie in Sutherland-Heights war für ihn allein viel zu groß. Er würde in einer kleinen Villa wohnen, vielleicht auf dem Lande. Es wurde allmählich Zeit, sich nach ein paar guten Settern für die Jagd umzusehen, sich Rosenkataloge schicken zu lassen und die Bibliothek zu vervollständigen. Es war zu überlegen, bei welchem Club in London er Mitglied werden sollte. Albert, Martha und seine Enkelkinder würden für ihn, wenn er in den Ruhestand trat, wirklich ein Trost sein. Und vielleicht — vielleicht würde er sich auch eine Geliebte zulegen.
Es schien sonderbar, daß er sich nach fast dreißigjähriger Ehe ohne Neddie zur Ruhe setzen sollte. Sie war all die Jahre so still, vornehm und reserviert gewesen. Sie war so taktvoll über seine Affäre mit Marina hinweggegangen. Und auf einmal, nachdem sie ihr ganzes Leben lang völlig korrekt gewesen war, brach sie hemmungslos aus, um die letzten Jahre zu retten, die ihr als Frau noch blieben. Ging mit irgend so einem Bohemien, der zehn Jahre jünger war als sie, auf und davon nach Paris. Alle Leute hatten großes Mitleid mit Bruce, dabei machte es ihm im Grunde wirklich nicht viel aus. Er hatte schon seit vielen Jahren keinerlei Berührung und nur wenig gefühlsmäßige Verbindung mit Neddie gehabt. Wenn sie meinte, sich austoben zu müssen, bitte sehr. Vielleicht würde er sie später wieder zu sich nehmen — doch vielleicht war eine Geliebte besser. Das Geräusch der Sirenen hörte endlich auf. Im Raum herrschte völlige Stille, und nur das dumpfe Murren der Brandung, die sich am Strande brach, war noch zu hören. Bruce Sutherland öffnete das Fenster und atmete in tiefen Zügen die kühle, frische Novemberluft. Er ging in das Badezimmer, nahm seine Zahnprothese heraus, säuberte sie und legte sie in ein Glas Wasser. Wirklich ein Jammer, dachte er, daß er diese vier Zähne hatte verlieren müssen. Das sagte er nun schon seit mehr als dreißig Jahren. Damals hatte er sie bei einem Rugby-Spiel eingebüßt. Er prüfte die anderen Zähne und stellte befriedigt fest, daß sie noch in gutem Zustand waren.
Er machte das Medizinschränkchen auf und musterte die Reihe der Flaschen. Er nahm eine Büchse mit Schlafpulver heraus und löste eine doppelte Dosis in Wasser auf. Er schlief in letzter Zeit schlecht. Sein Herz begann heftig zu klopfen, während er das Glas austrank. Er wußte, daß ihm wieder eine dieser entsetzlichen Nächte bevorstand. Verzweifelt versuchte er, die Gedanken loszuwerden, die in ihm aufstiegen. Er verkroch sich unter der Bettdecke und hoffte, rasch einschlafen zu können, doch schon begann es in seinem Kopf zu kreisen und zu wirbeln, immer rundherum, rundherum ... Bergen-Belsen — Bergen-Belsen — Bergen-Belsen — NÜRNBERG! — NÜRNBERG! NÜRNBERG! NÜRNBERG! »Kommen Sie vor und nennen Sie Ihren Namen ...«
»Bruce Sutherland, Brigadegeneral, Kommandeur des ...«
»Zeuge, schildern Sie dem Gericht, aus eigener Anschauung ...« »Am 15. April, zwanzig Minuten nach fünf Uhr abends, rückten Teile der mir unterstellten Truppe in Bergen-Belsen ein.«
»Schildern Sie, aus eigener Anschauung ...«
»Lager Eins war ein abgesperrter Raum von rund sechshundert Meter Breite und dreihundert Meter Länge. Auf diesem Raum befanden sich achtzigtausend Menschen, osteuropäische Juden.« »Schildern Sie dem Gericht ...«
»Die Verpflegungsration für das Lager Nummer Eins bestand aus zehntausend Broten pro Woche.«
»Können Sie dem Gericht sagen ...«
»Ja, das sind Hodenklemmen und Daumenschrauben, wie sie bei Folterungen verwendet wurden ...«
»Schildern Sie ...«
»Eine von uns durchgeführte Zählung ergab im Lager Eins dreißigtausend Tote, von denen fast dreizehntausend als Leichen am Boden herumlagen. Achtundzwanzigtausend Frauen und zwölftausend Männer befanden sich noch am Leben.«
»SCHILDERN SIE ... !«
»Wir unternahmen alles, was in unseren Kräften stand, doch die Überlebenden waren durch Hunger und Krankheit so geschwächt, daß innerhalb weniger Tage nach unserem Eintreffen weitere dreizehntausend starben.«
»SCHILDERN SIE ... !«
»Die Zustände, die wir im Lager vorfanden, waren nicht mehr menschlich.«
Bruce Sutherland hatte kaum seine Zeugenaussage in Nürnberg beendet, als er eine dringende Aufforderung erhielt, sofort nach London zurückzukehren. Diese Aufforderung kam von einem langjährigen guten Freund im Kriegsministerium, General Sir Clarence Tevor-Browne. Sutherland ahnte, daß es sich um etwas Ungewöhnliches handeln mußte.
Er flog am nächsten Tag nach London und begab sich unverzüglich zu dem riesigen Gebäude an der Ecke von White Hall und Great Scotland Yard, in dem sich das Kriegsministerium befand.
»Da sind Sie ja, Bruce! Kommen Sie herein, mein Lieber, kommen Sie! Schön, daß Sie da sind. Ich habe Ihre Zeugenaussage in Nürnberg verfolgt. Kein sehr schönes Geschäft.«
»Ich bin froh, daß ich es hinter mir habe«, sagte Sutherland.
»Hat mir so leid getan, das von Ihnen und Neddie zu hören. Falls ich irgend etwas für Sie tun kann ...«
Sutherland schüttelte den Kopf.
Schließlich kam Tevor-Browne damit heraus, weshalb er ihn gebeten hatte, nach London zu kommen. »Hören Sie, Bruce«, sagte er, »ich habe Sie hergebeten, weil sich eine Aufgabe ergeben hat, die sehr viel Fingerspitzengefühl erfordert. Ich soll einen geeigneten Mann dafür empfehlen, und ich möchte gern Sie dafür vorschlagen. Ich wollte die Sache aber vorher mit Ihnen besprechen.«
»Ich höre, Sir Clarence.«
»Bruce, diese Juden, die aus Europa abwandern, stellen für uns ein ernstliches Problem dar. Sie überschwemmen Palästina. Die Araber sind sehr beunruhigt über diese Einwanderungsmassen, die in das Mandatsgebiet kommen. Wir haben deshalb beschlossen, auf Zypern Internierungslager zu errichten, in denen diese Leute zurückgehalten werden. Jedenfalls ist das eine vorläufige Maßnahme, bis White Hall beschließt, wie wir uns in der
Frage des Palästina-Mandats verhalten wollen.«
»Ich verstehe«, sagte Sutherland leise.
»Das Ganze ist eine sehr kitzlige Angelegenheit«, fuhr Tevor Browne fort, »und erfordert eine sehr behutsame Behandlung. Kein Mensch hat den Wunsch, einen armen Haufen geschlagener Flüchtlinge zusammenzutreiben und einzusperren, und man muß auch bedenken — nun ja, Tatsache ist, daß diese Leute sich hoher und höchster Sympathie erfreuen, besonders in Frankreich und Amerika. Die geplanten Maßnahmen auf Zypern dürfen natürlich keinerlei Staub aufwirbeln. Wir möchten, ja wir müssen unbedingt alles vermeiden, was die öffentliche Meinung gegen uns aufbringen könnte.«
Sutherland ging zum Fenster, blickte auf das Wasser der Themse und sah den großen, zweistöckigen Autobussen zu, die über die Waterloo-Brücke fuhren. »Ich halte diese ganze Idee für verkehrt«, sagte er.
»Darüber haben wir beide nicht zu entscheiden, Bruce. White Hall erteilt die Befehle. Wir führen sie nur aus.«
Sutherland sah noch immer zum Fenster hinaus. »Ich habe die Menschen in Bergen-Belsen gesehen«, sagte er. »Wahrscheinlich sind es dieselben, die jetzt nach Palästina zu kommen versuchen.« Er schritt zurück zu seinem Stuhl. »Seit dreißig Jahren haben wir in Palästina diesen Leuten gegenüber ein Versprechen nach dem anderen gebrochen.«
»Sehen Sie, Bruce«, sagte Tevor-Browne, »Sie und ich, wir machen uns in dieser Sache nichts vor, doch wir sind in der Minderheit. Wir beide haben zusammen im Nahen Osten gedient. Und jetzt will ich Ihnen mal was erzählen, mein Lieber. Ich habe im Krieg hier an diesem Schreibtisch gesessen und erlebt, wie aus dem arabischen Raum eine Verratsmeldung nach der anderen kam: Wie der ägyptische Generalstab Kriegsgeheimnisse an die Deutschen verkaufte, wie Kairo festlich geschmückt war, um Rommel als Befreier zu empfangen, wie die Iraker sich auf die Seite der Deutschen schlugen, wie die Syrier übergingen zu den Deutschen, wie der Mufti von Jerusalem sich als Agent der Nazis betätigte. Und so könnte ich Ihnen noch stundenlang weitererzählen. Sie müssen aber auch bedenken, wie die Sache für White Hall aussieht, Bruce. Wir können nicht riskieren, wegen einiger tausend Juden unser Ansehen und unsern Einfluß im ganzen Nahen Osten zu verlieren.« »Und gerade das ist von all unseren Irrtümern der tragischste, Sir Clarence«, sagte Sutherland. »Wir werden den Nahen Osten auch so verlieren.«
»Sie sind ja ganz aufgeregt, Bruce.«
»Es gibt schließlich so etwas wie Recht und Unrecht.«
General Sir Clarence Tevor-Browne schüttelte mit einem bitteren Lächeln den Kopf. »Ich habe in meinem Leben sehr wenig gelernt, Bruce, aber das eine habe ich doch begriffen: die Außenpolitik dieses oder irgendeines anderen Landes beruht nicht auf Recht oder Unrecht. Recht und Unrecht? Es ist nicht Ihre und nicht meine Sache, zu erörtern, wie es in diesem besonderen Falle mit der Frage von Recht oder Unrecht steht. Das einzige Reich, das auf Rechtschaffenheit beruht, ist das Himmelreich. Die Herrschaft der Welt beruht auf dem Öl. Und die Araber haben Öl.«
Bruce Sutherland schwieg. Dann nickte er und wiederholte: »Nur das Reich Gottes beruht auf Gerechtigkeit, die Herrschaft der Welt beruht auf dem Öl. Das ist eine wichtige Erkenntnis, Sir Clarence. In diesen beiden Sätzen scheint das ganze Leben enthalten zu sein. Wir alle — Menschen wie Völker — leben nach dem Gesetz der Notwendigkeit, nicht nach dem der Wahrheit.«
Tevor-Browne kam in seinem Stuhl nach vorn. »Irgendwo in seinem Weltenplan hat Gott uns für die schwierige Aufgabe vorgesehen, die Verantwortung für ein Empire zu tragen —.«
»Und es steht uns nicht zu, nach dem Warum zu fragen«, sagte Sutherland leise. »Nur, ich kann diese Sklavenmärkte in SaudiArabien nicht vergessen, auch nicht den Augenblick, als ich das erstemal aufgefordert wurde, zuzusehen, wie einem Mann, der gestohlen hatte, zur Strafe die Hände abgehackt wurden — und ebensowenig kann ich diese Juden in Bergen-Belsen vergessen.«
»Es ist nicht besonders gut, Soldat zu sein und ein Gewissen zu haben. Ich will Sie nicht zwingen, diesen Posten in Zypern anzunehmen.«
»Ich gehe hin. Selbstverständlich gehe ich hin. Nur, sagen Sie mir bitte — weshalb fiel Ihre Wahl gerade auf mich?«
»Die meisten von unseren Leuten sind pro-arabisch eingestellt, und zwar aus dem Grund, weil wir schon von jeher pro-arabisch gewesen sind und weil einem Militär nicht viel anderes übrigbleibt, als sich nach der Politik zu richten. Ich möchte nicht gern jemanden nach Zypern schicken, der diesen Flüchtlingen gegenüber vielleicht feindlich eingestellt wäre. Es handelt sich um eine Aufgabe, die Verständnis und Mitgefühl verlangt.«
Sutherland stand auf. »Ich muß manchmal denken«, sagte er, »daß es beinahe ebensosehr ein Fluch ist, als Engländer auf die Welt zu kommen, wie ein Jude zu sein.«
Sutherland nahm das Kommando auf Zypern an, doch sein Herz war voller Furcht. Er fragte sich, ob Tevor-Browne wußte, daß er Halbjude war. Der Entschluß, den er damals beim Tod seiner Mutter gefaßt hatte, dieser schreckliche Entschluß, der schon so lange zurücklag — jetzt kam er über ihn und rächte sich.
Er erinnerte sich, daß er damals in der Bibel Trost gesucht und auch gefunden hatte. Das war in den inhaltslosen Jahren mit Neddie gewesen, nach dem schmerzlichen Verlust des eurasischen Mädchens, der Frau, die er geliebt hatte, und alles zusammen hatte ihn immer stärker danach verlangen lassen, inneren Frieden zu finden. Wie wunderbar war das für ihn als Soldaten, von den großen kriegerischen Taten eines Josua, Gideon oder Joab zu lesen. Und diese wunderbaren Frauen — Ruth und Esther und Sara — und — und Deborah. Deborah, die Jeanne d'Arc der Juden, Befreierin ihres Volkes. Er wußte noch genau, wie es ihn kalt überlaufen hatte, als er die Worte las: Wach auf, Deborah, wach auf, wach auf!
Deborah — so hieß seine Mutter.
Deborah Davis war eine schöne und ungewöhnliche Frau gewesen. Kein Wunder, daß sich Harold Sutherland heftig in sie verliebt hatte.
Die Familie sah großmütig darüber hinweg, als Harold es durchsetzte, daß Der Widerspenstigen Zähmung fünfzehnmal über die Bretter ging, damit er die schöne Schauspielerin Deborah Davis darin bewundern konnte, und die Familie lächelte auch nachsichtig, als er sein Konto überzog, um sie mit Blumen und Geschenken zu überhäufen. Sie hielten es für eine jungenhafte Laune und meinten, er würde sie schon vergessen.
Er vergaß sie nicht, und die Familie hörte auf, tolerant zu sein. Deborah Davis erhielt eine strenge Aufforderung, in Sutherland-Heights zu erscheinen, doch sie kam nicht. Daraufhin begab sich Harolds Vater, Sir Edgar, nach London, um sich diese erstaunliche junge Dame einmal näher anzusehen, die sich weigerte, nach Sutherland-Heights zu kommen. Deborah war ebenso geistreich wie schön, und Sir Edgar war von ihr hingerissen.
Er machte kein Hehl aus seiner Meinung, daß sein Sohn ein unverschämtes Glück gehabt hätte. Schließlich war bekannt, daß die Sutherlands schon immer eine Neigung für Schauspielerinnen gehabt hatten, und einige dieser Damen waren die gesellschaftlichen Prunkstücke in der langen Familiengeschichte der Sutherlands geworden.
Da war natürlich der eine etwas heikle Punkt, daß Deborah Davis Jüdin war, doch dieses Problem erledigte sich dadurch, daß sie sich bereit erklärte, zur anglikanischen Kirche überzutreten.
Harold und Deborah hatten drei Kinder. Mary, die einzige Tochter, und Adam, der schwermütig und nicht ganz zurechnungsfähig war. Und Bruce, der Älteste und Deborahs Liebling. Er liebte seine Mutter abgöttisch. Doch bei aller zärtlicher Nähe sprach sie nie über ihre Kindheit oder von ihren Eltern. Er wußte nur, daß sie sehr arm gewesen und von zu Hause weggelaufen war, um zur Bühne zu gehen.
Die Jahre vergingen. Bruce wurde Offizier und heiratete Neddie Ashton. Albert und Martha wurden geboren. Harold Sutherland starb, und Deborah wurde alt und älter.
Bruce erinnerte sich noch sehr genau an den Tag, an dem es geschah. Er war mit Neddie und den Kindern nach Sutherland-Heights gekommen, um längere Zeit dort zu bleiben. Wenn Bruce nach Haus kam, fand er seine Mutter entweder draußen bei den Rosen oder im Wintergarten, oder irgendwo im Haus, wo sie ihren Verpflichtungen nachging, heiter, lächelnd und glücklich. Doch als er an diesem Tag vorgefahren war, hat
te sie weder dagestanden, um ihn zu begrüßen, noch war sie sonst irgendwo zu finden gewesen. Schließlich hatte er sie in ihrem Salon entdeckt, wo sie im Dunkeln saß. Das war seiner Mutter so unähnlich, daß er erschrak. Sie saß unbeweglich wie eine Statue und schien ihre Umgebung vergessen zu haben.
Bruce küßte sie sanft auf die Wange und kniete sich neben sie. »Fühlst du dich nicht wohl, Mutter?«
Sie wandte langsam den Kopf und flüsterte: »Heute ist Jom-Kippur, der Versöhnungstag.«
Bruce erschrak zutiefst.
Er sprach mit Neddie und seiner Schwester Mary darüber. Sie wurden sich darüber klar, daß ihre Mutter seit Vaters Tod zuviel allein gewesen war. Außerdem war Sutherland-Heights viel zu groß für sie. Sie sollte sich eine Wohnung in London nehmen, um Mary näher zu sein. Und außerdem wurde Deborah alt. Es fiel ihnen schwer, sich das klarzumachen, da ihnen die Mutter noch immer genauso schön erschien wie damals, als sie Kinder gewesen waren. Dann gingen Bruce und Neddie in den Nahen Osten. Mary schrieb glückliche Briefe, wie gut es ihrer Mutter gehe, und Deborahs Briefe berichteten von ihrem Glück, in London und in der Nähe von Marys Familie zu sein.
Doch als Bruce nach England zurückkam, sah die Sache ganz anders aus. Mary war völlig außer sich. Die Mutter war jetzt siebzig Jahre alt und wurde immer wunderlicher. Sie konnte sich an nichts mehr erinnern, was gestern gewesen war, dagegen äußerte sie ungereimtes Zeug über Ereignisse, die fünfzig Jahre zurücklagen. Dabei bekam es Mary mit der Angst zu tun, weil Deborah ihren Kindern gegenüber nie von ihrer Vergangenheit gesprochen hatte. Was Mary aber am meisten beunruhigte, war, daß ihre Mutter häufig verschwunden war, ohne daß jemand wußte, wohin. Mary war sehr froh, daß Bruce wieder da war. Er war der Älteste, Mutters Liebling, und er war so zuverlässig. Bruce ging seiner Mutter eines Tages nach, als sie einen ihrer geheimnisvollen Spaziergänge machte. Ihr Ziel war eine Synagoge in Whitechapel.