Exodus
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»Und woher weiß ich, daß ich Ihnen trauen kann?«
»Weil ich es gesagt habe.«
Über das Gesicht des Jungen glitt ein Lächeln, und er nickte, zum Zeichen, daß er sich an die Arbeit machen wollte.
»In Ordnung. Was du zu tun hast, werden dir entweder David ben Ami oder Joab Yarkoni sagen. Und ich möchte nicht, daß du irgendwelche Scherereien machst. Falls du besondere Fragen hast, dann wende dich an mich. Ich möchte, daß du in einer halben Stunde zum Palmach-Hauptquartier kommst, um dir anzusehen, was sie dort haben, und um David Bescheid zu sagen, was du noch brauchst.«
Ari drehte sich um und ging zum Zelt hinaus nach draußen, wo David und Joab standen und warteten. »Er wird in einer halben Stunde erscheinen, um sich an die Arbeit zu machen«, sagte er. David schnappte nach Luft, und Joab blieb vor Staunen der Mund offen. »Wie hast du das fertiggebracht?«
»Jugendpsychologie«, sagte Ari. »Ich fahre jetzt zurück nach Famagusta, und ich möchte euch beide heute abend dort im Haus von Mandria sehen. Bringt auch Seew Gilboa mit. Ihr braucht mich nicht zu begleiten. Ich weiß den Weg.«
David und Joab starrten fasziniert ihrem Freund nach, diesem bemerkenswerten Ari ben Kanaan, der sich über den Spielplatz entfernte, in Richtung der Müllabladestelle.
Am Abend wartete Mandria, der Zyprer, zusammen mit David, Joab und Seew Gilboa, Stunde um Stunde in seinem Wohnzimmer auf Ari ben Kanaan.
Gilboa, gleichfalls Palmach-Angehöriger, war ein breitschultriger Bauer aus Galiläa. Wie Yarkoni hatte auch er einen prächtigen Schnurrbart und war Anfang Zwanzig. Von allen Palmach-Agenten, die im Lager von Caraolos arbeiteten, war Seew Gilboa der beste Soldat. David hatte ihm die Leitung der militärischen Ausbildung übertragen. Mit Schwung und mit improvisierten Waffen hatte er seinen Leuten nachts auf dem Kinderspielplatz annähernd alles beigebracht, was sich ohne richtige Waffen beibringen ließ. Besenstiele waren Gewehre, Steine waren Handgranaten, Sprungfedern waren Bajonette. Er richtete Kurse ein für Nahkampf und Stockfechten. Vor allem aber impfte er den mutlosen Internierten einen ungeheuren Kampfgeist ein.
Es wurde immer später. Mandria fing an, nervös im Zimmer hin und her zu laufen. »Ich weiß nur«, sagte er, »daß ich ihm für heute nachmittag ein Taxi und einen Fahrer besorgt habe.«
»Beruhigen Sie sich, Herr Mandria«, sagte David. »Es ist durchaus möglich, daß Ari erst in drei Tagen wiederkommt. Er hat eine seltsame Arbeitsweise, aber wir kennen das schon bei ihm.« Mitternacht ging vorüber, und die vier Männer fingen an, es sich in den Sesseln bequem zu machen. Nach einer halben Stunde begannen sie, schläfrig zu werden, und eine Stunde später schliefen alle fest.
Es war gegen fünf Uhr morgens, als Ari ben Kanaan den Raum betrat. Seine Augen waren schwer, weil er die ganze Nacht auf der Insel herumgefahren war, ohne sich auch nur eine Stunde Schlaf zu gönnen. Seit seiner Ankunft in Zypern hatte er nur selten und viel zu wenig geschlafen. Ari und Seew Gilboa umarmten sich in der beim Palmach üblichen Weise, und danach kam Ari sofort zur Sache, ohne sich mit einer Entschuldigung oder Erklärung für seine achtstündige Verspätung aufzuhalten.
»Herr Mandria — haben Sie schon das Schiff für uns?«
Mandria war sprachlos. Er schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Herr Ben Kanaan! Vor weniger als dreißig Stunden sind Sie hier in Zypern angekommen und haben mich gebeten, Ihnen ein Schiff zu beschaffen. Ich bin kein Schiffbauer! Meine Firma, die Zyprisch-Mittelmeerische Schiffahrtsgesellschaft, unterhält Zweigbüros in Famagusta, Larnaca, Kyrenia, Limassol und Paphos. Weitere Häfen gibt es in Zypern nicht. Alle meine Büros haben Auftrag, sich nach einem Schiff für Sie umzusehen. Wenn es auf Zypern überhaupt so etwas wie ein Schiff gibt, dann werden Sie es erfahren, Herr Ben Kanaan.«
Ari achtete nicht auf Mandrias Sarkasmus und wandte sich an die andern.
»Seew, ich nehme an, David hat dich schon darüber informiert, was wir vorhaben.«
Der Mann aus Galiläa nickte.
»Von jetzt an arbeitet ihr drei für mich. Sucht euch jemanden, der eure Posten im Lager übernimmt. Joab, wie viele gesunde Jugendliche im Alter zwischen zehn und siebzehn Jahren gibt es in deiner Sektion?«
»Oh — ich würde sagen, ungefähr sechs- bis siebenhundert.«
»Seew — suche dreihundert der kräftigsten aus. Gib ihnen die beste sportliche Ausbildung!«
Seew nickte.
»In einer halben Stunde wird es hell sein«, sagte Ari und stand auf. »Ich werde ein Taxi brauchen, um wieder loszufahren, Herr Mandria — der Mann, der mich gestern gefahren hat, ist vermutlich etwas müde geworden.«
»Ich werde Sie selbst fahren«, sagte Mandria.
»Großartig. Sobald es hell wird, fahren wir los. Und jetzt entschuldigt mich bitte, ich muß mir oben in meinem Zimmer noch etwas ansehen.«
Er ging so plötzlich hinaus, wie er hereingekommen war. Die anderen begannen alle auf einmal zu reden.
»Dann sollen also die dreihundert, die ausbrechen, Kinder sein«, sagte Seew.
»So scheint es in der Tat«, sagte Mandria. »Wirklich ein seltsamer Mann. Er hofft auf ein Wunder — und er sagt nicht, was er vorhat.« »Im Gegenteil«, sagte David, »er glaubt nicht an Wunder. Deshalb arbeitet er so intensiv. Ich habe den Eindruck, hier steckt mehr dahinter, als Ari uns wissen läßt. Es kommt mir vor, als ob diese Flucht von dreihundert Kindern nur ein Teil von dem ist, was er plant.«
Joab Yarkoni lächelte. »Wir alle kennen Ari ben Kanaan lange genug, um von vornherein darauf zu verzichten, seine Pläne erraten zu wollen. Wir kennen ihn auch lange genug, um zu wissen, daß er seine Sache versteht. Wenn es soweit ist, werden wir schon erfahren, was Ari vorhat.«
Am nächsten Tag fuhr Ari mit Mandria kreuz und quer durch Zypern, anscheinend wahllos und ziellos. Sie fuhren die östliche Bucht entlang, vorbei an Salamis und Famagusta, bis an die Spitze von Kap Greco. In Famagusta stieg Ari aus, ging an der alten Stadtmauer entlang und studierte das Hafengelände. Mit Mandria sprach er mit Ausnahme gelegentlicher kurzer Fragen den ganzen Tag über kaum ein Wort. Dem Zyprer kam es so vor, als sei dieser Riese aus Palästina das kälteste menschliche Wesen, das er je kennengelernt hatte. Er verspürte eine gewisse Feindseligkeit, konnte dabei aber nicht umhin, Ari seiner völligen Konzentration und anscheinend übermenschlichen Ausdauer wegen zu bewundern. Dieser Mann, mußte Mandria denken, schien sich mit ungeheurer Leidenschaft für seine Sache einzusetzen — was eigentlich erstaunlich war, weil Ben Kanaan äußerlich keinerlei Spuren menschlicher Gefühlsbewegung erkennen ließ.
Von Kap Greco aus fuhren sie die südliche Bucht entlang und dann hinein in das hohe, felsig zerklüftete Gebirge, wo sich die Sporthotels für die Wintersaison rüsteten. Sollte Ben Kanaan dabei irgend etwas entdeckt haben, das für ihn von Interesse war, so gab er jedenfalls nichts davon zu erkennen. Mandria war ziemlich erschöpft, als sie nach Mitternacht wieder in Famagusta eintrafen. Doch es fand sofort eine neue Konferenz mit Seew, David und Joab statt. Danach begann Ari erneut, bis zum Morgen Karten und Berichte zu studieren.
Am Morgen des vierten Tages nach Ari ben Kanaans Ankunft auf Zypern erhielt Mandria einen Anruf seines Büros in Larnaca, mit der Mitteilung, daß soeben ein Schiff aus der Türkei eingelaufen sei, das seinen Anforderungen entspräche und käuflich zu erwerben sei. Mandria fuhr Ari nach Caraolos, wo sie David und Joab abholten, und zu viert fuhren sie los nach Larnaca.
Seew Gilboa kam nicht mit, weil er bereits damit beschäftigt war, die dreihundert Jugendlichen auszuwählen und spezielle Trainingskurse für sie einzurichten.
Mandria war stolz und sehr mit sich zufrieden, während sie die Straße von Famagusta nach Larnaca entlangfuhren. Auf halbem Wege wurde Ari plötzlich auf etwas aufmerksam, das auf einem großen Feld links von der Straße vor sich ging. Er bat Mandria, anzuhalten, und stieg aus, um nachzusehen. Es wurde dort fieberhaft gebaut. Allem Anschein nach handelte es sich um Baracken.
»Die Engländer bauen ein neues Internierungslager«, sagte David. »Caraolos wird allmählich zu klein.«
»Warum habe ich davon nichts erfahren?« fragte Ari heftig.
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�Du hast nicht danach gefragt«, antwortete Joab Yarkoni.
»Soweit wir es abschätzen können«, sagte David, »wird man in zwei bis drei Wochen damit anfangen, alle, die in Caraolos zu viel sind, in das neue Lager zu überführen.«
Ari stieg wieder ein, und sie fuhren weiter. Joab Yarkoni, der nichts von dem Versuch hielt, die Pläne seines Freundes erraten zu wollen, stellte dennoch fest, daß ihn dieses neue Lager außerordentlich beschäftigte. Es war geradezu zu spüren, wie es in Aris Kopf arbeitete.
Sie kamen nach Larnaca und fuhren durch schmale, gewundene Gassen hinunter zum Hafen, an dem saubere zweistöckige weiße Häuser längs der Straße standen. Sie hielten vor der Taverne »Zu den vier Laternen«, wo sie der türkische Schiffseigner, ein Mann namens Armatau, erwartete. Ari bestand darauf, sofort das Schiff zu besichtigen — ohne erst bei einem Glas um den Preis zu feilschen, was hier doch ein so wesentlicher Teil jeder normalen geschäftlichen Transaktion war.
Armatau führte sie über die Straße hinüber zu der langen Pier, die sich mehr als eine halbe Meile weit ins Meer hinaus erstreckte. Während sie an einem Dutzend Schleppfischern, Barkassen und Segelbooten entlanggingen, sprach Armatau unablässig auf sie ein. Er versicherte ihnen, daß das Schiff, welches sie sogleich in Augenschein nehmen sollten, in der Tat eine Königin des Meeres sei. Ziemlich am Ende der Pier blieben sie bei einem uralten SeelenVerkäufer stehen, an dessen hölzernem Bug fast verblichen der Name Aphrodite zu lesen war.
»Ist sie nicht eine Schönheit?« sagte Armatau, glühend vor Begeisterung. Dann schwieg er gespannt, während vier Augenpaare den alten Kahn kühl und kritisch von vorn bis achtern musterten.
»Sie ist natürlich kein Schnellboot«, sagte der Türke.
Aris Schätzung nach war die Aphrodite 45 Meter lang und verdrängte rund zweihundert Tonnen. Der ganzen Bauweise und dem Aussehen nach mußte sie ungefähr fünfundvierzig Jahre alt sein.
»Sag mal, wer war eigentlich Aphrodite?« fragte Joab Yarkoni, mit den Augen zwinkernd.
»Aphrodite war die Göttin der Liebe. Sie wurde von der Brandung an den Strand gespült, nur ein paar Meilen von hier entfernt — vor etwa fünftausend Jahren«, antwortete David.
»Ja, das alte Mädchen hat bestimmt eine Menge durchgemacht«, sagte Joab.
Der Türke schluckte die Sticheleien hinunter und versuchte zu lächeln. Ben Kanaan drehte sich zu ihm herum und sah ihn an. »Hören Sie, Armatau, mich interessiert nur das eine. Bis Palästina sind es zweihundert Meilen. Sie muß die Reise schaffen. Kann sie das, ja oder nein?«
Armatau warf beide Arme in die Luft. »Bei der Ehre meiner Mutter«, sagte er, »ich habe dreihundert Reisen zwischen Zypern und der Türkei mit ihr gemacht. Das wird Herr Mandria hier Ihnen bestätigen können. Er weiß es.«
»Ja, das stimmt«, sagte Mandria. »Sie ist alt, aber zuverlässig.« »Herr Armatau, gehen Sie mit meinen beiden Freunden an Bord und zeigen Sie ihnen die Maschinen.«
Als die drei Männer unter Deck verschwunden waren, sagte Mandria zu Ari: »Armatau ist zwar Türke, aber man kann seinen Worten Glauben schenken.«
»Was für eine Geschwindigkeit kann man aus diesem Ding wohl herausholen?« fragte Ari.
»Schätzungsweise fünf Knoten — bei achterlichem Wind. Die Aphrodite hat es nicht so eilig.«
Sie gingen an Bord und inspizierten das Deck und die Aufbauten. Die Aphrodite war halb verrottet und längst über die Zeit hinaus, wo es sich bezahlt gemacht hätte, sie auszubessern. Trotz ihres offensichtlich schlechten Zustandes war sie von einer soliden Festigkeit. Man hatte das Gefühl, daß sie mit den Tücken des Meeres vertraut war und schon manche Schlacht gegen Wind und Wellen gewonnen hatte.
Nach einer halben Stunde waren David und Joab mit ihrer Besichtigung fertig.
»Dieses Schiff ist eine absolute Mißgeburt«, sagte David, »aber ich bin fest davon überzeugt, daß sie es schafft.«
»Bekommen wir dreihundert Leute an Bord?« fragte Ari.
David rieb sich das Kinn. »Na ja — vielleicht mit einem Schuhanzieher.«
»Wir werden allerhand ausbessern und reparieren müssen«, sagte Ari zu Mandria. »Wir müssen natürlich vermeiden, irgendwelche Aufmerksamkeit zu erregen.«
Mandria lächelte. Jetzt war er in seinem Element. »Ich verfüge da, wie Sie sich denken können, über sehr gute Beziehungen. Es handelt sich nur darum, die richtigen Leute zu schmieren, und Sie können versichert sein, daß man nichts sieht, nichts hört, und keine Behörde etwas erfährt.«
»Sehr gut. David, gib heute abend einen Funkspruch nach Palästina durch. Sag den Leuten, daß wir einen Kapitän und zwei Mann Besatzung brauchen.«
»Wird eine dreiköpfige Besatzung ausreichen?«
»Na schön, warum soll ich es euch nicht sagen — ihr beiden und Seew werdet mit mir auf diesem Schlammkahn nach Palästina zurückkehren. Wir werden die Crew vervollständigen. Joab! Du hast ja schon immer etwas für reifere Frauen übrig gehabt, also, jetzt hast du eine. Du hast den Auftrag, diesen Kasten einigermaßen in Ordnung zu bringen.«
Zum Schluß wandte er sich an Armatau, der noch immer hingerissen war von dem Tempo, mit dem Ari seine Fragen stellte und Anweisungen erteilte. »Also, Armatau, Sie können beruhigt sein, Sie haben uns das Monstrum verkauft — aber nicht zu dem Preis, den Sie sich gedacht haben. Gehen wir in die ,Vier Laternen', um den Handel abzuwickeln.«
Ari sprang vom Deck herunter auf die Pier und gab Mandria die Hand. »David und Joab — ihr müßt allein zusehen, wie ihr nach Famagusta zurückkommt. Herr Mandria wird mich, wenn wir unser Geschäft mit Armatau abgewickelt haben, nach Kyrenia fahren.« »Nach Kyrenia?« sagte Mandria verwirrt. »Wird denn dieser Mann niemals müde? Kyrenia ist auf der ganz anderen Seite der Insel«, sagte er protestierend.
»Ist Ihr Wagen nicht in Ordnung?« fragte Ari.
»Doch, doch«, sagte Mandria, »ich werde Sie nach Kyrenia fahren.« Ari begann, mit Mandria und dem Türken die Pier entlang zurückzugehen.
»Ari«, rief David hinter ihm her. »Wie sollen wir die alte Dame nennen?«
»Der Dichter bist du«, rief Ari zurück. »Gib du ihr einen Namen.« Joab und David sahen den drei Männern nach, bis sie am Ende der Pier verschwunden waren. Dann fingen sie von einem Ohr bis zum andern zu grinsen an und sich gegenseitig zu umarmen.
»Dieser Kerl, der Ari! Eine feine Art, uns mitzuteilen, daß es nach Hause geht.« »Du kennst doch Ari«, sagte David. »Um Gottes willen nur keine Gefühle zeigen!«
Sie atmeten tief und glücklich, und einen Augenblick lang dachten beide an Palästina. Dann betrachteten sie die Aphrodite. Sie war wirklich ein trauriges, altes Mädchen. Sie gingen auf dem Deck umher und musterten das alte Wrack.
»Mir fällt ein guter Name ein«, sagte Joab. »Wollen wir sie nicht Bevin nennen?«
»Ich weiß einen besseren Namen«, sagte David ben Ami. »Von heute an heißt dieses Schiff Exodus.«
IX.
Mark steuerte den Mietwagen von der Straße herunter und parkte. Er war mit Kitty hoch hinauf in das Gebirge gefahren, das sich unmittelbar hinter Kyrenia erhob. Vor ihnen zog sich ein riesiges, zerklüftetes Felsmassiv mehr als hundert Meter hoch nach oben. Auf seinem Gipfel standen die Ruinen von St. Hilarion. Ein Märchenschloß, das noch verfallen an Macht und Glanz des Gotenreichs gemahnte.
Mark nahm Kitty an der Hand und führte sie den Hang hinauf. Sie kletterten die Zinnen empor, bis sie auf der unteren Mauer standen und in den Schloßhof sahen.
Mühsam bahnten sie sich einen Weg durch die Trümmer und wanderten durch königliche Gemächer und riesige Hallen, durch die Ställe, das Kloster und die Bollwerke. Es war totenstill, doch die Räume schienen zu atmen, belebt von Geistern der Vergangenheit, die raunend Geschichten von einer längst vergangenen Zeit erzählten, da Menschen hier geliebt und gehaßt und gekämpft hatten. Dann stiegen Mark und Kitty fast eine Stunde lang hinauf zur höchsten Spitze des Berges. Schließlich standen sie oben, heiß und außer Atem, hingerissen von dem Anblick, der sich ihnen bot. Vor ihnen fiel der Fels als steiles Kliff fast neunhundert Meter hinunter nach Kyrenia. Am Horizont lag als schmaler Strich die türk
ische Küste, und rechts und links an den Rändern steiler Schrunde hingen üppige grüne Wälder, terrassenförmig angelegte Weingärten und Häuser. Von weiter unten schimmerten Olivenhaine silbern herauf, durch ihre Blätter strich ein Windhauch. Mark sah Kitty an, die sich als Silhouette gegen den Himmel abhob, während eine Wolke hinter ihr vorbeizog. Wie schön sie ist, dachte Mark, wie wunderschön. Kitty Fremont war anders als alle Frauen, die er kannte. Sie war etwas Einmaliges für ihn.
Er begehrte sie nicht, wollte sie nicht begehren. Es gab für Mark Parker nicht viel auf dieser Welt, wovor er Achtung hatte. Es war ihm ein Bedürfnis, Kitty Achtung entgegenzubringen. Außerdem war sie die einzige Frau, in deren Gesellschaft er sich absolut wohl fühlte; denn bei ihr konnte er sich geben, wie er war, hatte er es nicht nötig, Eindruck zu machen, brauchte er das alte Spiel nicht zu spielen.
Sie setzten sich auf einen großen Felsblock und betrachteten staunend die Fülle von Schönheit, die sie umgab. Das Schloß, das Meer, der Himmel, die Berge.
»Ich glaube«, sagte Mark schließlich, »das hier ist die schönste Aussicht, die es auf der ganzen Welt gibt.«
Sie nickte.
Es waren wunderbare Tage für sie beide gewesen. Kitty schien seit der Ankunft von Mark ein ganz neuer Mensch geworden zu sein. Sie hatte die wunderbar heilende Wirkung einer Beichte an sich erfahren.
»Ich muß gerade an etwas Schreckliches denken«, sagte Kitty. »Ich denke daran, wie froh ich bin, daß man diesen Colonel Howard Hillings nach Palästina geschickt hat, und daß ich dich ganz für mich allein habe. Wie lange kannst du bleiben?«
»Ein paar Wochen, solange du mich dahaben willst.«
»Ich möchte, daß wir uns nie wieder so weit voneinander entfernen.«
»Bist du dir eigentlich klar darüber«, sagte er, »daß im Dom-Hotel alle Welt davon überzeugt ist, wir hätten eine Affäre?«
»Wunderbar!« sagte Kitty. »Ich werde heute abend ein Schild an meine Tür hängen, auf dem mit großen roten Buchstaben steht: Ich liebe Mark Parker wahnsinnig.«
Sie blieben eine weitere Stunde sitzen und begannen dann lustlos hinabzusteigen, um vor Einbruch der Dunkelheit in der Stadt zu sein. Kurze Zeit, nachdem Mark und Kitty zum Hotel zurückgekehrt waren, langte Mandria in Kyrenia an, fuhr zum Hafen und parkte am Kai. Ari stieg aus und sah hinüber zu dem Turm des Kastells, das auf der anderen Seite des Hafens am Rande des Meeres stand. Er ging zusammen mit Mandria hinüber, und beide stiegen die Treppe im Innern des Turms hinauf. Oben vom Turm hatte man einen sehr guten Überblick, und Ari musterte die Gegend aufmerksam und schweigsam wie immer.