by Leon Uris
Am späten Nachmittag öffneten alle Geschäfte wieder, die während der Zeit der mittäglichen Siesta geschlossen hatten. Ari und Kitty bummelten durch die Allenby-Straße. Kitty wollte etwas Geld einwechseln, ein paar Sachen kaufen und ihre Neugier befriedigen. Hinter dem Mograbi-Platz lag ein kleiner Laden neben dem andern, und die Straße war erfüllt von dem Lärm der Busse und Autos und dem Gewühl der Menschen. Kitty mußte sich jedes Schaufenster ansehen. Sie kamen an einem Dutzend Buchhandlungen vorbei, und Kitty blieb jedesmal stehen, um sich die Buchtitel in hebräischer Schrift anzusehen, die sie nicht entziffern konnte. Sie gingen weiter und weiter, bis sie das Geschäftsviertel hinter sich gelassen hatten und am Rothschild-Boulevard waren. Hier lag der ältere Teil der Stadt, aus der Zeit, als Tel Aviv sich sozusagen als ein Vorort der Stadt Jaffa zu entwickeln begonnen hatte. Je näher sie der arabischen Stadt Jaffa kamen, desto baufälliger und verkommener wurden die Häuser und Läden. Während sie die Straße entlanggingen, die die beiden Städte miteinander verband, hatte Kitty das Gefühl, daß sich die Zeit zurückdrehte. Mit jedem Schritt wurde die Umgebung schmutziger und übelriechender, und die Läden kleiner und schäbiger. Im Bogen gingen sie zurück nach Tel Aviv und gelangten zu einem Markt, auf dem Juden und Araber ihre Waren feilboten. Auf der engen Straße drängten sich feilschende Menschen um einzelne Stände. Sie kehrten auf der anderen Seite der Allenby-Straße zurück, überquerten wieder den Mograbi-Platz und bogen in die Ben-Yehuda-Straße ein. Auch sie war eine breite, mit Bäumen bestandene Straße, und hier lag ein Boulevard-Café neben dem anderen. Jedes dieser Cafés hatte seine eigene Note und sein ganz bestimmtes Publikum. In dem einen trafen sich die Anwälte, in einem anderen die Sozialisten; hier die Künstler und dort die Geschäftsleute, und es gab auch ein Café, in dem vorwiegend ältere, pensionierte Leute saßen, die Schach spielten. Und alle Cafés auf der Ben-Yehuda-Straße waren voll von Leuten, die sich teils angeregt und teils aufgeregt unterhielten.
Die Straßenhändler, die die vielen vierseitigen Zeitungen verkauften, riefen in hebräischer Sprache laut die neuesten Meldungen aus: die Überfälle der Makkabäer auf den Flugplatz von Lydda und die Raffinerie bei Haifa, und die Ankunft der Exodus. Auf den Bürgersteigen bewegte sich ein ununterbrochener Strom von Menschen. Orientalen in östlichen Gewändern kamen vorbei und gepflegte Frauen in den neuesten Modellen aus einem Dutzend verschiedener europäischer Länder. Die meisten Passanten waren Einheimische in Khakihosen und weißen Hemden mit offenen Kragen. Um den Hals trugen sie dünne Kettchen, mit einem Davidstern oder irgendeinem anderen hebräischen Anhänger, und die meisten hatten den Schnurrbart, das Abzeichen derer, die im Lande geboren waren. Es waren rauhe Menschen. Viele von ihnen trugen den blauen Kittel der Kibbuzbewohner und gingen in Sandalen. Die in Palästina geborenen Frauen waren groß, trugen einfache Kleider oder Hosen. Sie stellten einen herausfordernden Stolz zur Schau, der sich selbst in ihrem Gang ausdrückte.
Plötzlich wurde es auf der Ben-Yehuda-Straße still. Es war die gleiche plötzliche Stille, wie Kitty sie am Abend zuvor in dem Restaurant in Haifa erlebt hatte. Auf der Mitte der Straße kam langsam ein gepanzerter britischer Lautsprecherwagen angefahren. Oben auf dem Wagen standen englische Soldaten mit zusammengepreßten Lippen hinter Maschinengewehren.
ACHTUNG! BETRIFFT ALLE JUDEN! DER
KOMMANDIERENDE GENERAL HAT EINE SPERRSTUNDE VERHÄNGT. ALLE JUDEN MÜSSEN BEI ANBRUCH DER DUNKELHEIT VON DER STRASSE VERSCHWUNDEN SEIN! ACHTUNG! BETRIFFT ALLE JUDEN! DER
KOMMANDIERENDE GENERAL HAT EINE SPERRSTUNDE VERHÄNGT. ALLE JUDEN MÜSSEN BEI ANBRUCH DER DUNKELHEIT VON DER STRASSE VERSCHWUNDEN SEIN!
Die Mitteilung wurde von den Passanten mit Applaus und Gelächter quittiert.
»Paß auf, Tommy«, rief jemand. »Die nächste Querstraße ist vermint.«
Als die englischen Wagen verschwunden waren, nahm das Leben auf der Ben-Yehuda-Straße sehr bald wieder seinen normalen Verlauf.
»Bitte bringen Sie mich zum Hotel zurück«, sagte Kitty.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, in einem Monat werden Sie soweit sein, daß Sie gar nicht mehr ohne Aufregung leben können.«
»Ich werde mich nie daran gewöhnen, Ari.«
Sie gingen zum Hotel zurück, bepackt mit dem, was Kitty eingekauft hatte. In der kleinen, ruhigen Bar tranken sie einen Cocktail, und danach aßen sie zu Abend auf der Terrasse, von der man einen wunderbaren Blick auf das Meer hatte.
»Ich danke Ihnen für einen wunderschönen Tag«, sagte Kitty.
»Trotz britischer Patrouillen und Straßensperren.«
»Sie müssen mich nachher entschuldigen«, sagte Ari. »Ich muß nach dem Essen für eine Weile fort.«
»Und was ist mit der Sperrstunde?«
»Das betrifft nur Juden«, sagte Ari.
Ari verabschiedete sich von Kitty und fuhr mit dem Wagen zu dem Vorort Ramat Gan — dem »Hügelgarten«. Im Gegensatz zu den Reihenhäusern von Tel Aviv lagen hier einzelne Villen in schönen Gärten. Ari parkte, stieg aus und ging über eine halbe Stunde zu Fuß, um sicher zu sein, daß er nicht beschattet wurde.
Er kam zur Montefiorestraße 22, einer großen Villa, die einem Dr. Y. Tamir gehörte. Auf sein Klopfen hin erschien Dr. Tamir selbst an der Tür, begrüßte Ari mit einem herzlichen Händedruck und führte ihn hinunter in den Keller, in dem sich das Hauptquartier der Hagana befand.
Hier standen Kisten mit Waffen und Munition und eine Druckerpresse, auf der Flugblätter in arabischer Sprache gedruckt wurden, mit der Aufforderung an die Araber, ruhig zu bleiben und den Frieden zu wahren. In einem anderen Teil des Kellergeschosses sprach ein Mädchen auf Arabisch die gleiche Aufforderung auf Tonband. Die Bandaufnahme sollte später von dem fahrbaren Geheimsender Kol Israel — »Stimme Israels« — gesendet werden. Zu den Aufgaben des geheimen Hauptquartiers gehörte unter anderem auch die Herstellung von Handgranaten und die Lagerung von Maschinenpistolen.
Diese vielseitige Aktivität hörte schlagartig auf, als Dr. Tamir mit Ari erschien. Alles drängte sich um Ari, man gratulierte ihm zu seinem Erfolg mit der Exodus und richtete von allen Seiten ungeduldige Fragen an ihn.
»Später«, sagte Dr. Tamir abwehrend, »später!«
»Ich muß zu Avidan«, sagte Ari.
Vorbei an den übereinander gestapelten Kisten mit Gewehren bahnte er sich den Weg zu der Tür eines abgesonderten Büros und klopfte an.
»Ja?«
Ari öffnete die Tür und stand vor dem kahlköpfigen, vierschrötigen Mann, der die illegale Armee befehligte. Avidan hob den Blick von den Schriftstücken, die auf seinem wackligen Schreibtisch lagen, und begann zu strahlen. »Ari!« rief er. »Schalom!« Er sprang auf, umarmte Ari, drückte ihn auf einen Stuhl, machte die Tür zu und schlug ihm mit seiner mächtigen Pranke herzhaft auf die Schulter. »Fein, daß du wieder da bist, Ari! Du hast es den Engländern ordentlich gegeben! Und wo sind die andern?«
»Ich habe sie nach Hause geschickt.«
»Das ist gut. Sie haben ein paar Tage Urlaub verdient. Nimm auch ein paar Tage frei.«
Das war ein eindrucksvolles Lob aus dem Munde von Avidan, der seit fünfundzwanzig Jahren nicht einen einzigen dienstfreien Tag für sich beansprucht hatte.
»Was ist das für ein Mädchen, mit dem du gekommen bist?«
»Eine arabische Spionin. Sei doch nicht so neugierig.«
»Gehört sie zu unseren Freunden?«
»Nein.«
»Schade. Eine echt amerikanische Christin, die auf unserer Seite steht, wäre sehr vorteilhaft für uns.«
»Nein, sie ist einfach eine nette Frau, die sich die Juden ungefähr so wie Tiere im Zoo ansieht. Ich bringe sie morgen nach Jerusalem, wo sie sich mit Harriet Salzmann trifft, um mit ihr zu besprechen, ob es bei der Jugend-Aliyah einen Job für sie gibt.«
»Irgendwie persönlich interessiert?«
»Herrgott noch mal, nein. Und jetzt richte deine jüdische Wißbegier bitte auf etwas anderes.«
Die Luft im Raum war stickig. Avidan holte ein großes blaues Taschentuch heraus und wischte sich den Schweiß von der Glatze. »Einen prächtigen Empfang haben uns die Makkabäer gestern ber
eitet«, sagte Ari. »Wie ich höre, wird die Raffinerie eine Woche lang weiterbrennen. Die Produktion ist im Eimer.«
Avidan schüttelte den Kopf. »Was sie gestern gemacht haben, war gut — wie aber steht es mit vorgestern, und was wird übermorgen sein? Auf jede ihrer nützlichen Aktionen kommen drei, die schädlich sind. Jedesmal, wenn sie ihre Zuflucht zur Brutalität oder zum wahllosen Mord nehmen, hat der gesamte Jischuw darunter zu leiden. Wir sind es, die für die Aktionen der Makkabäer geradestehen müssen. Morgen werden General Haven-Hurst und der Hohe Kommissar beim Jischuw-Zentralrat aufkreuzen. Sie werden bei Ben Gurion mit der Faust auf den Tisch schlagen und verlangen, daß wir die Hagana einsetzen, um weitere Aktionen der Makkabäer zu verhindern. Du kannst mir glauben, ich weiß manchmal wirklich nicht mehr aus und ein. Bisher haben die Engländer die Hagana noch einigermaßen in Ruhe gelassen, doch ich fürchte, wenn die Makkabäer so weitermachen ... Sie sind sogar dazu übergegangen, Banken zu überfallen, um die Arbeit ihrer Organisation zu finanzieren.«
»Britische Banken, will ich hoffen«, sagte Ari. Er steckte sich eine Zigarette an, stand auf und ging in dem engen Büroraum auf und ab. »Vielleicht wäre es wirklich an der Zeit, daß auch die Hagana ein paar wirkungsvolle Sabotageakte unternimmt.«
»Nein — damit würden wir das Weiterbestehen der Hagana aufs Spiel setzen, und das dürfen wir einfach nicht. Wir müssen da sein zum Schutz für alle Juden. Illegale Einwanderung — das ist in der gegenwärtigen Situation die beste Methode des Kampfes gegen die Engländer. Ein solches Unternehmen wie diese Sache mit der Exodus ist wichtiger, als zehn Raffinerien in die Luft zu sprengen.« »Doch eines Tages müssen wir aktiv werden, Avidan. Entweder haben wir eine Armee oder wir haben keine.«
Avidan nahm einige Schriftstücke von seinem Schreibtisch und hielt sie Ari hin. Ari nahm und las: ORDER OF BATTLE, 6TH AIRBORNE DIVISION.
Ari sah Avidan an: »Die Engländer haben drei Brigaden Fallschirmjäger in Palästina?«
»Lies weiter.«
ROYAL ARMORED CORPS WITH KING'S OWN HUSSARS, 53RD WORCESTERSHIRE, 249TH AIRBORNE PARK, DRAGOON GUARDS, ROYAL LANCERS, QUEEN'S ROYAL EAST SURREY, MIDDLESEX, GORDON HIGHLANDERS, ULSTER RIFLES, HERTFORDSHIRE REGIMENT — die Liste der in Palästina stationierten britischen Truppen nahm kein Ende. Ari warf das Schriftstück auf Avidans Schreibtisch. »Gegen wen wollen die Engländer hier eigentlich antreten — gegen die Russen?« »Begreifst du es jetzt, Ari? Tag für Tag spreche ich die Sache mit einigen jungen Heißspornen vom Palmach durch. Warum unternehmen wir nichts? fragen sie mich. Warum kommen wir nicht heraus aus unserem Versteck und treten an zum Kampf? — Meinst du vielleicht, es macht mir Spaß, hier in diesem Keller zu sitzen? Hör zu, Ari — die Engländer haben zwanzig Prozent ihrer kämpfenden Truppe in Palästina. Hunderttausend Soldaten, die Arabische Legion in Jordanien nicht mitgerechnet. Sicher, die Makkabäer rennen herum, knallen, machen Lärm, setzen sich in Szene und werfen uns vor, wir trauten uns nicht heraus.« Avidan schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich bemühe mich, bei Gott, eine Armee zu organisieren. Aber wir haben noch nicht einmal zehntausend Gewehre, um damit zu schießen, und wenn die Hagana erledigt ist, dann sind wir alle miteinander erledigt.«
Avidan kam um den Schreibtisch herum. »Sieh mal, Ari — die Makkabäer mit ihren paar tausend Hitzköpfen sind beweglich, können zuschlagen und sich wieder unsichtbar verkriechen. Wir aber, wir müssen mit Gewehr bei Fuß auf der Stelle treten, und dabei müssen wir auch bleiben. Wir können uns nicht auf eine Auseinandersetzung einlassen. Und wir können es uns auch nicht leisten, Haven-Hurst ernstlich zu reizen. Auf je fünf Juden in Palästina kommt ein englischer Soldat.«
Ari nahm erneut die Liste der britischen Streitkräfte vom Schreibtisch und studierte sie schweigend.
»Von Tag zu Tag treiben es die Engländer ärger mit ihren Razzien, Straßensperren, Haussuchungen und Verhaftungen«, sagte Avidan. »Die Araber massieren ihre Streitkräfte, und die Engländer tun, als merkten sie nichts davon.«
Ari nickte nachdenklich. Dann sagte er. »Und wohin gehe ich jetzt?«
»Ich habe nicht die Absicht, dir einen neuen Auftrag zu erteilen, vorläufig jedenfalls nicht. Fahr nach Haus, ruh dich ein paar Tage aus und melde dich dann beim Palmach im Kibbuz Ejn Or. Ich möchte, daß du alle Siedlungen in Galiläa inspizierst, um festzustellen, wie stark unsere Verteidigung ist. Wir möchten gern wissen, was wir voraussichtlich halten können — und was wir verlieren werden.«
»Ich habe dich noch nie so reden gehört wie heute, Avidan.«
»Die Situation war auch noch nie so kritisch wie im Augenblick. Die Araber haben es sogar abgelehnt, sich in London mit uns an einen Tisch zu setzen und zu verhandeln.«
Ari ging zur Tür.
»Grüße Barak und Sara von mir«, sagte Avidan, »und sage Jordana, sie soll nicht über die Stränge schlagen, wenn David ben Ami jetzt wieder im Land ist. Ich werde ihn und die anderen Jungens auch nach Ejn Or schicken.«
»Ich bin morgen in Jerusalem«, sagte Ari. »Kann ich dort irgend etwas für dich erledigen?«
»Ja, sei so gut und organisiere mir zehntausend Soldaten mit Fronterfahrung — und die dazugehörigen Waffen, um sie auszurüsten.« »Schalom, Avidan.«
»Schalom, Ari. Schön, daß du wieder da bist.«
Ari fuhr nach Tel Aviv zurück, und seine Stimmung war düster. Normalerweise arbeitete er wie eine Maschine. Gefühle waren Luxus in seiner Situation. Er war tüchtig und mutig, manchmal hatte er Erfolg, manchmal nicht. Doch zuweilen geschah es, daß Ari ben Kanaan die Wirklichkeit in ihrer ganzen Härte vor sich sah, und dann tat ihm das Herz weh. Die Exodus, die Raffinerie von Haifa, ein Überfall hier, eine Sprengung dort. Menschen ließen ihr Leben bei dem Versuch, fünfzig Gewehre hereinzuschmuggeln. Menschen wurden gehängt, weil sie hundert verzweifelte Überlebende des Hitlerregimes illegal ins Land gebracht hatten. Er war ein kleiner Mann, der gegen einen Riesen kämpfte. Und im Augenblick wünschte er, ebenso wie David ben Ami an das plötzliche und wunderbare Eingreifen einer göttlichen Macht glauben zu können. Doch dazu war Ari zu sehr Realist.
Kitty Fremont wartete in der kleinen Bar am Ende der Halle auf Aris Rückkehr. Er war ihr gegenüber so aufmerksam gewesen, daß sie noch nicht schlafen gehen wollte. Sie wartete auf ihn, um mit ihm noch ein bißchen zu reden und vorm Schlafengehen noch einen Drink mit ihm zu nehmen. Sie sah, wie er durch die Halle zum Portier ging, um sich seinen Zimmerschlüssel geben zu lassen.
»Ari!« rief sie.
Sein Gesicht hatte den gleichen Ausdruck tiefer Konzentration wie damals in Zypern, da sie ihn zum erstenmal gesehen hatte.
Sie winkte ihm zu, doch er schien sie weder zu sehen noch zu hören. Er sah in ihre Richtung, doch sein Blick ging durch sie hindurch, und er stieg stumm die Treppe hinauf.
II.
Zwei Busse, in denen fünfzig der Kinder von der Exodus saßen, fuhren an dem Ruinenberg von Chazor vorbei und in das Hule-Tal hinein. Auf der ganzen Fahrt von Haifa durch das Land Galiläa hatten sich die jugendlichen Reisenden gegenseitig mit lautem Jubel auf alles aufmerksam gemacht, was es im Gelobten Land zu sehen gab.
»Dov!« rief Karen. »Ist das nicht alles wunderbar?«
Dov brummte nur, was offenbar heißen sollte, daß er deshalb keine Veranlassung sehe, einen solchen Lärm zu machen.
Sie fuhren weit in das Hule-Tal hinein, bis nach Yad El. Hier zweigte von der großen Straße eine Nebenstraße ab, die in das Gebirge an der libanesischen Grenze hinaufführte. Die Kinder sahen das Richtungsschild mit der Aufschrift Gan Dafna. Alle konnten es vor neugieriger Spannung kaum noch aushalten. Nur Dov Landau blieb weiterhin stumm und düster. Die Busse nahmen die Steigungen, und bald konnten die Reisenden das ganze Hule-Tal vor sich sehen, in dem sich wie Teppiche die grünen Felder der Kibbuzim und Moschawim erstreckten. Sie fuhren langsamer, als sie auf halbem Weg zur Höhe das Araberdorf Abu Yesha erreichten. Hier war nichts von der Gleichgültigkeit oder Feindlichkeit, wie sie die Kinder in den anderen Araberdörfern bemerkt hatten. Die Bewohner von Abu Yesha winkten ihnen freundlich zu.
Hinter Abu Yesha kamen sie an einer Markierung vorbe
i, auf der angegeben war, daß man sich hier sechshundert Meter über dem Meeresspiegel befand. Dann ging es noch ein Stück weiter hinauf zu dem Jugend-Aliyah-Dorf Gan Dafna — »Garten der Dafna«. In der Mitte der Siedlung hielten sie vor einer Grünfläche, die rund hundert Meter lang und fünfzig Meter breit war. Ringsum lagen die Verwaltungsgebäude, und von diesem Mittelpunkt erstreckte sich das übrige Dorf mit seinen Häuschen nach allen vier Richtungen. Überall waren Rasenflächen mit Blumenbeeten, Büschen und Bäumen. Als die Kinder von der Exodus aus den Autobussen ausstiegen, wurden sie vom Orchester des Jugenddorfes mit einem festlichen Begrüßungsmarsch empfangen.
In der Mitte des Rasens stand eine lebensgroße Statue von Dafna, dem Mädchen, nach dem das Jugenddorf benannt war: Eine Bronzefigur mit einem Gewehr in der Hand, die ins Hule-Tal hinunter sah, ganz so wie Dafna an jenem Tage in Hamischmar, als die Araber sie ermordet hatten.
Neben der Statue stand Dr. Liebermann, der Gründer und Leiter des Jugenddorfes, ein kleiner Mann mit einem leichten Buckel, der eine große Pfeife rauchte, während er die Neuen willkommen hieß. Er erzählte ihnen in kurzen Worten, daß er 1934 Deutschland verlassen und 1940 Gan Dafna gegründet habe, auf dem Stück Land, das Kammal, der damalige Muktar von Abu Yesha, großzügig der Jugend-Aliyah zur Verfügung gestellt hatte. Dann begrüßte Dr. Liebermann jeden einzelnen der fünfzig Jugendlichen in einem halben Dutzend verschiedener Sprachen mit ein paar persönlichen Worten. Als Karen ihn ansah, kam es ihr vor, als habe sie ihn irgendwo schon einmal gesehen. In seiner äußeren Erscheinung und in seiner ganzen Art erinnerte er sie an die Professoren in Köln. — Doch das war so lange her, und sie war damals noch sehr jung gewesen.
Dann wurde jedes Kind von einem Mitglied des Jugenddorfes in Empfang genommen.