Exodus

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Exodus Page 47

by Leon Uris


  »Bist du Karen Clement?«

  »Ja.«

  »Ich bin Yona«, sagte eine ägyptische Jüdin, die etwas älter als Karen war. »Wir beide wohnen zusammen. Komm, ich will dir unser Zimmer zeigen. Es wird dir hier bei uns gefallen.«

  Karen rief Dov zu, daß sie sich später treffen wollten, und ging dann mit Yona, an den Verwaltungsgebäuden und den Schulräumen vorbei, zu dem Teil der Siedlung, wo kleine Bungalows zwischen Büschen und Sträuchern standen. »Wir haben es gut«, sagte Yona. »Wir bekommen diese Einzelhäuschen, weil wir zu den älteren Jahrgängen gehören.«

  Karen blieb einen Augenblick verwundert vor dem Bungalow stehen. Dann ging sie mit Yona hinein. Die Einrichtung war sehr einfach, doch für Karen war es das schönste Zimmer, das sie je im Leben gesehen hatte. Ein Bett, ein Schrank, ein Tisch und ein Stuhl — und das alles für sie, für sie ganz allein.

  Es wurde Abend, ehe Karen einen freien Augenblick hatte. Nach dem Abendessen sollte für die Neuen im Freilufttheater eine Begrüßungsaufführung stattfinden.

  Karen traf Dov auf der Grünfläche, nicht weit von der Dafna-Statue. Seit vielen Wochen hätte sie zum erstenmal wieder gern getanzt. Die Luft war so frisch, und das ganze Jugenddorf war einfach wunderbar! Karen trug olivfarbene lange Hosen, einen hochgeschlossenen Farmerkittel und neue Sandalen. »Oh, Dov!« rief sie. »Das ist der herrlichste Tag meines ganzen Lebens! Yona ist ein reizendes Mädchen. Sie hat mir gesagt, Dr. Liebermann sei der netteste Mensch, den man sich überhaupt vorstellen kann.« Sie ließ sich ins Gras fallen, sah nach oben in den Himmel und seufzte. Dov stand neben ihr und sagte kein Wort. Sie setzte sich und zog ihn bei der Hand.

  »Laß das«, sagte er.

  Doch Karen ließ nicht locker, und Dov setzte sich schließlich neben sie. Er wurde verlegen, als sie seine Hand drückte und ihren Kopf auf seine Schulter legte. »Freu dich doch auch, Dov«, sagte sie. »Bitte sei froh und glücklich.«

  Er zuckte die Schulter und rückte von ihr weg.

  »Bitte sei glücklich.«

  »Wen geht das etwas an?«

  »Mich«, sagte Karen. »Weil du mich etwas angehst.«

  »Kümmere dich lieber um dich selber.«

  »Das tue ich außerdem.« Sie kniete vor ihm und ergriff seine Schultern. »Hast du dein Zimmer gesehen und dein Bett? Wie lange ist es her, seit du in einem solchen Zimmer gewohnt hast?« Dov wurde rot und sah zu Boden. »Denk doch nur, Dov!« sagte Karen. »Kein Flüchtlingslager mehr, kein Internierungslager mit Stacheldraht, nie mehr auf ein illegales Schiff. Wir sind zu Hause, Dov, und es ist sogar noch schöner, als ich es mir ausgemalt hatte.« Dov stand langsam auf und drehte ihr den Rücken zu. »Für dich mag das hier gut und richtig sein. Aber ich habe andere Pläne.« »Denk bitte nicht mehr daran«, sagte sie.

  Das Orchester begann zu spielen. »Es wird Zeit, daß wir zum Theater gehen«, sagte Karen.

  Als Ari und Kitty Tel Aviv wieder verlassen hatten und an dem riesigen britischen Lager bei Sarafand vorbeifuhren, bekam Kitty erneut die Spannung zu spüren, die in Palästina in der Luft lag. Auf dem Wege nach Jerusalem durch die rein arabische Stadt Ramie bemerkte Kitty, wie die Araber sie mit feindlichen Blicken musterten. Ari dagegen schien weder die Araber noch Kittys Gegenwart wahrzunehmen. Er hatte den ganzen Tag kaum drei Worte mit ihr gesprochen.

  Kurz hinter Ramie begann Bab el Wad, eine Straße, die in Windungen hinauf in die Berge von Judäa führt. Auf den Hängen der Schluchten rechts und links der Straße wuchsen junge Waldungen, die von den Juden angepflanzt worden waren. Terrassen aus alter Zeit ragten aus dem kahlen Erdreich heraus, wie die Rippen eines verhungerten Hundes. Einstmals hatten hier in den Bergen Hunderttausende von Menschen gelebt und auf diesen Terrassen ihre Nahrung gefunden. Heute war der Boden völlig verwittert und unfruchtbar. Auf den Gipfeln der Berge lagen, eng zusammengedrängt, die weißen Hütten der Araberdörfer.

  Höher und höher fuhren sie hinauf, und ihre Spannung wurde immer größer. Jetzt erschienen in der Ferne über dem Horizont als undeutlicher Umriß die Zinnen von Jerusalem, und Kitty verspürte eine sonderbare Erregung.

  Sie kamen in die von den Juden erbaute Neustadt und fuhren durch die Jaffa-Straße auf die alte Stadtmauer zu. Vor dem Jaffa-Tor bog Ari in die King-David-Avenue ein und hielt wenige Augenblicke später vor dem großen Gebäude, dem berühmten King-David-Hotel. Kitty stieg aus und schnappte nach Luft, als sie sah, daß der rechte Flügel des Hotels zerstört war.

  »Dort befand sich früher das britische Hauptquartier«, sagte Ari. »Doch die Makkabäer haben alles gründlich verändert.«

  Kitty kam als erste zum Essen herunter. Sie nahm auf der Terrasse hinter dem Hotel Platz, von der aus man über ein kleines Tal hinweg die alte Stadtmauer erblickte.

  Als Ari etwas später auf die Terrasse herauskam, blieb er wie angewurzelt stehen. Kitty sah wunderbar aus. Er hatte sie noch nie so gesehen. Sie hatte ein sehr elegantes Cocktail-Kleid an, dazu einen Hut mit breitem Rand und weiße Handschuhe. Er fühlte sich plötzlich sehr weit von ihr entfernt. Sie sah ganz so aus wie alle die reizvollen, gutangezogenen Frauen in Rom, Paris und Berlin, die zu einer Welt gehörten, die ihm fremd und auch nicht ganz verständlich war. Zwischen den beiden Frauen Kitty und Dafna war ein himmelweiter Unterschied. Doch sie war schön, wunderschön.

  Er kam an ihren Tisch und setzte sich. »Ich habe eben mit Harriet Salzmann telefoniert«, sagte er. »Wir sollen gleich nach dem Essen zu ihr kommen.«

  »Danke«, sagte Kitty. »Ich finde es sehr aufregend, in Jerusalem zu sein.«

  »Ja, diese Stadt hat eine geheimnisvolle Anziehungskraft. Jeder, der zum erstenmal hierherkommt, ist fasziniert. Denken Sie zum Beispiel an David ben Ami. Ihn läßt Jerusalem überhaupt nicht mehr los. Er hat übrigens die Absicht, mit Ihnen morgen durch die Altstadt zu gehen, wenn der Sabbat beginnt.«

  »Ich finde es reizend von ihm, daß er sich um mich kümmern will.«

  Ari sah sie aufmerksam an. Aus der Nähe erschien sie ihm noch schöner als vorhin. Er sah beiseite, winkte einen Kellner heran, bestellte und starrte dann vor sich hin. Kitty hatte allmählich das Gefühl, daß sich Ari eine Verpflichtung aufgeladen hatte, die er möglichst bald hinter sich bringen wollte. Zehn Minuten lang sagte keiner von beiden ein Wort. Kitty stocherte in ihrem Salat.

  »Bin ich Ihnen sehr lästig?« fragte sie schließlich.

  »Nein«, sagte er. »Wie kommen Sie denn auf diese Idee?«

  »Seit Sie gestern abend von Ihrer Verabredung zurückgekommen sind, haben Sie sich benommen, als ob ich gar nicht existieren würde.«

  »Ich bitte um Entschuldigung, Kitty«, sagte er, ohne sie anzusehen. »Ich glaube, ich bin heute ein sehr schlechter Gesellschafter gewesen.«

  »Ist irgend etwas nicht in Ordnung?«

  »Eine ganze Menge ist nicht in Ordnung — aber das hat nichts mit Ihnen oder mit mir und meinem schlechten Benehmen zu tun. Und jetzt möchte ich Ihnen gern ein bißchen über Harriet Salzmann erzählen. Sie ist Amerikanerin. Sie muß inzwischen weit über Achtzig sein. Wenn wir hier beim Jischuw Leute heiligsprächen, dann wäre sie unsere erste Heilige. Sehen Sie den Berg dort jenseits der Altstadt?«

  »Da drüben?«

  »Das ist der Skopusberg. Die Gebäude, die Sie da oben sehen, sind das modernste medizinische Zentrum im Nahen Osten. Das Geld dafür stammt von der Zionistischen Frauenbewegung in Amerika, die Harriet nach dem ersten Weltkrieg organisiert hat. Die meisten Krankenhäuser in Palästina sind von der Hadassa — so heißt die Organisation, die Harriet ins Leben gerufen hat — finanziert und errichtet worden.«

  »Sie scheint eine sehr bemerkenswerte Frau zu sein.«

  »Ja, allerdings. Als Hitler an die Macht kam, hat Harriet die Jugend-Aliyah geschaffen. Tausende von Jugendlichen verdanken ihr das Leben. Die Jugend-Aliyah unterhält in Palästina Dutzende von Jugendzentren. Sie werden sich sehr gut mit Harriet verstehen.« »Wieso vermuten Sie das?«

  »Sehen Sie, kein Jude, der eine Zeitlang in Palästina gelebt hat, kann von hier fortgehen, ohne sein Herz hier zu lassen. Ich glaube, bei den Amerikanern ist es genauso. Harriet lebt nun schon seit vielen
Jahren hier, doch ihr Herz ist zu einem sehr großen Teil immer noch in Amerika.«

  Das kleine Orchester, das zum Essen gespielt hatte, brach ab. Stille breitete sich über Jerusalem. Aus der Altstadt konnte man den leisen Ruf eines mohammedanischen Muezzin hören, der von seinem Minarett aus die Gläubigen zum Gebet aufrief. Danach wurde es erneut still, so still und lautlos, wie Kitty es noch nie erlebt hatte.

  Das Glockenspiel in dem YMCA-Turm auf der anderen Seite der Straße begann zu ertönen, und die Melodie erfüllte die Berge und die Täler. Dann wurde es wieder still, noch stiller als zuvor. Das Leben schien den Atem anzuhalten, die Zeit schien für einen Augenblick stillzustehen.

  »Wie wunderbar«, sagte Kitty.

  »Augenblicke dieser Art sind in unserer Gegenwart selten«, sagte Ari. »Leider ist diese friedliche Stille trügerisch.«

  In diesem Augenblick entdeckte er einen Mann mit olivfarbenem Teint, der an der Tür zur Terrasse stand. Ari erkannte Bar Israel, den Verbindungsmann der Makkabäer. Bar Israel nickte Ari zu und verschwand.

  »Würden Sie mich bitte einen Augenblick entschuldigen?« sagte Ari. Er ging in die Halle, stellte sich an den Zigarettenstand, kaufte ein Päckchen Zigaretten und blätterte dann scheinbar in Gedanken versunken in einer Zeitschrift. Bar Israel kam heran und blieb neben ihm stehen.

  »Ihr Onkel Akiba ist in Jerusalem«, sagte Bar Israel leise. »Er wünscht Sie zu sehen.«

  »Ich muß zu der Zionistischen Siedlungsgesellschaft, doch das dauert nicht lange, und dann bin ich frei.«

  »Ich erwarte Sie im Russischen Viertel«, sagte Bar Israel und verschwand.

  Die King-Georg-Avenue war ein breiter Boulevard in der Neustadt, an dem Verwaltungsgebäude, Schulen und Kirchen lagen. An einer Ecke der King-Georg-Avenue stand ein großes, vierstöckiges, ausladendes Bauwerk, in dem die Zionistische Siedlungsgesellschaft ihren Sitz hatte. Eine lange Auffahrt führte zum Haupteingang. »Schalom, Ari«, rief Harriet Salzmann und kam mit einer Beweglichkeit hinter ihrem Schreibtisch hervor, die ihre Jahre Lügen strafte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, legte Ari die Arme um den Hals und küßte ihn herzhaft auf die Wangen. »Oh, wie hast du es den Burschen auf Zypern gegeben. Bist ein feiner Kerl.« Dann wandte sich die alte Frau an Kitty, die bei der Tür stehengeblieben war.

  »Und das ist also Katherine Fremont. Sie sind sehr schön, mein Kind.«

  »Danke, Mrs. Salzmann.«

  »Sagen Sie bloß nicht Mrs. Salzmann zu mir. Das tun nur Engländer und Araber. Ich komme mir ganz alt vor, wenn ich es höre. Und jetzt setzen Sie sich, setzen Sie sich. Ich lasse uns einen Tee bringen. Oder wollen Sie vielleicht lieber Kaffee trinken?«

  »Lieber Tee.«

  »Da kannst du es mal sehen, Ari — so sieht eine Amerikanerin aus.« In Harriets hellen Augen blitzte der Schalk, und sie machte eine großartige Geste, um zu bekunden, wie schön und attraktiv sie Kitty fand.

  »Ich bin überzeugt«, sagte Ari, »daß nicht alle Amerikanerinnen so gut aussehen wie Kitty und.. .«

  »Hören Sie auf damit, Sie beide. Ich werde ganz verlegen.«

  »Ihr beiden Mädchen braucht mich ja wohl nicht«, sagte Ari. »Ich habe noch einiges zu erledigen, und das mache ich am besten gleich. Sagen Sie, Kitty, falls ich nicht rechtzeitig zurück bin, um Sie abzuholen — würde es Ihnen etwas ausmachen, sich ein Taxi zu nehmen und allein zum Hotel zurückzufahren?«

  »Nun geh schon«, sagte Harriet. »Kitty und ich werden gemeinsam in meiner Wohnung zu Abend essen. Dich brauchen wir überhaupt nicht.«

  Ari lächelte und ging.

  »Er ist ein feiner Kerl«, sagte Harriet Salzmann. »Es gibt bei uns eine ganze Menge solcher Burschen wie Ari. Sie arbeiten zu schwer, und sie sterben zu jung.« Sie zündete sich eine Zigarette an und hielt Kitty das Päckchen hin. »Aus welcher Ecke kommen Sie eigentlich?«

  »Indiana.«

  »Und ich aus San Franzisko.«

  »Eine wunderschöne Stadt«, sagte Kitty. »Ich war einmal mit meinem Mann dort. Ich habe mir immer gewünscht, irgendwann mal wieder hinzukommen.«

  »Das wünsche ich mir auch«, sagte die alte Frau. »Es scheint, als würde meine Sehnsucht nach den Staaten von Jahr zu Jahr größer. Seit fünfzehn Jahren war ich immer wieder fest entschlossen, für eine Weile nach San Franzisko zurückzugehen, doch die Arbeit hier hört überhaupt nicht auf. All die armen kleinen Wesen, die hierherkommen. Doch allmählich werde ich krank vor Heimweh. Vermutlich ein Zeichen von Senilität.«

  »Kaum.«

  »Es ist eine gute Sache, Jude zu sein und für die Wiedergeburt einer jüdischen Nation zu arbeiten — doch es ist auch sehr gut, Amerikanerin zu sein. Vergessen Sie das bitte nie, meine Liebe. Übrigens war ich schon die ganze Zeit, seit die Sache mit der Exodus losging, sehr gespannt darauf, Ihre Bekanntschaft zu machen, Katherine Fremont, und ich muß Ihnen gestehen, daß ich außerordentlich überrascht bin — und mich überrascht so leicht nichts.«

  »Ich befürchte, die Zeitungen haben ein übertrieben romantisches Bild von mir entstehen lassen.«

  Bei all ihrer entwaffnenden Freundlichkeit war Harriet Salzmann zugleich durchaus wach und kritisch, und obwohl sich Kitty völlig entspannt und behaglich fühlte, war sie sich darüber klar, daß ihr Gegenüber sie sehr genau unter die Lupe nahm. Sie tranken Tee und schwätzten über dies und das, größtenteils über Amerika. Harriet wurde dabei ganz melancholisch.

  »Nächstes Jahr fahre ich hin«, sagte sie. »Ich werde mir schon etwas einfallen lassen. Vielleicht fahre ich in die Staaten, um Gelder für unsere Zwecke aufzutreiben. Wir machen häufig solche Werbefeldzüge. Wissen Sie, daß wir von den amerikanischen Juden mehr bekommen, als alle Amerikaner insgesamt für das Rote Kreuz stiften? Doch wozu langweile ich Sie eigentlich mit diesen Dingen. Und Sie wollen also jetzt hier bei uns arbeiten?«

  »Leider habe ich meine Zeugnisse nicht bei mir.«

  »Die brauchen Sie hier auch gar nicht. Wir wissen genau über Sie Bescheid.«

  »Ach, wirklich?«

  »Ja, wir haben ein halbes Dutzend Berichte über Sie bei unseren Akten.«

  »Ich weiß nicht, ob ich geschmeichelt oder beleidigt sein soll.« »Seien Sie bitte nicht beleidigt. Das ist nun einmal so in dieser Zeit und in diesem Land. Über alle, die zu uns kommen, müssen wir genau Bescheid wissen. Sie werden feststellen, daß wir hier wirklich eine sehr kleine Gemeinschaft sind und daß es kaum etwas gibt, was nicht an meine alten Ohren dringt. Tatsächlich hatte ich gerade, ehe Sie heute nachmittag hierherkamen, unsere Berichte über Sie gelesen, und ich habe mich dabei gefragt, was Sie eigentlich zu uns geführt hat.«

  »Ich bin Kinderpflegerin und weiß, daß Sie Kinderpflegerinnen brauchen.«

  Harriet Salzmann schüttelte den Kopf. »Aus diesem Grund kommen keine Außenseiter zu uns. Da muß noch etwas anderes sein. Sind Sie Ari ben Kanaans wegen nach Palästina gekommen?«

  »Nein — obwohl ich natürlich etwas für ihn übrig habe.«

  »Hundert Frauen haben etwas für ihn übrig. Nur sind Sie zufällig gerade die Frau, für die er etwas übrig hat.«

  »Das glaube ich nicht, Harriet.«

  »Wirklich nicht? Nun, das freut mich, Katherine. Es ist ein weiter Weg von Yad El bis nach Indiana. Er ist ein Sabre, und nur eine Sabre könnte ihn wirklich verstehen.«

  »Sabre?«

  »So nennen wir die, die hier im Lande geboren sind. Sabre ist die Frucht eines Kaktus, der überall in Palästina wild wächst. Diese Frucht hat eine harte Schale — doch innen ist sie zart und süß.«

  »Das scheint mir eine gute Beschreibung.«

  »Ari und die anderen Sabres haben keine Vorstellung, was es bedeutet, in Amerika zu leben — genausowenig wie Sie eine Vorstellung davon haben, wie Aris Leben ausgesehen hat.«

  Harriet Salzmann machte eine kurze Pause. Dann sagte sie: »Erlauben Sie mir, ganz offen zu sein. Wenn einer, der kein Jude ist, zu uns kommt, dann kommt er als Freund. Sie gehören nicht zu uns, und Sie kommen auch nicht als Freund. Sie sind eine schöne, wunderschöne Amerikanerin, die völlig verwirrt durch diese sonderbaren Leute ist, die man Juden nennt. Wie kommt es also, da�
� Sie hier sind?«

  »Das ist gar nicht so schwer zu erklären. Ich habe eine große Zuneigung zu einem jungen Mädchen gefaßt, das auf der Exodus hierhergekommen ist. Wir hatten uns schon vorher in Caraolos kennengelernt. Ich habe Angst, der Versuch dieses Mädchens, seinen Vater wiederzufinden, könnte unter Umständen sehr unglücklich ausgehen. Wenn es ihr nicht gelingen sollte, ihren Vater zu finden, dann möchte ich sie gern adoptieren und nach Amerika mitnehmen.«

  »Also, so ist das. Nun, Sie haben mir eine ehrliche Auskunft gegeben, und jetzt wollen wir sachlich miteinander reden. In einem unserer Jugenddörfer im Norden von Galiläa ist die Stelle der Chefpflegerin zu besetzen. Der Ort ist wunderschön gelegen. Der Leiter des Dorfes ist einer meiner ältesten und besten Freunde, Dr. Ernst Liebermann. Das Dorf heißt Gan Dafna. Wir haben dort vierhundert Kinder untergebracht; die meisten von ihnen waren im Konzentrationslager. Sie brauchen dringend jemanden, der sich ihrer annimmt. Ich würde mich freuen, wenn Sie bereit wären, diesen Posten zu übernehmen. Die Bezahlung und die Arbeitsbedingungen sind sehr gut.«

  »Ich — ich wüßte gern —«

  »Wo Karen Hansen ist?«

  »Woher wissen Sie?«

  »Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß wir hier in einem Dorf sind. Ja, Karen ist in Gan Dafna.«

  »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.«

  »Bedanken Sie sich bei Ari. Er war es, der das alles arrangiert hat. Er wird Sie mit dem Wagen hinbringen. Gan Dafna ist ganz in der Nähe der Siedlung, in der er zu Hause ist.«

  Die alte Frau stellte ihre Teetasse hin und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Darf ich Ihnen einen letzten gutgemeinten Rat geben?«

  »Aber natürlich.«

  »Ich habe seit 1933 mit Waisenkindern zusammengearbeitet. Die Zuneigung, die diese Kinder für Palästina entwickeln, ist etwas, das für Sie möglicherweise sehr schwer zu begreifen ist. Wenn die Kinder hier erst einmal die Luft der Freiheit geatmet haben, wenn sie erst einmal von dieser ganz sonderbaren Liebe zu diesem Lande erfüllt sind, dann ist es für sie außerordentlich schwer, wieder von hier fortzugehen, und wenn sie es dennoch tun, dann gelingt es ihnen meist nicht mehr, sich anderswo einzugewöhnen. Sie lieben dieses Land heiß und leidenschaftlich. Die Amerikaner nehmen in Amerika so viele Dinge für selbstverständlich. Hier erwachen die Menschen jeden Morgen zweifelnd und gespannt — und wissen nicht, ob ihnen alles, wofür sie ihren Schweiß und ihr Blut eingesetzt haben, nicht wieder abgenommen wird. Der Gedanke an ihre Heimat ist Tag und Nacht in ihnen lebendig. Palästina ist der Mittelpunkt ihres Lebens, der eigentliche Sinn ihrer Existenz.« »Wollen Sie damit sagen, daß es mir wahrscheinlich nicht gelingen wird, das Mädchen zu überreden, mit mir nach Amerika zu gehen?« »Ich versuche nur, Ihnen klarzumachen, was Sie bei diesem Versuch alles gegen sich haben.«

 

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