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Exodus

Page 54

by Leon Uris


  Alle Feste, die mit dem ländlichen Leben zusammenhingen, standen dem Herzen der Juden von Palästina besonders nahe. Es war Sitte geworden, daß zu Schawuot die Siedlungen des Hule-Gebietes Delegationen nach Gan Dafna entsandten, die an der Festlichkeit in dem Jugenddorf teilnahmen.

  Von überallher kamen die Lastwagen mit den Gästen. Sie kamen von dem Moschaw Yad El, von dem Kibbuz Kfar Gileadi oben an der libanesischen Grenze, von dem am See gelegenen Ayelet Haschachar und von Ejn Or. Sie kamen von Dan an der syrischen Grenze und von Manara auf dem Gipfel des Berges.

  Kitty wußte es so einzurichten, daß sie jeden der Wagen sah, der herankam. Jedesmal hoffte sie, Ari ben Kanaan unter den Gästen zu entdecken, und es gelang ihr nicht, ihre Enttäuschung zu verbergen.

  Jordana, die Kitty beobachtete, sah es und lächelte höhnisch.

  Der Tag war von festlicher Heiterkeit erfüllt. Es gab sportliche Wettkämpfe, und die Unterrichtsräume und Werkstätten, die sonst so kahl wirkten, waren zum Empfang der Gäste geschmückt. Auf der Grünfläche in der Mitte des Dorfes wurde Horra getanzt, während auf dem Rasen langgereiht Tische standen, die sich unter der Fülle der Speisen bogen.

  Bei Sonnenuntergang begaben sich alle zu dem Freilichttheater, das in einen Hang hineingebaut und rings von Pinien umgeben war. Das Theater füllte sich bis auf den letzten Platz, und Hunderte weiterer Zuschauer lagerten sich auf den umliegenden Wiesen. Als es dunkel wurde, erstrahlten bunte Lichtergirlanden zwischen den Pinien.

  Das Orchester von Gan Dafna spielte ,Hatikwa' — die Hoffnung — Dr. Liebermann hielt eine kurze Begrüßungsansprache und gab das Zeichen zum Beginn der Schawuot-Parade. Dann kehrte er zu seinem Platz neben Kitty, Bruce Sutherland und Harriet Salzmann zurück.

  Kitty verspürte Angst, als sie Karen auf einem großen weißen Pferd die Parade anführen sah. Sie hielt die Stange der Fahne mit dem blauen Davidstern auf dem weißen Feld. Sie trug lange, dunkelblaue Hosen, eine bestickte Bauernbluse und Sandalen. Ihr dichtes braunes Haar hing in Zöpfen über ihre Schultern.

  Kitty umklammerte die Armlehnen ihres Stuhles. Karen sah aus wie die Inkarnation des jüdischen Geistes. Habe ich sie verloren, dachte Kitty, habe ich sie verloren? Der Wind ließ die Fahne flattern; das Pferd scheute und wollte ausbrechen, doch Karen hatte es rasch wieder in der Gewalt. Sie ist von mir fortgegangen, wie sie von den Hansens fortgegangen ist, mußte Kitty denken. Harriet Salzmann sah zu ihr hinüber, und Kitty blickte zu Boden. Karen verschwand aus dem Rampenlicht; der Zug ging weiter. Es kamen die fünf Traktoren von Gan Dafna, auf Hochglanz poliert. Jeder zog einen Tafelwagen, beladen mit den Früchten der Felder des Jugenddorfes. Jeeps und Erntewagen kamen vorbei, über und über geschmückt mit Blumen. Es kamen Wagen, auf denen Kinder in Farmerkleidung mit Harken, Sensen und anderen Werkzeugen in der Hand standen.

  Das Vieh des Dorfes zog vorbei, angeführt von den Kühen, die mit Blumen und bunten Bändern geschmückt waren. Es folgten die Pferde mit glänzend gestriegeltem Fell, Mähnen und Schwänze in Zöpfe geflochten. Die Schafe und die Ziegen wurden vorbeigetrieben, und die Kinder trugen ihre Lieblinge, Hunde und Katzen, ein Äffchen, weiße Mäuse und Hamster vorbei.

  Kinder zogen vorüber und hielten Stoffe in der Hand, die sie gesponnen und gewebt, und Zeitungen, die sie gedruckt hatten. Sie zeigten Kunsthandwerksgegenstände, Körbe und Keramik aus ihren eigenen Werkstätten. Die Leichtathleten und Sportmannschaften des Jugenddorfes marschierten vorbei, von den Zuschauern und Gästen mit lauten Zurufen begrüßt.

  Dr. Liebermanns Sekretärin kam zu ihm heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er. »Ich werde dringend am Telefon verlangt.«

  »Fassen Sie sich kurz und kommen Sie schnell wieder her«, rief Harriet Salzmann ihm nach.

  Die Lampen in den Bäumen gingen aus, und das Theater lag einen Augenblick im Dunkeln, bis der Scheinwerfer anging, der die Bühne beleuchtete. Der Vorhang öffnete sich, eine Trommel ertönte, und auf einer Flöte aus Schilfrohr ertönte eine alte Melodie. Begleitet von der wehmütigen Monotonie der beiden Instrumente begannen die Kinder, eine Pantomime aufzuführen: Das Lied der Ruth.

  Die Kostüme der Kinder waren historisch, und ihr Tanz entsprach den langsamen und ausdrucksvollen Gebärden, wie sie überliefert waren aus der Zeit, da Ruth und Naomi gelebt hatten. Dann traten andere Tänzer auf, die wilde Sprünge vollführten und leidenschaftliche Erregung ausdrückten.

  Wie waren diese Kinder von der Aufgabe erfüllt, die Vergangenheit ihres Volkes wieder lebendig werden zu lassen, dachte Kitty. Mit welcher Inbrunst setzten sie sich dafür ein, den Ruhm Israels neu erstehen zu lassen.

  Jetzt betrat Karen die Bühne, und unter den Zuschauern entstand erwartungsvolle Stille. Karen tanzte die Rolle der Ruth. Ihre Gebärden berichteten die so einfache und so großartige Geschichte von dem Mädchen aus dem Volk der Moabiter, die mit ihrer hebräischen Schwiegermutter nach Bethlehem zog — dem Hause des Brotes. Die Geschichte der Liebe und des einziges Gottes, die seit den Tagen der Makkabäer immer wieder beim Schawuot-Fest berichtet worden war. Ruth war eine Fremde gewesen, eine Ungläubige im Lande der Juden. Und doch gehörte sie zu den Vorfahren des Königs David.

  Kitty war mutlos wie nie zuvor. Sie war eine Fremde hier, und sie würde immer eine Fremde bleiben, eine Ungläubige unter den Hebräern. Und es war ihr nicht möglich, wie Ruth zu sagen: »Wo du hingehst, da will auch ich hingehen; dein Volk sei mein Volk, und dein Gott sei mein Gott.« Bedeutete das, daß sie Karen verlor? Dr. Liebermanns Sekretärin berührte Kitty an der Schulter: »Dr. Liebermann läßt Sie bitten, sofort in sein Büro zu kommen.«

  Der Weg war dunkel, und Kitty mußte auf die Laufgräben achten. Sie nahm ihre Taschenlampe und leuchtete damit den Boden ab. Sie überquerte die Grünfläche und kam an der Statue von Dafna vorbei. Hinter sich konnte sie das Schlagen der Trommeln und das Weinen der Flöte hören. Sie ging rasch zu dem Verwaltungsgebäude und öffnete die Tür zu Dr. Liebermanns Büro.

  »Um Gottes willen«, sagte sie, durch den Ausdruck seines Gesichtes erschreckt. »Was ist los? Sie machen ein Gesicht, als hätten Sie —« »Man hat Karens Vater gefunden«, sagte er leise.

  VIII.

  Am nächsten Tag brachte Bruce Sutherland Kitty und Karen nach Tel Aviv. Kitty hatte erklärt, daß sie einige dringende Einkäufe machen müsse und Karen bei der Gelegenheit endlich einmal die Stadt zeigen wolle. Sie erreichten Tel Aviv gegen Mittag und begaben sich in das Gat-Rimon-Hotel auf der Hayarkon-Straße, unmittelbar am Mittelmeer. Nach dem Essen bat Sutherland, ihn zu entschuldigen, und ging in die Stadt. Während der Mittagsstunden waren die Läden geschlossen. Kitty und Karen schlenderten den sandigen Strand unterhalb des Hotels entlang und erfrischten sich dann durch ein Bad im Meer.

  Gegen drei Uhr bestellte Kitty ein Taxi. Sie fuhren zum RothschildBoulevard und hielten Ecke Allenby-Road. Durch die Allenby-Road mit ihren vielen neuen Geschäften und den Rothschild-Boulevard mit dem breiten Grünstreifen in der Mitte ergoß sich ein unablässiger Strom von Wagen und Bussen, und die Menschen bewegten sich in der Gangart der Großstädter und hatten es alle eilig.

  »Ich finde es wunderbar und aufregend«, sagte Karen. »Ich bin froh, daß ich mitfahren konnte. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, daß alle Leute hier, Busfahrer, Kellner und Kaufleute, daß sie alle Juden sind. Die ganze Stadt haben sie gebaut, eine jüdische Stadt. Du kannst gar nicht verstehen, was das bedeutet, oder? Eine ganze Stadt, in der alles den Juden gehört.«

  Kitty war nicht so ganz einverstanden mit dem, was Karen sagte. »Bei uns in Amerika gibt es viele einflußreiche Juden, Karen«, sagte sie, »und diese Juden sind sehr glücklich und fühlen sich ganz als Amerikaner.«

  »Aber das ist doch nicht dasselbe wie ein ganzes jüdisches Land. Es ist etwas anderes, zu wissen, daß es eine Ecke auf dieser Erde gibt, wo man immer willkommen ist, ein Fleckchen, das einem immer gehört, wohin man auch geht und was man auch tut.« Kitty sagte nichts, sondern holte aus ihrer Handtasche einen zerknitterten Zettel heraus, den sie langsam entfaltete. »Kannst du mir sagen, wo das ist?«

  Karen sah auf den Zettel. »Zwei Qu
erstraßen weiter. Wann wirst du endlich lernen, Hebräisch zu lesen?«

  »Ich fürchte nie«, sagte Kitty, und fügte dann rasch hinzu: »Ich habe mir gestern beinahe zwei Zähne ausgebissen, als ich versuchte, ein paar Worte auf Hebräisch zu sagen.«

  Sie fanden den auf dem Zettel angegebenen Laden. Es war ein Modesalon.

  »Was willst du dir kaufen?« fragte Karen.

  »Ich habe vor, dir etwas Vernünftiges zum Anziehen zu kaufen. Das ist ein Geschenk für dich von Brigadier Sutherland und mir.«

  Karen erstarrte. »Das kann ich nicht annehmen«, sagte sie.

  »Aber warum denn nicht, Karen?«

  »Ich habe an dem, was ich anhabe, gar nichts auszusetzen.«

  »Ja«, sagte Kitty, »für Gan Dafna ist das ja auch ganz in Ordnung

  »Ich habe alles, was ich brauche«, sagte Karen.

  Sie redet manchmal genauso wie Jordana, dachte Kitty. »Hör mal, Karen — wir wollen doch nicht ganz vergessen, daß du inzwischen eine junge Dame geworden bist. Du wirst der guten Sache gewiß nicht untreu, wenn du dich ab und zu auch einmal ein bißchen nett anziehst. Wenn du nicht in Gan Dafna bist, sondern mit mir und Bruce ausgehst, dann möchten wir gern ein bißchen stolz auf dich sein können.«

  Karen schielte heimlich auf die Modepuppen in den Schaufenstern. »Es ist nicht fair gegenüber den andern Mädchen«, sagte sie in einem letzten Versuch der Gegenwehr.

  »Wir können die Kleider ja unter den Gewehren verstecken, wenn dich das tröstet.«

  Wenige Augenblicke später drehte sich Karen entzückt vor dem Spiegel, glücklich und sehr froh darüber, daß Kitty ihren Willen durchgesetzt hatte. Alles fühlte sich so wunderbar an und sah so wunderschön aus! Wie lange war es her, daß sie so hübsche Sachen angehabt hatte? In Dänemark — vor so langer Zeit, daß sie es fast vergessen hatte. Kitty war genauso entzückt, während sie zusah, wie sich Karen aus einem Mädchen vom Lande in einen geschmackvoll gekleideten Teenager verwandelte. Sie gingen die ganze Allenby-Road entlang, machten weitere Einkäufe und bogen schließlich, mit Paketen beladen, beim Mograbi-Platz in die Ben-Yehuda-Straße ein. Glücklich und erschöpft ließen sie sich in dem ersten BoulevardCafé an einem Tisch nieder. Karen verschlang ein großes Eis und beobachtete mit großen Augen den vorbeiflutenden Strom der Passanten.

  »Das ist der schönste Tag meines Lebens«, sagte sie. »Nur schade, daß Dov und Ari nicht hier sind.«

  Kitty war gerührt. Das Mädchen hatte ein so gutes Herz, dachte sie; immer hatte sie nur den Wunsch, anderen Gutes zu tun. Karen hatte ihren Eisbecher geleert und wurde nachdenklich. »Manchmal denke ich, was wir doch für ein Pech haben — wir mit unseren beiden sauren Zitronen.«

  »Wir?«

  »Na, du weißt schon — du mit Ari, und ich mit Dov.«

  »Ich weiß wirklich nicht, wie du auf die Idee kommst, es könnte zwischen Mr. Ben Kanaan und mir irgend etwas sein. Jedenfalls bist du ganz und gar im Irrtum.«

  »Ha, ha, ha«, antwortete Karen. »Und weshalb hast du dir, bitte, den Hals verrenkt bei jedem Wagen, der gestern zur Schawuotfeier nach Gan Dafna kam? Nach wem hast du denn Ausschau gehalten, wenn nicht nach Ari ben Kanaan?«

  Kitty nahm einen Schluck von ihrem Kaffee, um ihre Verlegenheit zu verbergen.

  Karen wischte sich die Lippen ab und zuckte mit den Achseln. »Mein Gott, das kann doch jeder sehen, daß du in ihn verliebt bist.« Kitty sah Karen aus schmalen Augen an. »Hören Sie mal, Sie kluge junge Dame —.«

  »Versuche es nur zu leugnen — dann laufe ich auf die Straße und rufe es den Leuten laut auf Hebräisch zu.«

  Kitty hob die Hände hoch. »Ich gebe es auf, mit dir zu streiten. Aber du wirst eines Tages begreifen, daß ein Mann für eine Frau von Dreißig sehr attraktiv sein kann, ohne daß das auch nur im geringsten etwas Ernsthaftes zu bedeuten hat. Ich finde Ari sehr nett, aber deine romantischen Ideen muß ich leider zerstören.«

  Karen sah Kitty mit einem Blick an, der deutlich erkennen ließ, daß sie ihr ganz einfach nicht glaubte. Sie seufzte, beugte sich zu Kitty und faßte sie am Arm, als wäre sie im Begriff, ihr ein tiefes Geheimnis mitzuteilen. »Ari braucht dich, das weiß ich«, sagte sie mit dem bedeutsamen Ernst des Teenagers.

  Kitty streichelte Karens Hand und ordnete eine Strähne, die sich im Zopf des Mädchens gelockert hatte. »Ich wollte, ich wäre noch einmal Sechzehn, und alles wäre so klar und einfach, wie es einem in diesem Alter scheint. Nein, Karen, Ari ben Kanaan gehört zu einer Sorte übermenschlicher Wesen, deren entscheidendes Kapital darin besteht, daß sie sich auf sich selbst verlassen können. Ari ben Kanaan hat keinen anderen Menschen mehr nötig gehabt, seit er als Junge mit dem Ochsenziemer seines Vaters umzugehen lernte. Sein Blut besteht nicht wie bei uns aus roten und weißen Blutkörperchen, sondern aus Stahl und Eisen, und sein Herz ist eine Pumpe, wie der Motor von dem Autobus da drüben. Durch all das steht er oberhalb und außerhalb der Gefühle, von denen die anderen Sterblichen bewegt und beherrscht werden.«

  Kitty verstummte. Sie saß unbeweglich da, und ihr Blick ging durch Karen hindurch.

  »Du hast ihn sehr lieb.«

  »Ja«, sagte Kitty seufzend, »das habe ich. Und was du vorher gesagt hast, stimmt. Wir haben wirklich ein paar saure Zitronen erwischt. Und jetzt müssen wir zurück zum Hotel. Ich möchte, daß du dich umziehst und dich für mich so hübsch machst wie eine Prinzessin. Bruce und ich haben eine Überraschung für dich. Die Zöpfe wollen wir auch mal weglassen.«

  Karen sah wirklich wie eine Prinzessin aus, als Sutherland die beiden zum Essen abholte. Die Überraschung war ein Besuch des Habima-Nationaltheaters, in dem an diesem Abend ein französisches Ballett auftrat, das sich auf einer Gastspielreise befand und das vom Philharmonischen Orchester von Tel Aviv begleitet wurde. Während der ganzen Vorstellung von Schwanensee saß Karen auf der vordersten Kante ihres Platzes und verfolgte mit gespannter Aufmerksamkeit jeden Schritt der Primaballerina, die über die Bühne schwebte. Karen war von der Schönheit und der märchenhaften Szenerie fasziniert und überwältigt.

  Wie schön war das alles, dachte Karen. Sie hatte fast vergessen gehabt, daß es auf dieser Welt noch solche Dinge wie ein Ballett gab. Und was für ein Glück, einen Menschen wie Kitty Fremont zu haben. Freudentränen liefen ihr über das Gesicht.

  Kitty hatte kaum Augen für das Ballett, so gespannt beobachtete sie Karen. Sie spürte, daß es ihr gelungen war, in dem Mädchen etwas zu wecken, das in ihr geschlafen hatte. Karen schien etwas wiederzuentdecken, das früher einmal die Welt für sie bedeutet hatte und das ebenso wichtig war wie das Grün der Felder von Galiläa. Kitty faßte erneut den Entschluß, dies in Karen immer lebendig zu erhalten.

  Morgen sollte Karen ihren Vater sehen, und dann würde ihr Leben vielleicht in eine andere Richtung gehen.

  Es war schon spät, als sie zum Hotel zurückkamen. Karen war außer sich vor Glück. Sie riß die Tür des Hotels auf und schwebte tanzend durch die Halle. Die englischen Offiziere, die in der Halle saßen, machten erstaunte Augen. Kitty schickte Karen zu Bett; sie selbst traf Sutherland an der Bar, um vor dem Schlafengehen noch ein Glas zu trinken.

  »Haben Sie ihr schon von ihrem Vater erzählt?«

  »Nein.«

  »Möchten Sie, daß ich mitkomme?«

  »Ich möchte lieber allein mit ihr hingehen.«

  »Natürlich, das verstehe ich.«

  »Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie hinterher da wären.«

  »Ich werde da sein.«

  Kitty stand auf und gab Sutherland einen Kuß auf die Backe.

  »Gute Nacht, Bruce.«

  Karen tanzte noch immer im Zimmer herum, als Kitty hereinkam. »Hast du das gesehen — Odette, in dem letzten Bild?« sagte sie und ahmte die Schritte der Tänzerin nach.

  »Es ist spät, und du bist ein müdes Indianermädchen.«

  »Ach, was war das heute für ein wunderbarer Tag!« sagte Karen und ließ sich auf ihr Bett fallen.

  Kitty ging ins Bad und zog sich aus. Vom Zimmer her hörte sie Karens Stimme, die Melodien der Ballettmusik summte. »O Gott«, flüsterte Kitty. »Warum muß ihr das widerfahren?« Kitty
schlug die Hände vor ihr Gesicht und zitterte. »Gib ihr Kraft — bitte, gib ihr Kraft.« Sie ging zu Bett und lag mit weitgeöffneten Augen in der Dunkelheit. Sie hörte, wie Karen sich bewegte, und sah zu ihr hinüber. Karen stand auf, kniete sich neben Kittys Bett und legte ihren Kopf auf Kittys Brust. »Ich habe dich so lieb, Kitty«, sagte sie. »Meine eigene Mutter könnte ich nicht lieber haben als dich.«

  Kitty drehte den Kopf zur Wand und strich Karen über das Haar. »Du mußt jetzt aber schlafen gehen«, sagte sie mit mühsam beherrschter Stimme. »Wir haben morgen viel vor.«

  Kitty konnte nicht schlafen. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen, und von Zeit zu Zeit stand sie auf und ging im Zimmer auf und ab. Jedesmal, wenn sie die schlafende Karen ansah, zog sich ihr Herz zusammen. Noch lange nach Mitternacht saß sie am Fenster und hörte auf das Rauschen der Brandung. Es war vier Uhr morgens, als Kitty endlich in einen unruhigen Schlaf fiel.

  Am Morgen war ihr das Herz schwer, und unter ihren Augen waren von der schlaflosen Nacht dunkle Schatten. Ein dutzendmal versuchte sie vergebens, Karen aufzuklären. Das Frühstück auf der Terrasse verlief schweigsam. Kitty nippte stumm an ihrem Kaffee. »Wo ist eigentlich Brigadier Sutherland?« fragte Karen.

  »Er mußte in die Stadt, um irgend etwas zu erledigen. Aber er wird bald wieder da sein.«

  »Und was werden wir heute machen?«

  »Oh, so ein bißchen dies und ein bißchen das.«

  »Kitty — es ist irgend etwas mit meinem Vater, nicht wahr?«

  Kitty senkte den Blick.

  »Ich glaube, ich habe es schon die ganze Zeit gewußt«, sagte Karen. »Du mußt bitte nicht denken, daß ich dir etwas vormachen wollte — aber —.«

  »Was ist denn — bitte, sage es mir — was ist mit ihm?«

  »Er ist sehr, sehr krank.«

  »Ich möchte ihn sehen«, sagte Karen, und ihre Lippen zitterten.

  »Er wird dich vielleicht gar nicht erkennen, Karen.«

  Karen machte den Rücken steif und sah auf das Meer hinaus.

  »Ich habe so lange auf diesen Tag gewartet.«

  »Karen, bitte —.«

 

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