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Exodus

Page 56

by Leon Uris


  »Wollen Sie anschließend nicht wieder herkommen und mit uns zu Abend essen?«

  »Ja, eigentlich —.«

  »Bitte«, sagte Kitty.

  »Also gut. Besten Dank.«

  »Schön. Kommen Sie wieder her, sobald Sie Ihre Angelegenheiten in Safed erledigt haben.«

  Sie winkten ihm nach, während er in raschem Tempo die Straße hinunterfuhr, vorbei an dem Teggart-Fort, bis er schließlich hinter einer Biegung verschwunden war.

  »Er, der über Israel wacht, schläft und schlummert nicht«, sagte Kitty.

  »Mein Gott, Kitty — sind Sie auch schon soweit, daß Sie aus der Bibel zitieren?«

  Sie gingen in den Garten hinter dem Haus.

  »Er sieht überanstrengt aus«, sagte Kitty.

  »Ich finde«, sagte Sutherland, »für einen Mann, der hundertundzehn Stunden in der Woche arbeitet, sieht er gut aus.«

  »Ich habe noch bei keinem Menschen eine solche Hingabe an seine Sache erlebt — oder sollte man es vielleicht Fanatismus nennen? Ich war übrigens überrascht, Bruce, ihn hier zu sehen. Ich wußte gar nicht, daß Sie mit ihm zu tun haben.«

  Sutherland stopfte sich seine Pfeife. »Ich bin eigentlich nicht aktiv beteiligt. Die Hagana hat sich an mich gewandt und mich gebeten, eine Schätzung über die Stärke der arabischen Streitkräfte außerhalb Palästinas aufzustellen. Sie möchten ganz einfach die Meinung eines unparteiischen Fachmannes hören. Übrigens, Kitty, meinen Sie nicht, es wäre allmählich an der Zeit, daß Sie sich einmal ehrlich klarmachen, wo Sie eigentlich stehen?«

  »Ich habe Ihnen doch erklärt, daß ich nicht die Absicht habe, Partei zu ergreifen.«

  »Ich fürchte, Kitty, Sie spielen Vogel Strauß. Sie befinden sich in der Mitte eines Schlachtfeldes und sagen: Bitte schießt nicht auf mein Haus, ich habe die Jalousien heruntergelassen.«

  »Ich bleibe nicht in Palästina, Bruce.«

  »Dann sollten sie möglichst bald abreisen. Wenn Sie meinen, Sie könnten weiter so hier leben, wie Sie es bisher getan haben, irren Sie sich.«

  »Ich kann im Augenblick noch nicht fort. Ich muß noch ein Weilchen warten, bis sich Karen von ihrem Schock erholt hat.«

  »Ist das wirklich der einzige Grund?«

  Kitty schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich habe Angst vor einer Kraftprobe. Zuweilen bin ich mir völlig sicher, daß ich mit diesem Problem — Karen und Palästina — fertig geworden bin. Doch dann wieder, wie eben in diesem Augenblick, habe ich Angst davor, es auf eine Probe ankommen zu lassen.«

  Als Ari zum Essen kam, konnten sie von Sutherlands Haus aus den Vollmond sehen, der über der Stadt stand.

  »Drei große Gaben hat der Herr Israel versprochen, doch jede dieser Gaben wird durch Leiden errungen werden. Eine davon ist das Land Israel«, sagte Sutherland. »So sprach Bar Yochai vor zweitausend Jahren. Mir scheint, das war der Ausspruch eines sehr weisen Mannes.«

  »Weil wir gerade von klugen Leuten reden«, sagte Ari, »ich fahre morgen nach Tiberias, an den See Genezareth. Sind Sie schon einmal dort gewesen, Kitty?«

  »Nein, ich bin bisher leider nur sehr wenig herumgekommen.« »Dann sollten Sie sich diesen See einmal ansehen. Und zwar möglichst bald. In ein paar Wochen wird dazu allzu dicke Luft sein.« »Warum nehmen Sie Kitty dann nicht mit?« sagte Karen.

  Für einen Augenblick herrschte verlegenes Schweigen. Dann sagte Ari: »Das — das ist wirklich eine gute Idee. Ich könnte mir meine Arbeit so einteilen, daß ich ein paar Tage Urlaub machen kann. Warum wollen wir eigentlich nicht alle hinfahren, zu viert?«

  »Ich habe keine Lust«, sagte Karen. »Ich bin schon zweimal mit unserer Gadna-Jugend hinmarschiert.«

  Bruce Sutherland fing den Ball auf, den ihm Karen zugespielt hatte. »Ohne mich, alter Junge. Ich war schon ein dutzendmal dort.« »Warum willst du nicht wirklich mit Ari hinfahren?« sagte Karen. »Ich glaube, es ist besser, wenn ich hier bei dir bleibe«, antwortete Kitty.

  »Unsinn«, sagte Sutherland. »Karen und ich kommen wunderbar allein zurecht. Im Gegenteil, es wird direkt eine Wohltat sein, Sie für ein paar Tage los zu sein, ganz abgesehen davon, daß Ari aussieht, als könnte er ein bißchen Ruhe gut gebrauchen.«

  Kitty lachte. »Mir scheint, Ari, die beiden stecken unter einer Decke. Und jetzt bleibt Ihnen gar nichts anderes mehr übrig, als mich mitzunehmen.«

  »Was mir sehr recht ist«, sagte er.

  X.

  Zeitig am anderen Morgen fuhr Ari mit Kitty zum See Genezareth. Sie kamen in das Ginossartal, das sich an seinem nördlichen Ufer entlangzog. Auf der anderen Seite des Sees erhoben sich über dieser tief unter dem Meeresspiegel gelegenen Stelle die braunen, verwitterten Höhen der syrischen Berge, und die Luft stand schwül über der Erde.

  Am Ufer des Sees hielt Ari an und führte Kitty zu den Ruinen der Synagoge von Kapernaum. Hier hatte Jesus gelehrt und Menschen geheilt. Längst vergessene Worte fielen Kitty wieder ein. »Als nun Jesus an dem galiläischen Meer ging, sah er zwei Brüder, Simon, der da heißt Petrus, und Andreas, seinen Bruder, die warfen ihre Netze ins Meer; denn sie waren Fischer. Und er sprach zu ihnen: Folget mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen.«

  Es war, als sei Jesus noch immer gegenwärtig. Am Rande des Wassers warfen Fischer ihre Netze aus. Nicht weit davon graste eine kleine Herde schwarzer Ziegen, die von einem in Lumpen gehüllten Hirten bewacht wurde, der sich auf seinen Stock stützte. Hier schien die Zeit stillzustehen.

  Dann führte Ari sie zu der ein kurzes Stück von Kapernaum entfernten Kirche, die die Stelle bezeichnete, wo das Wunder der Speisung der Viertausend stattgefunden hatte. Der Boden der Kirche war mit einem byzantinischen Mosaik geschmückt, auf dem Kormorane dargestellt waren, Reiher, Enten und andere Vögel, die noch heute den See bevölkerten.

  Danach gingen sie auf den Berg der Seligpreisungen weiter zu einer kleinen Kapelle, die auf der Höhe stand, wo Jesus die Bergpredigt gehalten hatte.

  »Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolget werden; denn das Himmelreich ist ihrer. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles wider euch, so sie daran lügen. Seid fröhlich und getrost, es wird euch im Himmel wohl belohnet werden. Denn also haben sie verfolget die Propheten, die vor euch gewesen sind.«

  Das waren Seine Worte, gesprochen an dieser Stelle. Sie fuhren durch das verschlafene Araberdorf Migdal, den Geburtsort der Maria Magdalena. Sie verließen die Ebene von Hattin und fuhren durch ein Land, das mit einem roten Teppich wildwachsender Blumen bedeckt war.

  »Wie rot diese Blumen sind«, sagte Kitty. »Halten Sie bitte einen Augenblick an, Ari.«

  Er fuhr an den Rand der Straße, und Kitty stieg aus. Sie pflückte eine der Blumen und sah sie sich genauer an. »So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen«, sagte sie leise und mit unsicherer Stimme.

  »In dieser Gegend lebten die alten Makkabäer in Höhlen. Diese Blumen gibt es auf der ganzen Welt nur an dieser Stelle hier. Man nennt sie: Makkabäerblut.«

  Kitty betrachtete die Blüte, die sie in der Hand hielt. Sie sah aus, als sei sie mit Blutstropfen bedeckt. Kitty ließ sie rasch zu Boden fallen und wischte die Hand an ihrem Rock ab.

  Dieses Land überwältigte sie! Nicht einmal die wilden Blumen erlaubten es einem, es einen Augenblick lang zu vergessen. Es kroch in einen hinein, auf der Erde und aus der Luft, und es war quälend und wie ein Fluch.

  Kitty Fremont hatte Angst. Ihr wurde klar, daß sie unverzüglich aus Palästina abreisen mußte; denn je mehr sie sich gegen dies Land zur Wehr setzte, desto mehr verfiel sie ihm.

  Sie erreichten Tiberias vom Norden her, fuhren durch den modernen jüdischen Vorort Kiryat Schmuel — Samuelsdorf —, kamen wieder an einem großen Teggart-Fort vorbei und fuhren von dem höher gelegenen Vorort in die Altstadt hinunter, die auf gleicher Höhe wie der See lag. Die Häuser waren größtenteils aus schwarzem Basalt, und auf den umliegenden Höhen wimmelte es von den Grabstätten alter berühmter Hebräer.

  Sie fuhren durch die Stadt und zu dem am See gelegenen Hotel Galiläa. Es war inzwischen Mittag und sehr heiß geworden. Z
um Mittagessen gab es Fisch. Kitty aß nur wenig und sprach kaum ein Wort. Sie wünschte, sie wäre nicht mitgekommen.

  »Die heiligste aller heiligen Stätten habe ich Ihnen noch gar nicht gezeigt«, sagte Ari.

  »Und welche ist das?«

  »Der Kibbuz Schoschana — dort bin ich nämlich geboren.«

  Kitty lächelte. Ari hatte offenbar bemerkt, in welcher Verwirrung sie sich befand, und versuchte, sie aufzuheitern. »Wo liegt denn dieser heilige Ort?« fragte sie.

  »Einige Meilen von hier, an der Stelle, wo der Jordan in den See mündet. Wie man mir erzählt hat, wäre ich übrigens beinahe in der türkischen Polizeiwache von Tiberias zur Welt gekommen. Im Winter wimmelt es hier in Tiberias von Touristen. Jetzt ist die Saison schon vorüber. Dafür haben wir jedenfalls den See ganz für uns allein. Was halten Sie davon, schwimmen zu gehen?«

  »Das scheint mir eine sehr gute Idee«, sagte Kitty.

  Neben dem Hotel erstreckte sich ein langer Pier aus Basalt rund vierzig Meter weit in den See. Ari war nach dem Essen als erster dort. Kitty ertappte sich dabei, wie sie seinen Körper betrachtete, als sie vom Hotel zum Pier ging. Er war schlank und trotzdem muskulös. Ari winkte ihr zu.

  »Hallo«, rief sie. »Sind Sie schon im Wasser gewesen?«

  »Nein, ich habe auf Sie gewartet.«

  »Wie tief ist es denn am Ende des Piers?«

  »Ungefähr drei Meter. Schaffen Sie es, bis zu dem Floß dort draußen zu schwimmen?«

  »Na, wir können ja mal sehen, wer von uns beiden eher dort ist.« Kitty ließ ihren Bademantel fallen und setzte ihre Badekappe auf. Ari musterte sie unverhohlen. Ihr Körper hatte nicht die eckige Stämmigkeit eines Sabremädchens, sondern weiche Rundungen, wie sie dem Bild der Amerikanerin entsprachen. Ihre Blicke trafen sich, und beide sahen ein bißchen verlegen aus.

  Sie rannte an ihm vorbei und sprang ins Wasser. Ari sprang hinterher. Überrascht stellte er fest, daß es ihm nur mit knapper Not gelang, sie einzuholen und wenigstens einen kleinen Vorsprung zu gewinnen. Kitty kraulte in einem eleganten und flüssigen Stil, der ihn nötigte, seine ganze Kraft einzusetzen. Atemlos und lachend kletterten sie auf das Floß.

  »Sie haben ein ganz schönes Tempo vorgelegt«, sagte er.

  »Ich hatte vergessen, zu erwähnen —.«

  »Ich weiß, ich weiß — Sie waren auf dem College Mitglied der Schwimmriege der Studentinnen.«

  Sie lag auf dem Rücken und atmete tief und befreit. Das kühle Wasser hatte sie erfrischt und schien die Beklommenheit von ihr genommen zu haben.

  Es war schon spät am Nachmittag, als sie zum Hotel zurückkehrten. Sie tranken auf der Veranda einen Cocktail und zogen sich dann auf ihre Zimmer zurück, um vor dem Abendessen noch ein wenig auszuruhen.

  Ari, der in den letzten Wochen wenig Ruhe gehabt hatte, war sofort eingeschlafen, als er sich hinlegte. Im Zimmer nebenan ging Kitty unruhig auf und ab. Sie hatte die Erregung des Vormittags weitgehend überwunden, doch noch immer war sie ein wenig von der mystischen Gewalt benommen, die dieses Land besaß. Sie sehnte sich danach, zu einem normalen, vernünftigen Leben zurückzukehren, das nach einem bestimmten Plan ablief. Sie redete sich ein, daß das eine Medizin sei, die auch Karen nötiger brauchte als irgend etwas anderes, und sie entschloß sich, diese Frage bei nächster Gelegenheit mit Karen zu besprechen.

  Gegen Abend war es angenehm kühl geworden; eine erfrischende Brise drang zum Fenster herein. Kitty begann, sich zum Abendessen umzuziehen. Sie öffnete ihren Kleiderschrank und musterte die drei Kleider, die darin hingen. Etwas zögernd nahm sie schließlich eines davon vom Bügel. Es war das Kleid, das sich Jordana bat Kanaan an dem Tag, an dem sie miteinander Streit bekommen hatten, aus ihrem Kleiderschrank genommen hatte. Sie dachte, wie Ari sie heute auf dem Pier angesehen hatte. Es war ihr nicht unangenehm gewesen. Das trägerlose, eng anliegende Kleid betonte ihre Formen.

  Alle Männer im Hotel machten große Augen, als Kitty herunterkam; Ari stand wie angewurzelt da, als er sie durch die Halle herankommen sah. Als sie bei ihm angelangt war, wurde ihm plötzlich klar, daß er sie anstarrte. Er faßte sich aber sofort und sagte: »Ich habe eine Überraschung für Sie. Im Kibbuz Ejn Gev, drüben am anderen Ufer, findet heute abend ein Konzert statt. Sobald wir gegessen haben, fahren wir hinüber.«

  »Bin ich richtig dafür angezogen?«

  »Wie? Oh — doch, das ist genau richtig.«

  Als die Motorbarkasse vom Pier ablegte, stieg der volle Mond über den syrischen Bergen herauf und warf eine breite Lichtbahn über die unbewegte Wasserfläche.

  »Wie still der See ist«, sagte Kitty.

  »Das ist trügerisch. Wenn Gott zürnt, kann er den See innerhalb von Minuten in ein tobendes Meer verwandeln.«

  In einer halben Stunde hatten sie den See überquert und waren am Kai von Ejn Gev gelandet. Diese Siedlung war ein kühnes Wagnis. Sie lag unmittelbar am Fuße der syrischen Berge, vom übrigen Palästina isoliert. Etwas oberhalb lag ein syrisches Dorf, und die Felder von Ejn Gev reichten bis an die syrische Grenze. Der Kibbuz war eine Gründung deutscher Juden, die mit der Einwandererwelle des Jahres 1937 nach Palästina gekommen waren.

  Von diesen Neusiedlern aus Deutschland waren viele ursprünglich Musiker gewesen, strebsame und einfallsreiche Leute. Sie hatten die Idee, dem Kibbuz zusätzlich zu Landwirtschaft und Fischfang noch eine weitere Einnahmequelle zu erschließen. Sie bildeten ein Orchester und kauften zwei Barkassen, die die Touristen der Wintersaison von Tiberias quer über den See zu Konzerten heranbrachten. Die Idee erwies sich als Erfolg. Am Rande des Sees wurde unter freiem Himmel, eingefaßt von einer naturgegebenen Waldkulisse, ein großes Amphitheater errichtet. Außerdem plante man, im Laufe der Jahre einen festen Konzertsaal zu bauen.

  Ari breitete am Rande des Amphitheaters auf dem Gras eine Decke aus. Beide legten sich auf den Rücken, blickten hinauf in den Himmel und sahen zu, wie der riesige Mond höher stieg und kleiner wurde und Platz machte für eine Milliarde von Sternen. Das Orchester spielte Beethoven. Kittys innere Spannung löste sich. Ein schönerer Rahmen für diese Musik war nicht denkbar. Es schien geradezu unwirklich, und Kitty wünschte heimlich, es möge kein Ende nehmen.

  Als das Konzert vorbei war, nahm Ari sie bei der Hand und führte sie hinweg von der Menge der Zuhörer, einen Weg entlang, der zum Ufer hinunterging. Es war windstill, die Luft war von Pinienduft erfüllt, und der Tiberias-See lag glatt und glänzend wie ein Spiegel. Am Rande des Wassers stand eine Bank aus drei steinernen Platten eines alten Tempels.

  Sie setzten sich und sahen hinüber zu den funkelnden Lichtern von Tiberias. Kitty spürte Aris Nähe, sie wandte den Kopf und sah ihn an. Was für ein gutaussehender Mann Ari ben Kanaan war! Sie hatte plötzlich das Verlangen, den Arm um ihn zu legen, seine Wange zu berühren und ihm über das Haar zu streichen. Sie hatte den Wunsch, ihn zu bitten, sich nicht so zu überarbeiten. Sie hätte ihn gern gebeten, nicht länger so verschlossen ihr gegenüber zu sein. Sie hatte den Wunsch, ihm zu sagen, wie ihr zumute war, wenn er in ihrer Nähe war, und sie hätte ihn gern gebeten, nicht so fremd zu sein, sondern zu suchen, ob es für sie beide nicht etwas Gemeinsames gab. Aber Ari ben Kanaan war eben doch ein Fremder, und sie würde niemals wagen, ihm zu sagen, was sie für ihn empfand.

  Der See Genezareth bewegte sich sacht und rauschte gegen das Ufer. Ein plötzlicher Wind ließ das Schilf schwanken. Kitty Fremont wandte den Blick von Ari und sah beiseite.

  Ein Zittern lief durch ihren Körper, als sie fühlte, wie seine Hand ihre Schulter berührte. »Ihnen wird kalt«, sagte Ari und reichte ihr die Stola. Kitty legte sie um die Schultern. Lange sahen sie sich schweigend an.

  Plötzlich stand Ari auf. »Mir scheint, die Barkasse kommt zurück«, sagte er. »Wir müssen gehen.«

  Als die Barkasse vom Ufer ablegte, verwandelte sich der See Genezareth plötzlich, wie Ari es vorausgesagt hatte, in ein wogendes Meer. Der Schaum brach über den Bug herein und sprühte über das Deck. Ari legte den Arm um Kittys Schultern und zog sie an sich, um sie vor dem Sprühregen zu schützen. Während der ganzen Fahrt über den See stand Kitty mit geschlossenen Augen, den Kopf an seine B
rust gelehnt, und hörte den Schlag seines Herzens.

  Hand in Hand gingen sie vom Pier zum Hotel. Unter der Weide, die ihre Zweige wie einen riesigen Schirm ausbreitete und bis in das Wasser des Sees hängen ließ, blieb Kitty stehen. Sie versuchte, zu sprechen, doch ihre Stimme versagte, und sie bekam kein Wort heraus.

  Ari strich ihr das nasse Haar aus der Stirn. Er ergriff sie sanft bei den Schultern, und die Muskeln seines Gesichts spannten sich, während er sie an sich zog. Kitty hob ihm ihr Gesicht entgegen. »Ari«, flüsterte sie, »küß mich, bitte.«

  Alles, was monatelang geschwelt hatte, loderte bei dieser ersten Umarmung flammend auf. Sie küßten sich wieder und wieder, Kitty preßte sich an ihn und spürte die Kraft seiner Arme. Dann lösten sie sich voneinander und gingen schweigend nebeneinander her zum Hotel.

  Vor der Tür zu ihrem Zimmer blieb Kitty stehen, befangen und verwirrt. Ari wollte zu seinem Zimmer weitergehen, doch sie ergriff seine Hand und zog ihn an sich. Einen Augenblick lang standen sie sich wortlos gegenüber. Dann nickte Kitty ihm zu, wandte sich ab, ging rasch in ihr Zimmer und schloß die Tür hinter sich.

  Sie zog sich aus, ohne Licht zu machen, schlüpfte in ein Nachthemd und ging zu dem Balkon ihres Zimmers, von wo sie das Licht in Aris Zimmer sehen konnte. Sie konnte seine Schritte hören. Das Licht ging aus. Kitty wich in die Dunkelheit zurück. Im nächsten Augenblick sah sie ihn auf dem Balkon ihres Zimmers stehen.

  Sie lief in seine Arme, drängte sich an ihn und hielt ihn umschlungen. Zitternd vor Sehnsucht. Seine Küsse bedeckten ihr Gesicht, ihren Mund, ihre Wangen und ihren Hals, und sie erwiderte Kuß um Kuß, mit einer Leidenschaft und Unersättlichkeit, wie sie noch nie einen Mann geküßt hatte. Ari hob sie hoch, trug sie in seinen Armen zum Bett, legte sie darauf nieder und kniete sich neben sie.

  Kitty war auf einmal verzagt. Sie krampfte ihre Hände in das Laken und wand sich schluchzend unter seinen Liebkosungen. Dann entzog sie sich heftig und unvermittelt seinen Armen und erhob sich taumelnd. »Nein«, sagte sie, nach Luft schnappend.

  Ari erstarrte.

  Kitty schossen die Tränen in die Augen, sie drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand, um das Zittern zu überwinden und sank dann auf einen Stuhl. Es dauerte eine Weile, bis das Beben nachließ und ihr Atem ruhiger wurde. Ari stand vor ihr und sah sie wortlos an. »Sie müssen mich hassen«, sagte sie schließlich.

 

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