Bevor wir fallen

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Bevor wir fallen Page 4

by Bowen, Sarina


  Ein paar Minuten später war ich drauf und dran, ihr beizupflichten. Ein Typ ganz außen zog eine Stimmpfeife heraus und blies eine einzelne Note, worauf seine elf Freunde einen Akkord anstimmten. Dann steckte der Bandleader die Pfeife weg und hob beide Hände. Als er sie wieder senkte, ließ die Gruppe eine vierstimmige Interpretation von Up The Ladder to the Roof vom Stapel. Und irgendwie gelang es ihnen, das Lied, das bereits im Radio gelaufen war, als meine Eltern noch jung gewesen waren, richtig cool klingen zu lassen. Bisher hatte ich immer geglaubt, auf Sportler zu stehen. Nun aber musste ich zugeben, dass elf Kerle, die ein schnelles Liebeslied rockten, auch ziemlich anziehend sein konnten.

  »Die sind toll«, flüsterte ich.

  Dana nickte. »Sie sollen die beste Männergruppe sein.«

  Die Nächsten waren die Mixed Masters, ein gemischter Chor, der zwar einen Riesenspaß zu haben schien, aber längst nicht so perfekt sang wie die Marauders.

  »Die Nächsten, bitte …«, zischte Dana.

  Als die folgende Gruppe – Something Special – auftrat, umklammerte sie mein Handgelenk. »Bei denen würde ich am liebsten mitmachen.«

  Die Frauen bildeten einen vollkommenen Halbkreis, hakten sich unter und begannen eine wunderschöne, mitreißende Version des Eagles-Klassikers Desperado zu singen.

  Am Ende ihrer Interpretation brandete tosender Beifall auf.

  »Wow«, rief ich. »Die rocken wirklich.«

  »Ja, ich weiß«, seufzte Dana. »Aber ist dir aufgefallen, wie blond die alle sind? Ich frage mich, ob das Zufall ist. Vielleicht solltest du vorsingen, Corey. Du hast fast die richtige Haarfarbe.«

  »Bestimmt nicht«, entgegnete ich automatisch und fasste nach meinen von der Sonne hell gesträhnten Haaren.

  Ich fragte mich, wieso Dana ihren Denkfehler nicht bemerkte. Man musste sich nur mal vorstellen, wie ein Rollstuhl oder Krücken die perfekte Reihe lächelnder Gesichter durchbrechen würde. Immerhin schienen Something Special sehr großen Wert auf ihr Erscheinungsbild zu legen. Glaubte Dana allen Ernstes, dass irgendeine der Gruppen da oben noch so hübsch anzusehen wäre, wenn ich in ihrer Mitte parken würde?

  Die Session war wirklich nett, aber ich wusste, wo ich stand. Sozusagen.

  4

  Du hältst dich wohl für oberschlau

  Corey

  Als Dana und ich in der nächsten Woche gerade die Nasen in unsere Lehrbücher steckten, klopfte es an unserer Tür.

  »Ist offen!«, rief ich.

  Als die Holztür aufflog, stand Hartley mit seinen Krücken davor.

  »Abend«, sagte er. »Alle fleißig bei der Arbeit? Ich kann auch später noch mal wiederkommen.«

  Doch Dana klappte ihr Buch zu. »Ich hab sowieso in einer halben Stunde ein Vorsingen. Was liegt denn an?«

  »Eine seltsame und eigennützige Bitte.«

  »Hört sich interessant an«, meinte Dana. »Wenn nicht gar vielversprechend.«

  »Kluges Mädchen.« Er ließ sein Grübchen aufblitzen, und ich verfiel seinem Zauber noch ein bisschen mehr. Mit dem Lächeln konnte er bestimmt auch Glas verflüssigen. »Also, ich habe zwar eine QuirkBox, aber keinen Fernseher. Bridger und ich waren ein Topteam, nur leider war die Glotze seine.«

  »Und die QuirkBox ist eine Spielekonsole?«, fragte ich.

  Er nickte. »Falls ihr auch mal Lust habt zu spielen, schließe ich das Teil bei euch an. Dauert nur eine Minute.«

  »Gut, nur zu«, sagte ich. »Kannst dein Glück ja mal versuchen.«

  »Du bist die Beste«, rief er und machte ein glückliches Gesicht. »Bin gleich wieder da!«

  Die Tür fiel zu, und wir hörten ihn über den Flur stapfen.

  »Bist wohl ein großer Spielefan?«, wollte Dana wissen.

  »Ne«, sagte ich mit einem Grinsen. »Allerdings …«

  Sie lachte. »Ich denke, wir nennen ihn ab sofort Herzklopf-Hartley. Aber ich zieh mich jetzt mal lieber für das Vorsingen um.« Damit lief sie in ihr Zimmer und der nächsten Modekrise entgegen.

  »Videospiele sind nicht so mein Ding. Ich gucke lieber zu«, erklärte ich Hartley, während er mit den Kabeln hantierte. Ich hatte derweil vom Sofa aus einen hübschen Ausblick auf sein Hinterteil.

  »Wie du willst.«

  Kurz darauf erhellte das Spiel den Riesenbildschirm, und eine unfassbar echt aussehende Hockeymannschaft in Bruins-Trikots sauste aufs Eis.

  Ich beugte mich unwillkürlich vor. »Das ist Anton Khudobin! Man kann sogar die Gesichter erkennen?«

  Hartley lachte. »Ja, aber ich weiß ja, dass es nicht so dein Ding ist.« Er schwankte auf seinen Krücken und mit dem Gamepad in der Hand vor dem Fernseher.

  Als der Buzzer ertönte, gab es einen Einwurf, den Hartleys Spieler für sich entschied. Sein Team lief gegen die Islanders, und Hartley schlug den Puck von seinem Center zum Linksaußen. Als der Islanders-Verteidiger den Puck erwischte, sah es einen Moment lang ziemlich eng aus. Doch Hartley eroberte ihn mit einem zufriedenen Grunzen zurück. Er flitze vorwärts und setzte zum Torschuss an. Der Tormann sprang, doch bevor ich erkennen konnte, was weiter passierte, versperrten Hartleys Schultern mir die Sicht und der Bildschirm verschwand hinter seinem Körper. Ich stemmte mich, ohne zu überlegen, vom Sofa hoch, um besser sehen zu können – und fiel hin.

  Im Bruchteil einer Sekunde, noch ehe ich auf dem Boden aufschlug, erkannte ich meinen Fehler. Hin und wieder passierte mir das noch, aber nur, wenn ich sehr, sehr abgelenkt war. In solchen Momenten vergaß ich allen Ernstes, dass ich nicht mehr selbstständig stehen konnte, und legte mich platt auf die Nase.

  Ich ging krachend auf die Bretter und mein Arm klatschte unnötig hart auf unseren improvisierten Couchtisch.

  Hartley fuhr herum. »Scheiße, bist du okay?«

  »Alles gut«, gab ich zurück, während mein Gesicht in Flammen aufging. »Ich war nur, äh, etwas ungeschickt.« Ich rieb mir den Arm, wo ich den Tisch touchiert hatte. »Pass auf«, rief ich und deutete mit einem Nicken auf den Bildschirm.

  Die Islanders hatten den Puck geklaut und näherten sich jetzt Hartleys Tor. Als er den Blick abwandte, wuchtete ich rasch meinen Hintern zurück auf das Sofa.

  Er hielt das Spiel an, drehte sich wieder um und musterte mich.

  Ich blickte auf meine Hände.

  »Kopf hoch«, sagte Hartley, und als ich ihn wieder ansah, warf er mir ein Gamepad zu, das ich prompt fing. »Welches Team willst du sein?« Er schenkte mir ein superbreites Lächeln. Eines von der Sorte, bei der mir ganz flau im Magen wurde.

  »Pittsburgh«, antwortete ich, ohne zu zögern.

  »Gute Wahl, Callahan.« Er griff nach dem anderen Gamepad und öffnete das Menü. »Es dauert nur einen Moment. Dann wird dir der Meister eine Lehre erteilen.«

  Der »Meister« hätte mir meinetwegen auf vielen Gebieten eine Lehre erteilen können. Doch an diesem Abend gab ich mich vorerst mit einem Spiel namens RealStix zufrieden.

  Als Hartley das nächste Mal zu einer Partie Hockey rüberkam, war ich zu allem bereit.

  »Und, weißt du noch, wie es geht?«, fragte er, als er mir das Gamepad gab.

  »Ich glaube schon.«

  Diesmal saßen wir nebeneinander auf dem Sofa. Hartley hatte seinen Gips auf dem Beistelltisch abgelegt. Er drückte Play, und unsere Spieler standen einander vor dem Einwurf gegenüber. Dann ließ der digitale Schiedsrichter den Puck zwischen uns fallen.

  Ich angelte ihn mir mit meinem Schläger, schlug einen Pass zu meinem Außenstürmer und sauste Richtung Tor. Als Hartleys Torhüter in Sicht kam, hielt ich schräg auf ihn zu und zielte mit dem Puck in die rechte Netzecke. Hartleys Spieler wandte sich in dieselbe Richtung. Ich täuschte links an, worauf der Tormann prompt die Richtung wechselte. Blitzschnell schlug ich den Puck nach rechts und versenkte ihn im Tor.

  Das imaginäre Publikum rastete aus, und ich gluckste vergnügt.

  »Was zum Henker, Callahan?« Hartley hielt das Spiel an. »Du hast meinen Tormann getäuscht?« Dann wich sein überraschter Gesichtsausdruck einem br
eiten Grinsen. »Moment mal … Du hast doch heimlich geübt.«

  Ich versuchte meinerseits, mir ein Grinsen zu verkneifen. »Hättest du das an meiner Stelle nicht auch getan?«

  »Oh Mann, dafür wirst du büßen …«

  Schnell wie ein Ninja beugte er sich zu mir, packte meinen Arm und riss ihn hoch. Und ehe ich mitbekam, was hier eigentlich gerade passierte, hatte er bereits seine Finger in meiner Achselhöhle vergraben und kitzelte mich.

  »Hartley!«, kreischte ich, stieß seine Hand weg und presste den Arm an meine Seite.

  »Du hältst dich wohl für oberschlau.«

  Wieder griff er nach meinem Handgelenk, täuschte diesmal aber nur an. Doch da ich einen großen Bruder hatte, kannte ich sämtliche Tricks, und als er sich stattdessen auf meine Taille stürzen wollte, riss ich zu meinem Schutz den Ellbogen nach unten. Hartley stützte sich auf sein gesundes Knie und ging auf meine ungeschützte linke Seite los. Ich kreischte abermals, als er meine Schulter gegen das Sofa drückte und mit der freien Hand zwei kitzlige Stellen auf einmal fand.

  Als ich in die lachenden braunen Augen über mir sah, fühlte ich eine Woge angenehmer Wärme und noch etwas anderes, dass durch mich hindurchströmte. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, wurde ernster, irgendwie hungrig. Mein Kichern verging mir, als sich unsere Blicke trafen.

  »Was ist denn hier los?« Dana kam aus ihrem Zimmer, eine Hand erhoben, um den Stecker an ihrem Ohrring zu befestigen.

  Hartley ließ von mir ab, warf sich auf seine Seite des Sofas und griff nach seinem Gamepad.

  Dahin war der Moment. Vielleicht hatte es aber auch gar keinen Moment gegeben, und ich hatte mir das alles lediglich eingebildet.

  Als Dana uns grinsend ansah, wandte ich mich Hartley zu, der jedoch inzwischen wieder genauso dreinschaute wie sonst auch.

  »Jemand hat hier gerade ordentlich was abgekriegt«, erklärte ich Dana, um meine Verwirrung zu überspielen, »und die Nerven verloren.«

  »Und jemand hat deswegen eine Lektion verdient«, entgegnete Hartley und ließ das Spiel weiterlaufen.

  »Nur zu.«

  Dana zog sich eine Jacke über. »Ich hätte für euch zwei einen Babysitter besorgen sollen. Zankt euch nicht, okay?« Aber da das Spiel bereits weiterging, blieben wir ihr eine Antwort schuldig.

  Diesmal gewann Hartley den Einwurf, während ich erfolglos dem Puck nachsetzte. Doch mein Torhüter hatte Glück, wich aus und fiel auf den Puck.

  »Puh, das war knapp«, rief ich und sah mich nach Dana um, die jedoch schon gegangen war. »Es steht noch immer eins zu null, und Pittsburgh führt.«

  »Du willst angeben?«, fragte Hartley. »Ich werde dir dein Grinsen schon noch austreiben.«

  In dem Moment meldete sich meine flatternde Hoffnungsfee und feixte: Da wüsste ich ein oder zwei Methoden.

  RealStix Video-Hockey wurde unser gemeinsames Vergnügen. Die Rivalität zwischen den Boston Bruins und den Pittsburgh Puffins entwickelte sich zu meiner Lieblingsobsession. An manchen Abenden unter der Woche trafen wir uns oft sogar für eine kurze Partie noch vor dem Abendessen. Dana schüttelte darüber nur den Kopf und nannte uns Süchtige.

  Die Spiele machten Spaß, nur dass wir häufig aussetzen mussten, weil Hartley angerufen wurde. Wenn sein Handy klingelte, drückte er auf Pause und ging ran, weil Stacia, die inzwischen in Frankreich war, um diese Zeit normalerweise schlafen ging. Beim ersten Mal entschuldigte er sich mit den Worten: »Sorry, aber ich kann sie nicht später zurückrufen. Da drüben ist es jetzt schon elf«, und ich versicherte ihm, dass es kein Problem sei. Nur dass es in Wirklichkeit doch eins war. Weil ich die Anrufe fürchterlich fand.

  »Ein Wochenende Rom. Das hört sich toll an«, sagte Hartley. Der nachgiebige Ton, den er bei ihr anschlug, passte überhaupt nicht zu ihm. »Jede Wette, dass deine Kreditkarten da voll ausgelastet werden. Wenn du schon mal dabei bist, kaufst du dir besser ein paar Extrakoffer. Sonst kriegst du die ganze Designerbeute nie nach Hause.«

  Ich saß die Gespräche zähneknirschend aus. Sie unterbrachen mich nicht nur bei meiner neuen Lieblingsbeschäftigung, sondern führten auch dazu, dass sich meine Gedanken in Gassen und Winkel verirrten, in denen sie nichts zu suchen hatten. Wenn Hartley sie mit »Hey heißer Feger« oder »Hey Baby« begrüßte, fiel es mir schwer zu sagen, welcher Kosename mir mehr ausmachte. Mich hatte bisher noch niemand als das eine oder das andere bezeichnet.

  Meine Schwärmerei für Hartley sorgte dafür, dass ich den unüberwindbaren Unterschied zwischen Mädchen wie Stacia und mir zu ermessen begann. Vor dem Unfall hatte ich immer fest daran geglaubt, dass auch für mich irgendwann eine leidenschaftliche Romanze des Weges kommen würde. Doch zu hören, wie Hartley seiner umwerfenden Freundin Honig ums Maul schmierte, nagte an mir. Gab es auch für mich einen Kerl, der seine an den Rollstuhl gefesselte Liebste als »heißen Feger« bezeichnen würde? Ich glaubte nicht im Mindesten dran.

  Zu dem Handel, den ich mit meinen Eltern abgeschlossen hatte, gehörte, dass ich auch auf dem College weiter zur Physiotherapie ging.

  Meine neue Therapeutin war eine sportliche Frau mit einer Patriots-Cap.

  »Nennen Sie mich Pat«, sagte sie, als sie mir die Hand schüttelte. »Ich habe am Wochenende Ihre Krankengeschichte studiert.«

  »Tut mir leid«, gab ich zurück. »Das war sicher eine stinklangweilige Lektüre.«

  »Ganz und gar nicht«, erwiderte sie lächelnd, und ich bemerkte, dass sie überall im Gesicht Sommersprossen hatte. »Ihre Trainer fanden Sie offenbar sehr erfrischend.«

  Ich lachte. »Wenn ›erfrischend‹ ein Euphemismus für ›zickig‹ ist, glaube ich Ihnen vielleicht.«

  Sie schüttelte den Kopf. »Sie haben ein ziemlich schwieriges Jahr hinter sich, Corey. Das würde jeder verstehen. Also, fangen wir an.«

  Zuerst streckte Pat mich. So fingen die Therapien immer an – mit dem beunruhigenden Gefühl, dass irgendwer mit meinem Körper umging wie mit einer Stoffpuppe. Pat drehte meine Beine in den Hüftgelenken und nahm sich danach meine Knie und Fußknöchel vor. Doch bevor sie verlangte, dass ich mich aufsetzte, zögerte sie.

  »Darf ich mal einen Blick auf Ihre Haut werfen? Es wird auch keiner was sehen.«

  Ich sah mich um. Die Tür zum Behandlungsraum war geschlossen, und vor dem Fenster war niemand zu sehen. »Aber nur kurz.«

  Pat zog meine Yogahose hinten ein Stück herunter. Sie sorgte sich offenbar, dass ich vom ewigen Sitzen im Rollstuhl wund werden könnte.

  »Alles in Ordnung.«

  »So hoch ist das Risiko bei mir nicht«, sagte ich. »Meine Eltern haben Sie aufgefordert nachzusehen, stimmt’s?«

  Sie lächelte. »Sie können ihnen nicht vorwerfen, dass sie sich Sorgen machen.«

  Doch, das konnte ich sehr wohl.

  »Wenn wir Sie aus dem Stuhl da rauskriegen«, sie deutete mit dem Daumen auf das kränkende Ding, »wird sich deshalb sowieso keiner mehr Sorgen machen müssen. Wie viele Stunden am Tag benutzen Sie Ihre Gehhilfen?«

  »Ein paar«, antwortete ich ausweichend. In Wahrheit hatte ich keine Ahnung, wie ich das Üben mit den Krücken in meinen Stundenplan integrieren sollte. »Aber ich versuche noch immer herauszufinden, wie weit die einzelnen Gebäude auseinanderliegen.«

  »Verstehe«, sagte sie mit einem Nicken. »Aber wenn Sie wie die anderen uneingeschränkt am studentischen Leben teilnehmen wollen, müssen wir Sie in die Lage versetzen, Treppen steigen zu können. Sonst hätten Sie sich für ein in den Siebzigern gebautes College entscheiden müssen. Fangen wir also mit Beinpressen an.«

  Ich gab mir Mühe, nicht allzu laut zu knurren. Vor einem Jahr hatte ich noch das Doppelte meines Gewichts in die Beinpressen gelegt. Und jetzt? Pat begann mit ungefähr sechzig Pfund, dennoch musste ich meine Oberschenkel mit den Händen unterstützen, um die Plattform auch nur ein winziges Stück zu bewegen. Das hätte ein Erstklässler besser hingekriegt. Im Ernst, was brachte das alles überhaupt noch?

  Doch Pat ließ sich von meiner lausigen Vorstellung nicht aus der Ruhe bringen. »Und jetzt arb
eiten wir an Ihrem Kreuz«, beharrte sie. »Sie müssen im Oberkörper stabil sein, damit sie an den Gehhilfen nicht das Gleichgewicht verlieren.«

  Eine Sache, die man mir schon oft genug gesagt hatte. Pats Sätze stammten offensichtlich aus dem gleichen Drehbuch wie die meiner bisherigen Therapeuten – und davon hatte es eine ganze Reihe gegeben.

  Doch leider gab kein Drehbuch die Worte für das vor, was mich am meisten beschäftigte. Pat wusste, was zu tun war, wenn ich beim Unterarmstütz zu wackeln anfing, aber niemand hatte mir beigebracht, wie ich mit den komischen Blicken klarkommen sollte, die mich trafen, wenn jemand mich in meinem Rollstuhl ansah. Manchmal erkannte ich darin unverhohlenes Mitleid, was sicher ehrlich gemeint, aber nicht besonders hilfreich war. Und dann gab es die Leute, die mich mit einem Riesenlächeln anstarrten. Es gibt bestimmt nicht viele Menschen auf der Welt, die Wildfremde angrinsen, als hätten sie nicht alle Latten am Zaun. Ich jedoch zog sie magisch an. Aus irgendeinem Grund schienen sie zu glauben, mir dergleichen schuldig zu sein. Als hätte ich einen Trostpreis gewonnen: Du kriegst ein breites Lächeln von mir, auch wenn du nicht mehr viel mit deinen Beinen anfangen kannst.

  Natürlich beklagte ich mich nie laut darüber. Das würde sich bloß zickig anhören. Doch die letzten neun Monate waren erniedrigend gewesen. Mein altes Ich war angefressen gewesen, wenn irgendein Kerl auf meine Brüste gestarrt hatte, doch inzwischen wünschte ich mir, dass das zur Abwechslung mal wieder jemand tat. Wer mich jetzt noch anschaute, sah nur noch den Rollstuhl.

  »Noch vier Sit-ups, Corey, dann haben Sie es geschafft«, sagte Pat.

  Ich sah in ihr wild entschlossenes Gesicht und legte mich ins Zeug. Dabei wussten wir beide, dass ich es niemals schaffen würde.

  5

  Betrunkene Giraffe auf Stelzen

  Corey

  Der September wich dem Oktober, und das Leben war schön. Ich behielt den Überblick über meine Vorlesungen und fand mich jeden Tag besser auf dem Campus zurecht.

  Dana war voll und ganz damit beschäftigt, sich auf die Teilnahme an den Gesangswettbewerben vorzubereiten. Ihr Teilnahmesong war Hey There, Delilah, und sie übte so viel, dass ich das Lied irgendwann sogar im Traum hörte.

 

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