Bevor wir fallen

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Bevor wir fallen Page 9

by Bowen, Sarina


  »Alles klar.«

  Bridger spazierte aus Coreys Gemeinschaftsraum, kam nach weniger als einer Minute wieder und sammelte sein Mädchen ein, um sich einen lustigen Abend zu machen. Die beiden regten mitten im Zimmer noch kurz den gegenseitigen Speichelfluss an, dann verschwanden sie gemeinsam.

  Corey blickte ihnen hinterher. »Sekunde mal … Goalies? Torhüter?«

  Ich sah, wie sich die Erkenntnis auf ihrem Gesicht Bahn brach. Sie prustete los, schlug sich im nächsten Moment jedoch beschämt die Hand vor den Mund. Aber ihre Augen funkelten weiterhin vergnügt.

  »Okay«, sagte sie, als sie wieder Luft bekam. »Und ich dachte, mein Bruder hätte mir den kompletten Hockey-Slang beigebracht. Das war anscheinend ein Irrtum.«

  »Ja?« Ich ließ den Kopf gegen die Rückenlehne sinken. »Da hat er aber was ziemlich Gutes ausgelassen.«

  Corey grinste. »Wenn du eine kleine Schwester hättest, wüsstest du, warum. Zumindest hat man mir das so erklärt.«

  Genau. Bei dem Gedanken daran spürte ich einen vertrauten kleinen Stich in der Magengegend. Wenn mein Leben anders verlaufen wäre, hätte ich tatsächlich eine kleine Schwester. Und außerdem zwei Brüder. Doch ich verdrängte den Gedanken.

  »Verstehe. Dein großer Bruder denkt also, dass sein Schwesterchen von diesen Dingen keine Ahnung haben sollte.«

  Sie grinste verschlagen. »Warte … jetzt mal ehrlich. Was für ein schlimmer Frauenheld war mein Bruder denn selbst?«

  »Also, wenn die Skala von einem Priester bis zu Bridger reicht …« Ich zeigte einen weiten Abstand mit den Händen an, und Corey kicherte. »Dann würde ich sagen, er lag genau in der Mitte.«

  »Auf die Mittelmäßigkeit«, sagte sie und hob ihr Glas.

  »Prost.«

  Corey kippte ihren Drink, dann zeigte sie auf den dunklen Fernseher. »Meinst du, jemand hätte was dagegen, wenn wir mal sehen, wie es beim Hockey steht? Ich glaube, ich halte den Abend nicht durch, wenn ich nicht mitkriege, ob meine Puffins deinen Bruins eine Klatsche verpassen.«

  Als sie den Blick aus ihren klaren blauen Augen auf mich richtete, spürte ich aus irgendeinem Grund einen ungebetenen Stich in der Brust.

  »Nur zu, Geburtstagskind, andererseits möchte ich nicht, dass du an deinem Ehrentag deprimiert wirst. Weil es nämlich völlig ausgeschlossen ist, dass ihr das Ding gewinnt.«

  »Sagst du.« Sie setzte ein breites Lächeln auf und sah sich nach der Fernbedienung um.

  Corey

  Die Puffins machten die Bruins vier zu eins platt. Und eine Zeit lang glaubte ich, Hartley würde gleich in seinen Drink heulen. So lief also wenigstens das gut für mich. Allerdings stand ein Sieg der Puffins eigentlich nicht an der Spitze meiner Geburtstagswunschliste. Was ich wirklich wollte, war der Bruins-Fan, der neben mir auf dem Sofa saß.

  Hartley blieb, bis die Party vorbei war, dann gab er mir einen Kuss auf die Stirn und gratulierte mir noch mal.

  Schließlich waren Dana und ich wieder allein.

  »Lass uns mit dem Aufräumen bis morgen warten«, sagte sie und gähnte.

  »Absolut«, stimmte ich ihr zu und nahm mir vor, alles alleine zu machen.

  Ich ließ sie zuerst ins Bad. Als ich schließlich ins Bett ging, fand ich auf meinem Kopfkissen eine kleine rote Schachtel. Jemand hatte mit schwarzem Marker Mr Digby auf die Verpackung geschrieben.

  Was sollte das?

  Ich hob den Deckel. In der Schachtel lag ein ungefähr fünfzehn Zentimeter langes Ding aus rotem Plastik in der Form einer dicken Zigarre. Ich brauchte einige Sekunden, bis mir klar wurde, was ich da vor mir hatte. Einen Vibrator.

  »Oh mein Gott!« Die Worte hallten durch das stille Zimmer.

  Die einzige Erklärung, die mir dazu einfiel, war, dass Hartley nach unserem unerfreulichen Gespräch über Sex nach einer Rückenmarksverletzung auf diese seltsame Geschenkidee gekommen war. Und obwohl ich ganz allein in meinem Zimmer war, fühlte ich, wie mir langsam die Schamesröte den Hals hinauf bis in die Wangen stieg. Verdammt! Wenn man etwas geschenkt bekam, musste man sich dafür bedanken. Ah! Er hätte doch wissen müssen, wie peinlich mir das sein würde. Aber vielleicht ging es ihm genau darum?

  Ich konnte ihn unmöglich von Angesicht zu Angesicht darauf ansprechen. Also entschied ich mich für den feigen Ausweg und schrieb ihm eine SMS. Und weil ich ein Glückskind war, antwortete er auf der Stelle.

  Ich: Äh, Hartley?

  Hartley: Ja, Schönste?;-)

  Ich: Ähm … das war aber nicht nötig.

  Hartley: Weil du RealStix magst, dachte ich, meine andere Lieblingsbeschäftigung könnte dir auch gefallen.

  Ich errötete noch mehr, falls das überhaupt möglich war. Ein mutigeres Mädchen hätte jetzt geantwortet: Vielen Dank für das Anschauungsmaterial. Aber so ein Mädchen war ich nicht.

  Ich: Sehr … äh, aufmerksam?

  Hartley: Wie schade, dass ich dein Gesicht jetzt nicht sehen kann.

  Ich: ***Scham***

  Hartley: Hatte ich erwähnt, dass mir nichts peinlich ist?

  Ich: Das war wohl nicht nur so daher gesagt.

  Hartley: Gute Nacht, Callahan. Schöne Party.

  Ich: Nacht, Hartley.

  9

  Frieden im Königreich

  Corey

  »Was ist los, Callahan?«, fragte Hartley, als wir zum Mittagessen in die Mensa schlenderten.

  Ich stopfte mein Handy in die Tasche zurück und schloss zu ihm auf. »Nichts. Meine Mom ist bloß sauer, weil ich ihr gesagt habe, dass ich Thanksgiving nicht nach Hause fliegen will.«

  »Warum nicht?«

  Ich zuckte mit den Achseln. »Zu viele Flieger, Züge und Autos für die paar Tage.«

  Ein Rollstuhl im Flugzeug war der reinste Klotz am Bein, vor allem, weil Harkness-Studenten mit dem Bus zum Flughafen fahren mussten. Ich hatte einfach keine Lust auf den Umstand.

  »Aber im College ist über Thanksgiving echt nicht viel los. Du willst doch sicher nicht allein hierbleiben?«

  »Ich bin nicht allein. Dana macht sich auch nicht auf den langen Weg nach Japan. Wir hängen zusammen hier ab. Die Cafeteria der medizinischen Fakultät hat an Thanksgiving geöffnet.«

  Hartley blieb abrupt stehen. »Aber du willst doch an Thanksgiving nicht in der medizinischen Fakultät essen.« Er zog sein Handy aus der Tasche, tippte darauf herum und hielt es sich dann ans Ohr.

  Ich übte mich in Geduld. Kein Typ kann gleichzeitig an Krücken laufen und telefonieren.

  »Hey Mom, ich bringe an Thanksgiving noch zwei Gäste mit.«

  »Hartley! Nicht …«

  Er bedeutete mir mit einer Handbewegung, still zu sein.

  »Nein, keine Sorge, die ist noch immer sicher außer Landes. Die beiden sind einfach nur zwei gute Freunde, die weder auf Kaviar noch auf Foie gras bestehen.« Er schwieg kurz. »Super. Hab dich lieb.«

  Er beendete das Gespräch, schob das Handy in die Tasche zurück und legte die Hände wieder um die Griffe seiner Gehhilfen.

  »Hartley!«, protestierte ich. »Deine Mom kann nicht noch zwei Extragäste gebrauchen.«

  »Aber klar doch. Bridger und seine Schwester hatte ich sowieso schon eingeladen. Weil ich in der Nähe wohne, bringe ich immer ein paar Freunde über die Feiertage mit nach Hause. Der einzige Gast, an dem meine Mutter bisher keinen Gefallen hatte, war Stacia.«

  Wir blieben an einer roten Fußgängerampel stehen und warteten.

  »Wir beide müssen natürlich unten schlafen. Wenn es dir nichts ausmacht, ein Zimmer mit mir zu teilen.«

  Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wollte ich Hartley wirklich zu Hause besuchen? Verdammt, ja! Gleichzeitig konnte ich mir schon die diversen Fallstricke vorstellen, die dort lauerten – solche, die mich in erster Linie der Lächerlichkeit preisgeben würden.

  »Das ist wirklich nett von dir«, sagte ich und dachte kurz nach. »Hast du gerade gesagt, Bridger hat eine Schwester?«

  Hartley lachte. »Warte, bis du sie kennenlernst


  Eine Woche darauf sah ich von der Rückbank in Bridgers Auto aus die Straßen des verschlafenen Etna, Connecticut an uns vorbeirauschen.

  Hartley saß auf dem Beifahrersitz und telefonierte mit seiner Mutter.

  »Wir sind gerade vom Highway runter. Brauchst du noch irgendwas von unterwegs?«

  Hinten hüpfte Bridgers Schwester Lucy auf ihrem Platz auf und ab. »Over the river and through the woods, to Hartley’s house we go …«, trällerte sie. »Sind wir noch nicht da?«

  Bridgers Schwester war ganz anders, als ich sie mir vorgestellt hatte – vor allem, weil sie erst sieben war und in die zweite Klasse ging.

  »Wenn du noch einmal gegen meine Rückenlehne trittst«, warnte sie Bridger, der hinter dem Steuer saß, »kitzle ich dich durch, bis du dir in die Hose machst.«

  »Bäh«, befand Lucy und hielt die Füße still. Ihr Pferdeschwanz hatte dieselbe fantastische rostrote Farbe wie die Haare ihres Bruders.

  »Und Callahan trittst du besser auch nicht«, fügte Bridger hinzu.

  »Alles gut«, versicherte ich schnell.

  Hartley sprach immer noch mit seiner Mutter. »Die Luftmatratze hat ein Loch, aber das macht nichts. Bridger und Lucy können das Gästezimmer nehmen, und Dana schläft in meinem alten Zimmer. Callahan bezieht mit mir Quartier, weil keiner von uns beiden gut Treppen steigen kann.« Er hörte einen Moment zu. »Entspann dich, Mom. Hör erst mal auf, Servietten zu bügeln, und trink lieber ein Glas Wein. Wir sind in fünf Minuten da.«

  Als Bridger vorfuhr, saß Hartleys Mom auf der Veranda des alten Holzhauses in einer Hollywoodschaukel, von der sie jedoch sofort aufsprang, als Hartley die Beifahrertür öffnete. Sie lief die drei Stufen herab auf den Rasen und stürzte sich auf ihn, um ihn zu küssen und ihm die Haare zu zausen.

  Sie war hübsch und viel jünger, als ich erwartet hatte, mit glänzend schwarzem Haar und rosiger Haut. Ihre Augen waren ebenso schön wie seine, nur ein wenig dunkler.

  »Willkommen, willkommen«, rief sie, als Dana mit breitem Grinsen aus dem Auto stieg. »Ich bin Theresa.«

  »Hey Tante Theresa«, johlte Lucy und schlang die Arme um ihre Taille.

  »Oh, du bist aber groß geworden«, rief Hartleys Mom begeistert. »So ein großes Mädchen. Der Hund ist oben, Lucy. Sie freut sich bestimmt, dich zu sehen.«

  Lucy rannte ohne ein weiteres Wort die Stufen hinauf und ins Haus.

  »Mom, das sind Corey und Dana.«

  »Entschuldigen Sie, dass wir einfach so hier einfallen«, konnte ich mir nicht zu sagen verkneifen. »Hartley wollte uns aus irgendeinem Grund nicht auf dem Campus zurücklassen.«

  »Ihr hättet unmöglich dort bleiben können«, sagte sie lachend. »Nicht an Thanksgiving.«

  Dana drückte ihr eine Flasche Wein in die Hand. »Vielen, vielen Dank für die Einladung.«

  »Ihr seid jederzeit willkommen. Aber warte mal, Adam, mir war nicht klar, dass Ms Callahan ein Mädchen ist. Sie will sicher nicht bei dir schlafen.«

  »Mom, alle Frauen wollen das Bett mit mir teilen.«

  »Hartley!« Ich boxte ihn gegen den Arm, und seine Mutter lachte.

  Dann wandte er sich mir zu. »Das Bett ist so groß wie Massachusetts. Kein Witz.« Und zu seiner Mom sagte er: »Du wirst mich nicht überreden, auf dieser schrecklichen Couch zu übernachten.« Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Wie geht es dir?«

  »Gut.«

  »Können Bridger und ich dir mit irgendwas helfen, solange wir hier sind?«

  Sie legte den Kopf schief. »Der Wagen könnte einen Ölwechsel vertragen. Das könntest du am Wochenende erledigen. Damit spare ich mir vierzig Dollar.«

  »Wird gemacht.«

  Theresa hatte das Thanksgivingessen bereits größtenteils vorbereitet. Der Truthahn war fast fertig, und auf dem Küchentresen kühlten zwei Pasteten aus.

  Trotzdem band sich Hartley sofort eine Schürze um und gab einen Viertelliter Schlagsahne in eine Schüssel. Dann nahm er einen Mixer aus der Schublade und machte sich daran, die Sahne in der Schüssel zu schlagen.

  »Was ist, Callahan? Hast du noch nie einen Kerl Sahne schlagen sehen?«

  Ich versuchte schnell, den verblüfften Ausdruck aus meinem Gesicht zu bekommen. »Ich hätte bloß nicht gedacht, dass du kochen kannst, Hartley.«

  »Ich bin auch nur der Beikoch.«

  Hartley rührte schneller, bis der Mixer in der weißen Masse verschwamm. Dann griff er nach einer Tasse Zucker und streute ein wenig davon in die Sahne, bevor er sie weiter schlug.

  Ich riss den Blick von Hartleys appetitanregendem, hart arbeitendem Oberkörper los. »Wie kann ich helfen?«, fragte ich. »Ich, äh, ich kann nicht kochen, aber ich reagiere auf klare Anweisungen.«

  »Wir haben alles im Griff«, sagte Theresa, auch wenn es unmöglich war, dass es um zwei Uhr nachmittags an einem Thanksgivingfeiertag nichts mehr gab, bei dem man hätte helfen können.

  »Mom«, Hartley warf ihr einen Blick zu. »Callahan wird stinkig, wenn sie das Gefühl bekommt, dass du sie bemutterst. Wenn du also willst, dass Frieden im Königreich herrscht, gibst du ihr besser was zu tun.«

  Seine Mutter lachte. »Entschuldige, Corey, ich bin solche großzügigen Hilfsangebote nicht wirklich gewöhnt. Nicht alle Freunde von Hartley sind der Arbeit in der Küche gegenüber so aufgeschlossen wie du.«

  »Reizend, Mom«, meinte Hartley. »Du kannst es ruhig auf einen Versuch ankommen lassen.«

  Ich zeigte auf einem Beutel Kartoffeln auf dem Küchentresen. »Müssen die geschält werden?«

  »Aber ja doch«, antwortete Theresa, zog eine Schublade auf und nahm ein Schälmesser heraus.

  Ich klemmte mir den Beutel unter den Arm und stelzte damit zum Küchentisch, wo ich mich auf einen Stuhl fallen ließ.

  Theresa beobachtete, wie ich meine Knie entriegelte und mich mühsam dem Tisch zukehrte, bevor sie mir eine alte Zeitung für die Schalen und eine Schüssel für die fertigen Kartoffeln brachte.

  Ich kam nur langsam voran, aber das machte mir nichts aus.

  »Wie kommst du mit der Therapie voran, Adam?«, wollte Theresa wissen.

  »Mühsam«, antwortete er, unermüdlich Sahne schlagend. »Callahan und ich haben dieselbe Übungsleiterin. Pat der Feldwebel.«

  »Ich finde, Physiotherapeuten sind wie Zahnärzte«, warf ich ein. »Keiner geht gerne hin. Oder wir beide sind einfach nicht dafür gemacht.«

  »Vielleicht liegt es ja an Pat«, meinte Theresa.

  »Nein«, widersprach ich vergnügt. »Ich konnte keinen der Therapeuten, mit denen ich zu tun hatte, besonders gut leiden. Und das waren einige.« Ich warf die nächste Kartoffel in die Schüssel. »Vielleicht werde ich altersmilde, aber bei Pat bin ich längst nicht so widerborstig wie bei den anderen.«

  »Wie kommt’s?«, fragte Hartley.

  »Na ja, die ersten Physiotherapeuten, zu denen ich musste, haben mir so Dinge beigebracht, wie mir die Socken selbst anzuziehen oder vom Rollstuhl ins Bett zu kommen. Es hat mich einfach unglaublich angekotzt, dass ich überhaupt jemanden brauchte, der mir solche Sachen beibrachte.«

  »Kann ich verstehen«, sagte Theresa.

  »Auf der anderen Seite kennen sie jede Menge coole Tricks. Wenn sie einem erst mal was beigebracht haben – zum Beispiel vom Fußboden wieder in den Rollstuhl zurückzukommen, ohne dass der dabei gleich umkippt –, weiß man ganz genau, wieso man sie so nötig hat. Nur leider macht es das bloß noch schlimmer. Man hasst es, solche Dinge zu lernen, kann aber unmöglich darauf verzichten.«

  »Klingt wie ein echter Kracher«, bemerkte Hartley.

  »Weil ich so viele Stunden für meinen Sport trainiert habe, könnte man denken, ich wäre eine Musterpatientin, aber davon kann keine Rede sein.« Ich warf eine weitere Kartoffel in die Schüssel. »Okay, genug gejammert.«

  »Du jammerst nicht, Callahan«, sagte Hartley sanft. »Außer du verlierst gegen mich beim RealStix.«

  »Was zum Glück nur sehr selten vorkommt«, gab ich zurück, und Theresa lach
te.

  Das Haus füllte sich mit wunderbaren Düften.

  Dana und Bridger deckten den Tisch und schworen, meine Hilfe im Moment gar nicht gebrauchen zu können. Daher ließ ich mich auf der Wohnzimmercouch nieder und blätterte in meinem Wirtschaftslehrbuch. Die Prüfungen standen vor der Tür.

  Plötzlich stand Lucy mit einem Kartenspiel vor mir. »Weißt du, wie Uno geht?«

  »Na klar.« Ich klappte das Buch zu. »Hast du Lust?«

  »Ja! Kannst du mischen? Ich mische total mies.« Damit warf sie sich auf den Teppich und teilte das Kartenspiel in zwei Hälften.

  Ich löste meine Beinschienen und ließ sie auf den Boden fallen. Dann glitt ich ohne die geringste Eleganz von der Couch und rutschte auf dem Hinterteil zu Lucy. Mit den Händen grätschte ich meine Beine und nahm ihr anschließend die Karten ab.

  Während ich mischte und ausgab, streckte Lucy vorsichtig eine Hand aus und berührte mich am dicken Zeh. »Äh, Corey?« Sie sah mich fragend an. »Kannst du das echt nicht spüren?«

  Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich schwöre.« Ich sah zu, wie sie mit dem Finger über meine Socke strich. Soweit es mich betraf, hätte sie ebenso gut einen fremden Fuß anfassen können.

  »Wie fühlt es sich an, wenn man nichts fühlt?«

  Lucy hatte eine hohe Stimme, klar und lieblich. Bei einem anderen Menschen hätte ich mich womöglich gegen die Frage gesträubt. Doch in ihrem Gesicht leuchtete eine arglose Neugier auf, die jede Verlegenheit von vornherein ausschloss.

  »Na ja, ich kann nur sagen, es fühlt sich nach nichts an. Wenn ich dich in deinen Pferdeschwanz kneifen würde, könntest du das wahrscheinlich auch nicht spüren. Vielleicht ein kleines Ziepen, aber nicht direkt da, wo ich dich kneifen würde. So ungefähr ist das.«

  Lucy dachte über die Erklärung nach. »Das ist aber ganz schön gruselig.«

  Ich lachte. »Das kann man wohl sagen. Manchmal starre ich meine Füße an und will, dass sie sich bewegen. Im Krankenhaus habe ich das tagelang gemacht. Ich konnte es einfach nicht verstehen. Ich habe immer nur gesagt: ›Macht schon, Füße! Das kann doch wirklich jeder.‹«

 

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